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IX

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Nach der furchtbaren Auseinandersetzung mit ihrem bisherigen Geliebten hatte Doras Zustand anfänglich eine nicht ungefährliche Wendung genommen. Der Angriff auf die Widerstandsfähigkeit ihrer Nerven war ein solcher gewesen, daß eine ursprünglich gesundere, an Ruhe und Ausgeglichenheit gewöhnte Natur ihm zweifellos unterlegen wäre. Die ihre, welche an seelischen Kämpfen und Krisen des Temperamentes reich erfahren war, überstand auch noch dies. Indes erholte sie sich langsam. Etwa zwei Wochen lang kam sie wenig zur Besinnung. Als ihr matter Geist sich wieder zu sammeln begann, war es mit der gewöhnlichen, tiefen Gleichgültigkeit des Rekonvaleszenten für alles andere als für sein animalisches Befinden. Während sie sich zum ersten Male erhob, zauderte sie wohl kurz, das Zimmer zu verlassen, mehr aus Widerwillen, irgendjemand außer ihrer Pflegerin zu begegnen, als in ausdrücklicher Erinnerung an das ihrer Krankheit Voraufgegangene. Aber sogleich fiel sie von neuem in die natürliche Neigung, alles gehen zu lassen, zurück. Warum irgendetwas bedenken, und auf wen Rücksicht nehmen? Sie hatte erfahren, daß Wellkamp mit seiner Gattin wenige Tage nach der Katastrophe abgereist sei. Ihres eigenen Gatten gedachte sie kaum, er bedeutete in diesem Augenblicke nichts mehr in ihrem Leben. So seltsam hatte sich die namenlose Angst, die ihr damals Wellkamps Drohung, sie an den Mann zu verraten, eingeflößt, jetzt in die äußerste Fremdheit und Nichtachtung gegenüber der vollendeten Tatsache verwandelt.

Auch beachtete sie es nicht weiter, als sie sich während ihrer Mahlzeit im Speisezimmer allein fand. Herr v. Grubeck hatte sich seinerseits entschuldigen lassen. Er fand es zur Zeit unmöglich, Dora zu sehen und mit ihr ohne einen Rückhalt, wie er ihn bisher in seiner Tochter gehabt, zusammen zu bleiben. Er zögerte noch, als habe er einen Entschluß zu fassen, und gestand sich nicht, daß dieser Entschluß im Stillen bereits feststehe. Seine Schwäche hatte denselben für ihn gefaßt. Nachdem der plötzliche Aufschwung seines Willens, der ihm in jener bedeutenden Stunde zu Allem Kraft verliehen hätte, durch Annas Dazwischenkunft gleichsam unnötig gemacht und erfolglos geblieben war, hatte der alte Herr sich sofort in um so tieferer Energielosigkeit befunden. An eine Scheidung seiner Ehe, die ihm während jener Unterredung mit seinem Schwiegersohne als durchaus selbstverständlich vorgestanden, wagte er sich nicht mehr zu erinnern, so wohl fühlte er, daß er sie für alle Zeit vermieden zu sehen wünschte. Es hätte das den Verzicht auf alle Bequemlichkeiten erfordert, die, so unbedeutend sie im einzelnen sein mochten, einem Manne von seiner Erziehung und seinen Gewohnheiten wie die Luft des Lebens selbst erschienen, und die ihm das Vermögen seiner Gattin verschaffte. Lieber als die Entbehrung ertrug er auch ferner die täglichen geheimen Demütigungen, welche ihm seine Verhältnisse als unvermeidliche Begleitung der Bequemlichkeiten auferlegten. Einen Augenblick hatte er sein Haupt hoch erhoben aus dem trägen Strom, in dem sein Leben forttrieb; nun ging es von neuem über ihn hin. Je länger er indes unschlüssig blieb, wie er von jetzt an seine Stellung aufzufassen, und in welcher Weise er Dora zu begegnen habe, desto mehr gefiel er sich in seiner Neutralität und wich um so sorgfältiger jedem Zusammensein mit seiner Gattin aus. Ein flüchtiger Gruß und eine Frage nach ihrem Befinden gelegentlich einer zufälligen Begegnung machten ungefähr ihren ganzen Verkehr aus. Im übrigen vermied der Major seine Wohnung, die ihm nicht nur durch die Schwierigkeiten des Zusammenlebens mit seiner Gattin verleidet wurde. Sobald mit Annas Fortgang die Aufsicht und Sorgfalt verschwunden, war natürlicherweise die Bedienung nachlässiger geworden. Doras Indolenz ließ die Räume selbst bald unwohnlich werden. In dem Zimmer ihres Vaters war Anna gewohnt gewesen, persönlich Ordnung zu halten; nur so konnte die Unordnung des alten Herrn korrigiert werden, und jetzt fand sich hierfür keine Hand. Die langen Nachmittage, die der Major sonst hier auf seine künstlerischen Lieblingsbeschäftigungen verwandt hatte, brachte er nun meist außer Hause zu. Er, der seit seiner Verheiratung kaum irgendwelche Verbindungen unterhalten, knüpfte jetzt die Beziehungen zu verschiedenen am Platze lebenden, ehemaligen Kameraden wieder an. In einen Klub eingeführt, gewöhnte er sich bald, hier auch seine Mahlzeiten einzunehmen. Bloß um die Kommentare der Bekannten zu vermeiden, speiste er von Zeit zu Zeit zu Hause, dann jedoch zu anderer Stunde als seine Gattin.

