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7 Besuch aus Amerika

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Dicke Schneeflocken schwebten vor ihrem Fenster herab. Über die verschneite Kaiserallee rasselte eine Kutsche. Als sie von ihrem Buch aufblickte, sah sie, wie aus den Nüstern der schwarzen Rösser kleine Dunstwolken stiegen. Der Anblick stimmte sie melancholisch. Immer seltener waren auf den Berliner Straßen Kutschen zu sehen. Das Kutschenzeitalter neigte sich dem Ende zu. Mehr und mehr stinkende Automobile verdrängten die altehrwürdigen, von schnaubenden Pferden mit klappernden Hufen gezogenen Karossen, die sie immer an Eimimi denken ließen – ihre Großmutter, die gute alte Frau, die vor nun schon mehr als zehn Jahren gestorben war.

So viel hatte sich seither verändert. Sie war selbst Mutter geworden. Der kleine Hans-Georg hielt gerade Mittagsschlaf. Zweieinhalb Jahre war er jetzt alt, der kleine Fratz. Keine Tischdecke, keine Blumenvase war vor ihm sicher, und einmal hatte er auch schon einen Rilke-Gedichtband mit seiner Milch getauft. Elisabeth liebte ihn über alles. Wärme durchrieselte sie, wenn er auf ihren Schoß kroch und sie mit seiner hellen Stimme bat, ihr aus einem Bilderbuch vorzulesen. »Mutti.« Immer noch versetzte es sie in Entzücken, wenn sie so gerufen wurde, wenn auch manchmal in gebieterischem Ton. Neun Monate hatte sie den Jungen gestillt und nur auf heftiges Drängen ihrer Mutter damit aufgehört. Fast war es ihr so vorgekommen, als sei ein zweites Mal die Nabelschnur durchtrennt worden.

Denn Hans-Georg war ihr Ein und Alles. Der Junge half ihr, sich mit ihrem Leben abzufinden. Materiell fehlte es ihr an nichts. Es ging ihr besser als den meisten Menschen in dieser schwierigen, von Arbeitslosigkeit, nackter Armut, Inflation und politischen Unruhen geplagten Zeit. Die Fünfzimmerwohnung, die sie mit ihrer kleinen Familie und ihrer Mutter bewohnte, war geräumig und schön, wenn sie sich dort auch oft wie ein besseres Hausmädchen fühlte, denn das Oberkommando hatte nach wie vor ihre Mutter. Die ordnete an, was mittags auf den Tisch kommen sollte, wie die Wände zu tapezieren waren und wann für Hans-Georg Bettzeit war. Sie bestimmte, ab wann und wie stark geheizt wurde, und nicht selten mäkelte sie sogar an der Kleidung ihrer Tochter herum. Verständlich, dass Georg gleich nach dem Frühstück das Haus verließ und oft erst nach Mitternacht heimkehrte. Wenn er dann einmal längere Zeit mit ihr sprach, kam es nicht selten zum Streit. Äußerte sie auch nur den geringsten Zweifel an seinen hochfliegenden Plänen, fuhr er sie unwirsch an. »Was weißt du denn?!«, lautete einer seiner Standardsprüche. »Du hast doch keinen blassen Schimmer.«

Einwände, Widerworte trieben ihn zur Weißglut. Deshalb ließ sie ihn meistens einfach reden. Es war ja auch wirklich interessant, wenn er von seinen Revuen, Kabarettaufführungen oder Lesungen sprach – von berühmten Dichtern wie Klabund oder Tucholsky, die angeblich für ihn schrieben; von Hans Albers, Rosa Valetti, Theo Lingen und vielen anderen prominenten Schauspielern und Schauspielerinnen, die seinen vollmundigen Erzählungen nach bei ihm auftraten; von Musikern, die für ihn spielten, Tänzerinnen, die für ihn tanzten. All das war doch viel aufregender als ihre kleine Welt in der Kaiserallee 135, und sie war selig, wenn er sie einlud, ihn zu der einen oder anderen Premiere zu begleiten. Nur kam sie sich oft sehr klein vor neben ihrem Mann – nicht nur, was die Körpergröße betraf. Manchmal wünschte sie sich, unsichtbar zu sein inmitten dieser schönen und geistreichen Menschen im Theater. Dann war sie froh, wieder nach Hause zu kommen.