Die gänzliche Einsamkeit, in der sie so gelassen war, mußte für Dora verhängnisvoll werden, denn sie bewirkte, daß ihre noch immer wie niedergeschmetterten und betäubten Gedanken, sobald sie sich sammelten und klärten, genau an dem Punkte ihre Arbeit wieder aufnehmen konnten, wo sie sie liegen gelassen, da nichts sie durchkreuzte und ihnen eine andere Richtung gab. Zwar war es fürs erste nicht so weit, und die junge Frau tat selbst unbewußt alles mögliche, um das Erwachen zu verzögern. Das wiederholte Anraten des Arztes von Bewegung in freier Luft lehnte sie jedesmal entschieden ab. Sie war nicht einmal zu einer Ausfahrt zu bewegen. Sie blieb vor ihrem Kamin sitzen, in welchem trotz des herrlichsten Frühlingswetters das gewohnte Feuer brannte, und wenn sie ihre ausgestreckte Hand betrachtete, so sah sie die Flamme hindurchscheinen. Unterdessen mühte sich hinter ihrer wachsbleichen Stirn ein Gehirn, das zu wenig Blutnahrung erhielt, an der langsamen und beschwerlichen Arbeit des Erinnerns ab. Viele Wochen war es nichts als eine gegenstandslose Unruhe, die sie bisweilen ohne Absicht aufstehen ließ, um mit kurzen und unsicheren Schritten, als suchte sie etwas, durch das Zimmer hin und wieder zu gehen. Die dumpfe Stille um sie her und in ihrem Innern begann sie zu quälen. Es regte sich bereits wieder der ihr so natürliche Trieb, sich und andere mit den Irrungen und Launen ihres Gefühls leiden zu machen, dieses Bedürfnis nach Aufregungen, zu denen gleichwohl ihre kaum genesende Natur noch unfähig war. Mit der Bewegung und mit der vermehrten Anstrengung ihres Geistes schienen indes ihre nervösen Kräfte zu wachsen. Ihr Schritt wurde hastiger, während sie von Zimmer zu Zimmer ging, hier und da stehen bleibend, um irgendetwas gedankenlos zu berühren, eine beliebige Kleinigkeit in ihren flüchtigen, leis zitternden Fingern zu zerbrechen. Einmal verirrte sie sich so, ohne zu wissen warum, in das Zimmer ihres Gatten, in welchem sie anfänglich fremd und gleichgültig umhersah. Dann glitten ihre Hände mechanisch über die Haufen von bestaubten Papieren, die den Schreibtisch bedeckten, Skizzenblätter, Briefe, Rechnungen. Sie berührte sie vielleicht zum ersten Male, und niemals hatte sie absichtlich einen Blick hineingetan. Der Stolz, den Jeder sich den Bedürfnissen seiner Natur entsprechend bildet, war in ihr derart, daß er sie stets von allem zurückgehalten hatte, was an Spionage erinnerte. Es ist wahr, daß ihr dies durch die Gleichgültigkeit, welche sie allen Angelegenheiten ihres Gatten entgegenbrachte, erleichtert worden war. Auch jetzt dachte sie nicht an den Inhalt dessen was sie sah. Sie ward erst aufmerksam, als sie auf einem der Bögen die Schrift Annas zu bemerken meinte. Im ersten Augenblick beachtete sie nichts als das große und starke Papier, von einer Art, wie nur Männer es zu benutzen pflegen. Dann riß sie das Blatt mit einer heftigen Bewegung an sich und floh damit wie mit einer heimlichen Beute, halb von einer unbestimmten Ahnung, halb von Scham getrieben. Einmal wieder auf ihrem Platze, röteten sich ihre Wangen mit einer ungesunden Röte, weit weniger durch die Hitze des Feuers, dem sie sie, in die Hand gestützt, ganz nahe gebracht hatte, als infolge der Lektüre des Briefes, über dessen feste, gleichmäßige Züge ihr Blick, ohne ein einziges Mal anzuhalten, hinjagte. So mag Jemand, den man seiner zerstörenden Leidenschaft eine kurze Weile entrissen hatte, das Glas, dessen er sich zum ersten Male wieder bemächtigt, auf einen Zug leeren. Mit solcher krampfhaften Wollust durchtränkte sie sich endlich wieder mit ihrem so lange entbehrten Leiden.

Anna schrieb:

»Mein lieber Vater! Es ist entschieden, daß wir zurückkehren; in etwa acht Tagen hoffen wir Dich wiederzusehen. Es würde mich zu traurig machen, Dich länger in der Einsamkeit zu wissen, in der Du jetzt leben mußt. Du sollst sehen, wie ich Dir Dein Zimmer wieder heimisch machen werde, und dann kommst so oft wie es angeht, zu uns heraus. Mit der Villa in der Schillerstraße, die Du uns vorschlägst, sind wir ganz einverstanden. Ich erinnere mich ihrer sehr genau, nachdem ich sie einmal, während sie zum Verkauf stand, zufällig besichtigt habe. Die Zimmer sind geräumig und luftig, und erhalten ein volles Licht durch hohe Scheiben; das ist, wie Du weißt, meine besondere Liebhaberei. Am meisten reizt mich aber der große, terrassierte Garten, der bis gerade an den Fluß hinabsteigt. Wir bleiben so, wenn wir den herrlichen Genfer See verlassen, dennoch so viel wie möglich in der freien Natur. Es wird ein sehr schöner Sommer werden. Ich habe nur ein Bedenken, nämlich was den Kauf des Grundstückes betrifft. Wenn es anders nicht möglich sein sollte, mache den Vertrag auf jeden Fall fertig; lieber wäre uns eine nach wenig Jahren zu erneuernde Miete. Wir wären unvorsichtig, uns auf allzu lange Zeit zu binden, da wir die Unruhe meines lieben Erich kennen, der nun einmal keine seßhafte Natur ist. Ich sehe wohl ein, daß, wie er sagt, die häufige Ortsveränderung etwas wie ein Betäubungsmittel ist, an das man sich auf die Dauer gewöhnt wie an ein anderes. Bei unseren heutigen, leichten und bequemen Reiseverbindungen ist es vielleicht wirklich das hauptsächliche Narkotikum vieler, und zumal solcher Existenzen geworden, die der regelmäßigen, fesselnden Arbeit entbunden sind. Ich nehme es ohne Widerspruch für ihn an, ist es doch so viel unschuldiger als manches andere, vor dem es ihn bewahren kann.

Du wunderst Dich, wie ich ihn zu verstehen und in seine Bedürfnisse einzudringen trachte. Es ist wahr, daß ich es vormals nur zu wenig getan habe, und ich bin mir dessen bewußt, was ich so zu dem, was geschehen, beigetragen habe. Doch hoffe ich jetzt so viel wie irgend möglich, davon nachzuholen. In der sehr angenehmen Gesellschaft, der wir in unserer kleinen Pension angehören, finde ich meinen Mann recht in seinem Element. Während der Unterhaltungen, die man allabendlich in dem hübschen, altmodischen Gartensaal führt, der auf den See hinausblickt, habe ich oft Gelegenheit, die Reichhaltigkeit seines Wissens zu bewundern, und noch mehr die Leichtigkeit, mit der er es behandelt. Im Gespräch mit den Angehörigen verschiedener Nationalitäten und Lebenskreise versetzt er sich ohne Schwierigkeit in das Interessengebiet eines Jeden, um dessen Gesichtspunkt zu dem seinigen zu machen. Neben ihm komme ich mir mit der Einseitigkeit meiner Auffassung und mit meinem mehr systematischen Wissen oft recht schwerfällig vor. Wenn ich bei solchen Gelegenheiten ein wenig stolz auf ihn bin, so komme ich ihm doch erst ganz nahe in den Zwiegesprächen, die wir lieber als sonst irgendwo, auf den Spazierfahrten führen, welche wir fast täglich auf dem See unternehmen. Wenn er mir die Geschichte und den Gang seines geistigen Lebens erzählt, so bin ich fast erschrocken, wie viele Überzeugungen er nach und nach erworben und später wieder zu glauben verlernt hat. Es macht mich wehmütig, zu merken, daß er Wahrheit und Irrtum kaum noch als Gegensätze betrachtet, und sich damit bescheidet, alles gelten zu lassen. Zugleich aber belehrt mich dies über mich selbst, die ich mich, wie Dir nicht verborgen sein kann, für ungläubig gehalten habe. Und doch habe ich seit meiner Kindheit meinen Glauben höchstens verändert. In ihm erkenne ich erst, was eine wahrhaft ungläubige Natur ist.

Dies alles wird Dir herzlich unbedeutend erscheinen, aber ganz sicher würdest Du unsere Stimmung teilen, wenn wir so in den weißen Sonnendunst hineinrudern, der über den See gebreitet ist, während auf den Rudern, die langsam und wie schmeichelnd über das glatte Wasser zurückschleifen, die Tropfen im Lichte funkeln. Ich weiß nicht, ob es die Luft ist oder die gleitende Bewegung des Kahnes, aber es ist alles wie mit einer stillen Innigkeit durchtränkt, aus der ohne unser Zutun auch das, was wir uns sagen, herauszufließen scheint. Es ist wohl vor allem der See, der etwas Beschwichtigendes, zuweilen selbst Feierliches in sich trägt. Man sucht ihn, auf welchem Punkte der Landschaft man sich auch befinde, wie mit der Seele, so mit den Blicken, und wenn wir ihn abends nicht mehr sehen, so regeln sich vorm Einschlafen unbemerkt unsere Atemzüge nach dem leisen, leisen Geräusch seiner Strandwellen.

Als Erich kürzlich abends allein von einem Ausgange heimkehrte, gab er mir ein Gedicht, das ich Dir mitteilen möchte. Ich finde es nicht schlecht, doch bin ich ja nicht unparteiisch. Denke Dir aber, daß ich jetzt an Musik und Poesie mehr Geschmack gewonnen habe, als je zuvor. Du siehst, daß große Ursachen neben den bedeutenden auch kleine Wirkungen haben. Ich grüße Dich, mein guter Vater, in Liebe. Deine Tochter Anna.«

Hier das Gedicht:

Still lag der See im weißlich-blauen Duft,

Aus dem die Berge gleich Phantomen ragten.

Weich abgestimmt war jede schwarze Kluft,

Darüber hin sonst Wetterwolken jagten,

Von dieser jungen, schmeichlerischen Luft,

In der die Möwenschreie leis nur klagten.

Nur selten Böte durch den stillen Raum

Mit lautlos eingetauchten Rudern glitten,

Dem Abendschein entgegen, wie im Traum

Bin ich den lieb vertrauten Weg geschritten.

Als ich mich wiederfand, am grünen Saum

Des Weingeländes, hab ich’s gern gelitten.

Der Pfad schleicht aufwärts durch das Kreuz und Quer

Von weißen laubwerküberhangnen Mauern.

Der leise Wind trägt Blütenduft mir her:

Aus unserm Garten schon? Wie lang wird’s dauern,

Bis unter’m Tor, das in den Angeln schwer

Sich dreht, des Ahorns Grüße mich umschauern.