Sie sehnte sich zurück nach ihrer Arbeit als Lehrerin. Die Schule hatte ihrem Leben Sinn und Halt gegeben – und vielleicht auch so etwas wie Würde. Ein bescheidener Ersatz war es für sie, ihre Nichte zu unterrichten: die kleine Maria, Marlenes Tochter, die schon so hübsch war wie ihre Mutter. Obwohl Maria noch nicht zur Schule ging, brachte sie ihr Lesen und Schreiben bei. In ihren Briefen an Marlene schwärmte sie von den Fortschritten des klugen Mädchens, das sich selbst den Namen Heidede gegeben hatte und nun auch von anderen so genannt wurde. Auch über andere Neuigkeiten aus der Familie hielt Elisabeth die ferne Schwester auf dem Laufenden. Zum Beispiel dass Tante Jolly während einer Afrika-Safari mit dem Starpiloten und fliegenden Kinohelden Ernst Udet fremdgegangen war und Onkel Willi verlassen hatte. Eine Affäre, über die sogar die Zeitungen berichteten!

Vor allem aber bewunderte Liesel in ihren Briefen all das, was Marlene ihr von ihren Triumphen in Amerika mitteilte. Jetzt hatte sie mit Josef von Sternberg schon den dritten Film gedreht. Nach dem Blauen Engel war auch ihr zweiter Sternberg-Film wieder ein Erfolg geworden. Marlene war in Marokko als Nachtclubsängerin an der Seite von Gary Cooper zu sehen. Dreißig Pfund hatte sie sich für die Rolle abgehungert! In einer Szene hatte sie – als Mann gekleidet – eine andere Frau geküsst. Manche hatten sich darüber aufgeregt. Aber das war gar nicht schlimm. Denn die kleine Provokation hatte den Film noch zusätzlich ins Gespräch gebracht, und die meisten lachten darüber, wie Marlene ihren Frauenkuss diskret hinter vorgehaltenen Blumen versteckte. O ja, Marlene kam an. Die amerikanischen Kritiker feierten sie als neue Verkörperung weiblicher Erotik in Frack und Zylinder, das Publikum strömte in die Kinos und verlangte nach mehr. Ähnlich erfolgreich würde sicher auch der neueste Film werden. Dishonored sollte er heißen. Entehrt. Josef von Sternberg hatte Marlene zu einem Markenartikel gemacht, zum Vamp mit rauchig-erotischer Stimme, zur Femme fatale, und Marlene war ihm dankbar dafür und passte sich dem Image auch außerhalb der Dreharbeiten an.

In fast jedem ihrer Briefe sang sie Lobeshymnen auf ihren Regisseur – auch in Briefen an Rudi, ihren Mann, der anscheinend keinen Anstoß daran nahm. Manche der Briefe gab »Papilein«, wie Marlene ihn oft nannte, Liesel zum Lesen. In einem hatte sie über Josef von Sternberg geschrieben:

Jo kann die Emotionen, die ich fühle, besser nach außen bringen als ich … Jo sagt mir, was ich tun soll, und ich tue es. Ich bin sein Soldat, er ist mein Führer, er leitet mich auf jedem Zentimeter Film … Ich bin sein Produkt, ganz von ihm gemacht. Er höhlt meine Wangen aus mit Schatten, lässt meine Augen größer erscheinen, und ich bin fasziniert von dem Gesicht da oben auf der Leinwand und freue mich jeden Tag auf die Schnellabzüge, um zu sehen, wie ich, sein Geschöpf, aussehe.