Nun winkt herab vom grauen Gartensaal

Weiß die Gestalt im Josephinenmieder.

»Ich bin’s.« – Es duften süßer am Portal

Als je zuvor im Mai, Jasmin und Flieder;

Und daß das Schicksal uns einander anbefahl,

Wir fühlen’s und wir sagen es uns wieder.

Am Ende des Blattes angelangt, vermochte Dora die Augen nicht mehr von den letzten Zeilen zu erheben.

»Und daß das Schicksal uns einander anbefahl«

Sie las dies immer aufs neue, als begriffe sie es nicht oder als hoffe sie, dennoch einen anderen, weniger schrecklichen Sinn aus dem Verse herauszudeuten. Ach, die Worte waren nur zu klar, und er selbst hatte sie schreiben können! Jeder Zweifel an der Aufrichtigkeit und Endgültigkeit der ausgesprochenen Gesinnungen ward unmöglich, wenn sie die Ähnlichkeit in Ton und Stimmung der beiden Gatten verglich. Es lag etwas darin, was ihr die Überzeugung auferlegte, daß Alles für sie verloren sei, mit jener Unwiderruflichkeit, für welche es keine Gründe gibt. Es mußte wohl die stille Innigkeit sein, von der Anna schrieb, und die gleichmäßig aus jeder Zeile sprach, ob Wellkamp den Heimweg zur Geliebten schilderte, oder ob die junge Frau ihre naive Bewunderung für die Eigenschaften ihres Mannes äußerte. Dora mußte nun sehen, daß Alles, was geschehen, daß ihr kurzes Glück und ihr langes Leiden endlich nur vermocht hatten, die Bande zwischen dem geliebten Manne und der verhaßten Anderen fester zu knüpfen, ihnen eine wahre, unzerstörbare Intimität zu geben, die sie vorher nicht besessen. Und war nicht auch das Verhältnis von Vater und Tochter ein engeres geworden? In ihrer geistigen Abgeschlossenheit hatte Anna vormals in ihrem Vater keinen Vertrauten erblickt; sie hätte ihm nie die Geständnisse gemacht wie sie es jetzt getan. Vielleicht war, so fiel es der einsamen Frau ein, ihr Gatte eben in diesem Augenblick bei seinen Kindern in ihrem neuen Heim. Der Brief war vom 20. Mai datiert, und man befand sich in den ersten Tagen des Juni; das Paar mußte zurückgekehrt sein. So war sie von diesen drei Menschen gewaltsam entfernt, welche sich darauf einander genähert hatten. Die Wahrnehmung, wie ein schädliches Element in schweigender Übereinkunft ausgeschlossen worden zu sein, vollendete ihre Trostlosigkeit. Auch er hatte sich dazu verstehen können! Diese Entdeckung mit Allem was ihr der Brief verriet, hatte in ihr eine letzte, äußerste Hoffnung vernichtet, die trotz Allem, selbst während jenes furchtbaren Abschieds, ja in den Fieberdelirien und später während der halben Betäubung, in der sie gelebt, noch unversehrt geblieben war, die Hoffnung, daß er mit der Anderen dennoch sein Glück nicht finden, und daß er zurückkehren werde. Vielleicht war es nichts anderes, was bisher die fliehenden Kräfte beisammen gehalten, was den bleibenden Lebenswillen ausgemacht hatte, als diese Hoffnung. Sie war wohl schwach gewesen wie der Atem der Kranken, doch nichts anderes als die heutige grausame Aufklärung hatte sie ganz stocken lassen können. Nun aber dieser tiefverborgene Ressort, aus dem das ganze System der seelischen und nervösen Tätigkeit einzig noch unterhalten worden, aufgehoben war, ward das Auseinanderverlangende durch nichts länger verbunden.

Die junge Frau warf achtlos Scheite über Scheite in den Kamin, um dann mit unbeweglichen Augen in die übergroße Flamme zu starren. Erst als ihre Stirnhaare versengt wurden und ihr Gesicht unerträglich glühte, zog sie den Kopf zurück. So blieb sie sitzen und blickte mit denselben Augen die erkaltete Asche an, mit denen sie in die Lohe gesehen. So fand sie jeder Tag einer langen Reihe. Sie beschäftigte sich nicht mehr; ihre Bücher blieben geschlossen, sie machte keine Tagestoilette. Kleidete man sie des Morgens an, so war ihre einzige Sorge, daß man ihr jenes hellviolette Gewand überwarf, welches ihr unseliges Brautkleid gewesen. Der Stumpfsinn, der über die in ihrer Einsamkeit ihm Hingegebene hereinbrach, nahm ihr die Erinnerung an das verhängnisvolle Jahr, welches hinter ihr lag. So trat sie eines Tages ins Speisezimmer, wo sich soeben ihr Gatte bedienen ließ, und bestellte, ohne letzteren zu beachten, unbefangen gleichfalls ihr Gedeck. Dann Herrn v. Grubecks gewahr geworden, redete sie ihn nachlässig und gleichgültig an:

»Guten Tag, mein Lieber, etwas neues?«

Der Mann glaubte darin eine schneidende Ironie zu hören, mit der sie auf die ihr geflissentlich verheimlichte Rückkehr des jungen Paares anspielte, die sie irgendwie in Erfahrung gebracht haben mußte. Er zitterte und erbleichte. Dora aber hatte sorglos zu speisen begonnen und erwartete keinerlei Antwort. Was sie gesagt, war nur die gewohnheitsmäßige Anrede gewesen, mit welcher sie den Gatten in der ersten Zeit ihrer Ehe, als sie gleichgültig, aber doch in ungestörtem Frieden neben einander lebten, empfing, wenn er nach Hause kam: »Etwas Neues?«

Den Brief hatte sie indes bewahrt und entfaltete ihn häufig, ohne selbst noch zu wissen, warum? War es ein letztes, ihr nicht mehr deutlich fühlbares Bedürfnis, mit dem Verlorenen wenigstens durch dieses Blatt Papier in einer gewissen fernen, fernen Beziehung zu stehen? Einmal geschah es, daß ihr sonst darüber hinschweifender, verständnisloser Blick auf der Schilderung verharrte, welche Wellkamp vom Genfer See und der ihn umgebenden Landschaft gab; diese Landschaft, in welcher sich sein friedliches Glück befestigt hatte, und die Dora selbst ihm zuerst genannt! Mit der Fähigkeit, sich auf sich selbst zurückzuwenden, die einem versiegenden Leben bis zuletzt erhalten bleibt, rief sie plötzlich ihre eigene Gestalt wach, wie sie sich damals, noch in ihrer Mädchenzeit, an jenem herrlichen Ufer bewegte. Es war vor wenig mehr als fünf Jahren gewesen, und doch wie weit lag es in ihrer kurzen Existenz zurück, in der sich die Erfahrungen mehr als in einer anderen gedrängt hatten. Ihr inneres Gesicht zeigte ihr den Schmuck jener Natur in leuchtenderen Farben, in magischerem Duft, als ihn die armen Worte beschrieben. Und sie selbst, so müde sie schon damals nach Europa herübergekommen war, um in der Ehe mehr auszuruhen als zu beginnen – nun erblickte sie ihre Mädchengestalt dennoch in dem Glanze der Jugend, denn die Luft war damals gleichwohl noch voll Hoffnungen gewesen, und an jeder Wegbiegung konnte das Glück zu ihr treten. Das Glück! Verkörperte es sich nicht in dem jungen blonden Manne, mit dem sie geheimnisvoll zusammengeführt war, und der seine schlanke Gestalt zu ihr neigte, um ihr ein Wort zuzuflüstern, das sie wie einen Kuß im Nacken fühlte. Dann aber bewegte sich ein Schatten in das Bild, und die Zurückschauende mußte sehen, wie sich eine fremde Gestalt über ihre eigene schob, um an der Seite des Mannes weiterzugehen. Und war dies nicht ein Symbol ihrer Geschichte? Sie fand ihn in der idealen Landschaft ihrer Jugend, und er war ihr bestimmt. Warum hatte sie ihn zu spät ihm Leben treffen müssen, so daß nun Schuld geworden war, was in Ehren hätte stehen sollen. Hatte sie gesündigt, da er doch der einzige Mann gewesen war, den sie geliebt? Alle Anderen waren ihr nichts als eine Machtprobe gewesen; sie hatte sie zu nehmen getrachtet, und sobald sie sich ihr ergeben wollten, mit Ekel fortgeworfen. Diesem Einen aber hatte sie sich gegeben, und gerade er war es, der sie nach flüchtiger Laune verschmähte. Sie fühlte die Rache der Natur plötzlich wieder mit ungeahnter Stärke. Sie sprang auf, es war ihr, als müsse sie schreien. Sie stampfte mit den Füßen, dann gellte eine Stimme, die so schrecklich klang, daß die Unglückliche selbst sich die Ohren hielt, und die von den dicken Vorhängen und Teppichen ringsherum ruhig angehalten und erstickt ward:

»Ich liebe ihn noch!«

Diese Frau, die mit unfruchtbarer, falscher Leidenschaftlichkeit ihr ganzes Leben zersetzt hatte, um es dann mit bitterer Langeweile abbröckeln zu sehen, konnte nicht friedlicher enden als sie gelebt. Sollte sie sterben, so durfte ihr letzter Atem nicht sanft entfliehen, er mußte in Stößen von ihr gehen. Es war, als geböte ihr Temperament an einer Stelle den fliehenden Kräften Halt, und zwänge sie, die danach verlangten, still und unbemerkt, eines nach dem anderen dahinzuschwinden, sich zusammenzunehmen zu einem gewaltsamen letzten Ausbruch.

Doras Eifersucht war in der Zeit des schnellen Verfalls des Verhältnisses unbedeutender und weniger gefährlich erschienen als diejenige Wellkamps. In Wahrheit war sie nur zurückgehalten durch die tiefe Angst, mit der die junge Frau das Wachsen dieser Leidenschaft bei sich wie bei dem Geliebten bemerkte. Da sie sich an ihre einzige große Liebe wie an das Leben selbst klammerte, schauderte sie vor der Eifersucht als vor der natürlichen Mörderin des Gefühls zurück. Dieser erhaltende Instinkt war erst langsam durch die Unfähigkeit, die Leidenschaft länger zu bemeistern, abgetötet, und Dora hatte sehen müssen, wie ihre zeitweilige Annäherung an ihren Gatten, die sie, wie um sich einen Halt zu geben, versucht hatte, die notwendige Katastrophe nur beschleunigte. Bei diesen sich bekämpfenden Gefühlen war sie ruhiger erschienen als der Mann, sei es durch einen Rest von der weiblichen Zurückhaltung gegenüber der beobachtenden Umgebung, sei es nur in der Art, wie der Zustand eines wirklichen Kranken zuweilen weniger gefährlich erscheint, als der eines eingebildeten. Was war denn Wellkamps Eifersucht im Vergleich mit der ihrigen? Nichts als diejenige eines Kindes, das ein Spielzeug zwar fortgeworfen hat, aber nicht dulden will, daß ein Anderer die Hand darauf lege. Die Frau, die er nicht mehr für sich begehrte, mißgönnte er dennoch ihrer Ruhe und ihrem Gatten. Sie aber liebte ihn, die Unglückliche, und während die Wunden, die ihm seine männliche Eitelkeit geschlagen, ihn vielleicht bereits nicht mehr schmerzten, hatten die ihren, die in Stille und Verheimlichung in Eiter übergegangen waren, das Blut vergiftet und nun ein äußerstes Fieberdelirium herbeigeführt, dem die Auflösung folgen mußte.

Bis zum letzten mußte sie jetzt die Rache der Natur über sich ergehen lassen, die uns unerbittlich mit dem straft, womit wir uns an ihr vergangen haben. So ward ihr die Leichtigkeit, mit welcher schon die frühreife Phantasie des jungen Mädchens mit Bildern spielte, die sie abwechselnd reizten und abschreckten, nun zur raffinierten Qual. Der Traumzustand, in dem sie soeben ihre Jugend erblickt, war beendigt. Die erwachten und schmerzhaft angestrengten Sinne zeigten ihr alles in nackten, harten Formen. Sie sah den Geliebten, jener Anderen gehörig, und sein Lächeln, seine Bewegungen waren die gleichen, die sie an ihm kannte, die er für sie selbst gehabt. Dann wechselte das Gesicht, und in ihrer kranken Phantasie tauchten unreine Bilder auf. All das tief Unwürdige, womit sie und ihr Mitschuldiger ihre in sich selbst schon beendigten Beziehungen zu verlängern gesucht hatten, ging noch einmal an ihr vorüber und erregte in ihren irren Sinnen eine aufreizende, verzweifelte Sehnsucht. Unter ihren Augen, die, wie um in das Unsichtbare einzudringen, gewaltsam aufgerissen waren, schwollen die blauen Adern, während ihre Hände mit einem krachenden Geräusch der Knochen sich krampften, als wollten sie das furchtbare Bild auseinanderreißen. Es war dicht vor ihr, sie sprang mit einem Schrei einen Schritt vor, wild in die Luft greifend. In die Schleppe ihres Gewandes verwickelt, stürzte sie vornüber und verharrte eine Minute kniend. Als sie sich mit leeren Händen aufgerafft und alles verschwunden fand, starrte sie irr um sich her, und plötzlich wußte sie, daß sie allein sei, wie sie es niemals vorher gewußt. Aus dem Zimmer wich, was den Raum füllte, die dicht stehenden Möbel und die Etagèren, auf denen hundert Kleinigkeiten sich drängten, die Albums und Bilder, die Teppiche und Vorhänge waren wie von einem Abgrund verschlungen. Die Wände waren kahl, der Raum weit und immer weiter. Es gab nichts mehr als etwas Ungeheures, das in graue Schatten wie in die Unendlichkeit auslief. Rings um sie her fühlte die Unglückliche die Einsamkeit liegen, gleich einem wilden, ausgehungerten Tiere, das sie mit leeren, übergroßen Augen ansah. Das Tier sog die Luft ein, ihre Lebensluft: sie meinte, nicht mehr atmen zu können, und wie ein Erstickender mit den Gliedern um sich schlägt, fühlte sie sich in ihrer Lebensnot zu einer Gewaltsamkeit gedrängt, sie wußte nicht, zu welcher? Sie rannte umher und begann zu suchen, sie wußte nicht was? Sie dachte nicht mehr, wenigstens nicht in dem Sinne, wie man von menschlichem Denken spricht. Der Rest ihres Lebenswillens gab sich aus, das war alles, und er tat es auf eine Weise, die Bewußtsein und Verantwortlichkeit ausschloß. Im Zimmer ihres Gatten zögerte sie, wie in Erinnerung an den Fund, den sie hier bereits einmal getan. Was ist in solchem Augenblick Erinnerung? Ein schwacher Hauch, der einen dichten, dichten Schleier heben möchte. Man hat ihn eine Sekunde gespürt, der Schleier bleibt liegen. Wenn sie nicht wußte, was sie suchte, so begriff sie vielleicht ebensowenig, was sie gefunden hatte. Sie betrachtete die zierliche, silberbeschlagene Pistole, die ihre hastigen Finger unter einem Haufen von Papieren hervorgewühlt, ganz ratlos, mit der Hand über die glühende Stirn fahrend. Es erschien dennoch kein Gedanke, und was sie in der Folge tat, war nichts anderes als die Bewegung des in den Abgrund Stürzenden, der mit ausgespreizten Armen den am Rande Stehenden mit sich reißt. Kein Impuls kann heftiger sein als dieser; der Moment ist einzig, es gibt weder Für noch Wider.

Sie prüfte nicht, ob das Spielzeug geladen, sie hatte schon den Mantel umgeworfen, das Spitzentuch hing lose von ihrem Haupte, sie war schon die Treppe hinab. Einige Schritte weiter hielt sie einen Einspänner an. Draußen an der Schillerstraße stieg sie aus, um das Haus zu erfragen.

Wellkamp und Anna schritten soeben von der kleinen Landungsbrücke, wo ihr Boot angelegt, die Terrassen ihres Gartens hinan, aufeinander gestützt, langsam, mit der süßen Mattigkeit, welche die leichte Anstrengung des Ruderns in der weichen Frühlingsluft ihnen gegeben hatte. Sie hatten von unten das Herankommen Doras nicht bemerken können; nun sahen sie plötzlich auf der Höhe des Gartens, von der sie noch einige Stufen trennten, die dunkle Gestalt stehen, die sich gegen den lichten Himmel vergrößert abhob. Beide machten bei dieser unvorhergesehenen Erscheinung eine Bewegung des Schreckens. Wellkamp blieb halb abgewandt stehen, ohne sich über eine Auffassung der Lage schlüssig werden zu können. Dagegen hatte Anna sofort ihre Fassung wiedergewonnen. Es war ihr keine Selbstüberwindung anzumerken, während sie der ehemaligen Feindin, der Frau, die ihr den größten Schmerz ihres Lebens zugefügt, die Hand entgegenstreckte.

»Ich weiß wohl«, sagte sie, »daß wir Unrecht haben, Dir nicht sofort von unserer Rückkehr Anzeige gemacht zu haben. Aber sei gewiß, daß ich es nicht unterlassen hätte. Es muß unter uns allen Frieden geschlossen sein, ehe uns ganz wohl werden kann.«

Sie erwartete, daß Dora ihr einen Schritt entgegenkäme. Als nichts davon geschah, erhob sie zum ersten Mal aufmerksam den Blick zu dem Gesicht der Obenstehenden und ließ nun selbst den Arm sinken, bestürzt durch die gleichsam verschlossene, jedes Ausdrucks beraubte Miene, mit den zwischen ihr und ihrem Gatten ins Leere starrenden Augen. Nur auf der Stirn schien sich etwas zu bewegen, etwas wie eine Falte, die über der Nasenwurzel kam und verschwand, als sei es eine Idee, die nicht zum Durchbruch gelangen könne. Dann öffnete sich langsam der Mantel, eine Hand bewegte sich daraus hervor, die ein winziges Geschoß emporhob, um es tastend auf Wellkamp zu richten. Mit dem selben Augenblicke, der sie diese Bewegung erkennen ließ, war Anna bereits zum Schutze vor den Geliebten gesprungen, den sie mit aller Stärke ihrer rückwärts gebreiteten Arme umklammerte. Der Mann vermochte sich nicht zu rühren, Anna erwartete den Schuß, und es hatte noch Niemand den nächsten Atemzug getan, als sich die Mündung der Pistole wendete, um eine Sekunde lang gegen Doras eigene Schläfe gerichtet zu bleiben. Indes sollte ihr die Tat erspart bleiben. Noch rechtzeitig genug hörte ihr müdes Herz zu schlagen auf, daß ihre schlanke Gestalt ohne die Verunstaltung des Selbstmordes in die Knie sinken konnte.

Was sie die Waffe gegen sich selbst richten ließ, konnte gewiß ein Instinkt sein, so dunkel und unerklärlich, wie derjenige, der sie hergeführt. Es wäre so viel menschlicher und tröstlicher, wenn es ein letztes Aufleuchten ihrer verlöschenden Seele war, das ihr in einer deutlichen Vision die Größe und Unwiderstehlichkeit jener Liebe offenbarte, die dort opferbereit den Geliebten mit dem Leibe deckte, und gegen die diese Waffe so unwirksam blieb wie alle anderen. Wenn sie so als letzte Erkenntnis eben das mit hinüber nahm, was so recht den Widerspruch gegen alles, woran ihr Leben gehangen, bedeutete, so mochte dieses verfehlte Leben wohl in einem höhern Sinne als gesühnt erscheinen, und die schöne Idee von einer Vergebung der Sünden brauchte ihrem Ende nicht fern zu bleiben.

Als Wellkamp aus einer längeren Betäubung zu sich kam, fand er sich allein an dem Lager der einst Geliebten. Er war mechanisch gefolgt, als man sie hinaufgetragen und gebettet hatte. Der Gatte war herbeigeholt, dann war der Arzt erschienen. Es war alles zu Ende, und nun erst hatte man sich seiner erinnert, der teilnahmslos daneben stand, und hatte ihn da gelassen, in stiller Nachsicht mit den Beziehungen, die ihn mit Dora verbunden, und die der Tod plötzlich fast erlaubt erscheinen machte. Denn der Triumph des Todes über alle Rechte der Lebenden ist so vollständig, daß angesichts seiner sogar die Schuld das Ausgeschlossene, Heimliche, das ihr anhaftet, abzulegen wagt. Kaum allein, war er ohne Besinnung nieder gesunken, mit dem Körper gegen den Bettrand, und als er nun zu sich kam, fühlte er in seiner Hand eine andere, die er beim Falle ergriffen, und ohne deren Stütze er zu Boden geschlagen wäre. Anfangs mochte er dieser Hand seine eigene Wärme mitgeteilt haben, nun aber hatte sie gesiegt und die seinige bis in den Arm hinauf erkältet. Er ließ sie dennoch nicht los; es tat ihm wohl, etwas von ihrem Tode in seinem Blute zu spüren. Er drückte sie fester, während er in der schon hereinbrechenden Dämmerung ihre Züge erspähte, seine fiebernden Blicke immer tiefer darein versenkte und nun seinerseits die Wiederbelebung ihrer gemeinsamen Vergangenheit anstellte, der sie sich in ihren letzten Nöten hingegeben hatte. Er sah alles wieder vor sich, erkannte alles wieder bis auf längst vergessene Kleinigkeiten, Unterschiede in der Entwickelung seines Gefühls, auf die er kaum Gewicht gelegt, und die ihm nun bedeutend deuchten. Der Grund war, daß stets erst das Ende der Dinge ihnen einen Sinn gibt. Wer nach dem Untergange der Welt noch da wäre, würde sie begreifen. Wellkamp ging nun sicheren Schrittes durch das Labyrinth seiner Leidenschaften, dem er früher zögernd, eine Beute seiner Begierde, nachgegangen. War doch jetzt der Ausgang da, vor seinen Augen. »Es hat alles so sein müssen.« Dies war der schmerzliche und doch so wohltuend resignierte Gedanke, der jede seiner Erinnerungen begleitete. Er erbebte unter den tiefinnern Schauern jenes nachträglichen Fatalismus, den wir Alle kennen. Wiederholt nicht dieses wunderliche Gefühl in begrenzteren Formen jene unsere Unfähigkeit, in der Vorstellung, die wir uns von unserem Gotte machen, über unsere menschlichen Begriffe hinaus zu greifen? Wie wir ihn nach unserem Bilde denken, so vermögen wir auch uns selbst nicht anders zu sehen, als wir uns kennen. Wir wären uns entfremdet, wenn wir uns anders dächten als wir sind. Wellkamp erkannte nun die Vorherbestimmung, die ihn genau auf dem Wege geleitet hatte, den er genommen, da er auf keinem anderen das Ziel hätte erreichen, der Mensch werden können, der er heute war oder der er werden sollte. Er fragte sich mit einer mystischen Angst: wie, wenn er zum Beispiel an jenem Punkte, als das schuldige Einverständnis bereits vorhanden, und die tatsächliche Ausführung nur noch die Frage von Tagen war, das Werdende abgebrochen hätte? Wenn er in der Folge jenes Weihnachtsabends zu dem Vorsatze, ohne Zögern abzureisen, die Kraft gefunden hätte? Und er antwortete, daß dies ebenso unmöglich gewesen sei, wie ein Zusammentreffen mit Dora überhaupt zu verhindern, die ihm vom Schicksal in den Weg geführt war. Er hatte alle Stationen dieser Leidenschaft durchwandeln müssen, von höchster Extase zu tiefster Erniedrigung, weil er nur so von seiner Jugend erlöst werden konnte. Wie hatte er, als er in der Ehe von neuem zu beginnen trachtete, glauben können, daß diese Jugend ihn ohne Buße loslassen werde, mit Allem, was eine Jugend, wie die seine, hinterläßt an schlecht geheilten Wunden, nicht verschmerzten Enttäuschungen und nachwirkender Verbitterung, an zu kürzlichen Erfahrungen, die auf das neue Leben ihre Schatten werfen. Es gab in seinem Leben so unendlich viele Trümmer, die ihm den Weg versperrten und fortgeräumt werden mußten, ehe er von neuem zu bauen beginnen konnte. Und dies war es, was hier geschehen war, mit einem Schlage, der alles in der Vergangenheit ihn Belastende mit seiner Wucht in unerkennbare Fernen zurückschob und beinahe unwirklich machte. Alles ward unansehnlich und verlor seine Wirkung in der Erinnerung angesichts dieses Opfers, welches sein Dasein erfordert hatte, und durch welches fortan sein Fühlen reiner, sein Denken größer gemacht werden sollte. Der Gedanke aber, daß sie für ihn, für sein Lebensglück geopfert sei, ergriff ihn von neuem mit aller Gewalt. Seltsam, er fuhr fort zu bedenken, daß die Natur, welche kein Gefühl für das einzelne Geschöpf besitzt und im Großen plant, häufig so wie hier, ein Leben zerstört, um ein anderes dadurch erhalten und verbessern zu können, während er sich doch gleichzeitig unter lautem Aufschluchzen über den stillen Körper warf, dem er wie ein Geständnis zurief:

»Ich habe Dich getötet!«

Aber, ist es nicht eben dieser Widerspruch eines sich ohnmächtig fühlenden Fatalismus mit dem unüberwindlichen Gefühle der Verantwortlichkeit, der das Tragische eines jeden Menschenlebens ausmacht, des einfachsten wie des bedeutendsten?

Die Dunkelheit ließ nur mehr wenig unterscheiden, als der regungslos über die Tote Geneigte seiner schmerzlichen Hingabe durch das Öffnen der Tür entrissen wurde. Er erkannte in dem Eingetretenen einen Geistlichen. Anna war durch das lange Verbleiben ihres Gatten bei der Toten beunruhigt worden. Um nun seinen Schmerz mit einer sanften und verständnisvollen Hand zu berühren, hatte ihr Herz, dem ihr freidenkerischer Geist nie etwas von seiner Pietät genommen, das rechte Mittel gefunden. Der Geistliche, welchen sie holen ließ, gehörte der katholischen Religion an, welche die der Verstorbenen gewesen, und für die Anna die Vorliebe ihres Gatten kannte. Es war ein Mann von Jahren, der die Wissenschaft des Beichtstuhls, die reiche Erfahrung, die in seinem Berufe so feine Seelenkenner bildet, wohl zu nutzen verstand. Er war gewohnt, dort den Trost, der trotz Allem der beste bleibt, anzuwenden, wo es gab, was er in seinen Gebeten von der Kanzel »Sünden« nannte, und worunter er »Leiden« begriff. So hatte er sich auch jetzt bereits bei der Begrüßung durch Anna durch leise, kluge Erkundigungen über die Lage der Verhältnisse aufgeklärt, die er völlig überschaute, wie er nun an das Totenbett trat. Als er den fassungslos davor Knienden bewogen, sich zu erheben, und ihn an der Hand einige Schritte ins Zimmer hinein geführt hatte, sagte er, still in den Schatten deutend, in dem Dora schlummerte:

»Unsere Toten wünschen, daß wir schon im Leben den Frieden haben mögen, den sie leider oft erst im Tode gefunden haben.«

Heinrich Mann - Gesammelte Werke

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