Marlene verschwieg auch nicht, wie Sternberg sie bei den Dreharbeiten quälte, einzelne Szenen bis zur totalen Erschöpfung wiederholen ließ. Liesel hatte Mitleid mit ihrer »Pussycat«, wenn die von ihren Qualen unter der glühenden Sonne Kaliforniens berichtete. Aber sie sah ein, dass kein Weg darum herumführte. All das war nur zu Marlenes Bestem. Schließlich himmelte von Sternberg sie an. Er war so verliebt in sie, dass dessen Frau in ihrer Eifersucht die Nebenbuhlerin aus Berlin schon wegen Zerrüttung ihrer Ehe verklagt hatte.

Nein, bei allem Glanz, bei allen Triumphen hatte Leni es nicht leicht in Amerika, davon war Liesel überzeugt. Sie hätte nicht mit ihr tauschen mögen. Die Mutter hingegen verfolgte die steile Karriere ihrer Jüngsten mit ungebrochenem Stolz, und, je mehr Geld Marlene in Hollywood verdiente, desto lebhafter schwärmte sie von ihr. Anstelle der vereinbarten 500 Dollar hatte Paramount ihr bereits 1750 Dollar pro Woche für Marokko gezahlt, und beim nächsten Film war ihre Gage schon in schwindelerregende Höhen geklettert, ganz zu schweigen von dem Traumhaus in Beverly Hills und dem anderen Luxus, den man ihr bot. Gleich bei ihrer Ankunft hatte Josef von Sternberg ihr einen Rolls-Royce geschenkt, Chauffeur inklusive. Liesel und ihre Mutter konnten sich gar nicht sattsehen, wenn sie die Bilder aus den Illustrierten betrachteten, die Marlene ihnen schickte. Ja, Pussycat brachte Glanz in das Leben ihrer Schwester, und oft war Liesel in Gedanken bei ihr. Zu gern betrachtete sie die große Weltzeituhr im Schaufenster von Onkel Willis Uhrengeschäft Unter den Linden am Hotel Adlon. Zwei der neun Zifferblätter zeigten an, wie spät es gerade in New York und San Francisco war. Das half ihr, sich vorzustellen, was Leni gerade machte.

Aber das Schönste war, dass Marlene bald zu Besuch kommen würde. Noch im Dezember, rechtzeitig zu Marias sechstem Geburtstag, wollte sie in Berlin sein. Bis zum 13. Dezember war es nur noch eine Woche. Liesel freute sich. Gleichzeitig hatte sie auch ein bisschen Angst vor dem Wiedersehen. Leni war eine weltberühmte Frau geworden. Wie sollte sie ihr gegenübertreten?

»Mutti!« Hans-Georg war aufgewacht. Sofort stürzte Elisabeth ins Kinderzimmer und nahm ihren Sohn aus dem Bett. Der Kleine schlang seine Arme um ihren Hals, sodass sie seinen verschwitzten Körper spürte. »Saft«, verlangte er.

»Sofort, mein Süßer. Du hast bestimmt einen Riesendurst.«

Während sie dem Jungen Apfelsaft in die Flasche füllte, hörte sie, wie unten die Haustür aufgeschlossen wurde. Josephine von Losch kehrte aus dem Uhrengeschäft zurück, wo sie gelegentlich aushalf. »Hast du den Jungen schon wieder aus dem Bett geholt?«, schallte es zu Elisabeth herauf. »Er sollt doch bis um halb drei schlafen.«

»Er ist aufgewacht.«

»Aufgewacht? Na und?! Dann lässt du ihn eben liegen. Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass Kinder sich an feste Regeln gewöhnen müssen.«

»Ich finde, es gibt noch etwas anderes als feste Regeln.«

Josephine von Losch seufzte und schüttelte den Kopf. »Du bist unbelehrbar. Aber es ist natürlich dein Sohn. Wirst schon sehen, was du davon hast.« Daraufhin verschwand sie in der Küche. Kaum hatte Liesel aufgeatmet, donnerte die Stimme ihrer Mutter erneut durchs Haus: »Du hast ja immer noch nicht aufgeräumt! Nicht mal das Frühstücksgeschirr ist abgewaschen.«

Pünktlich am Abend des 12. Dezember 1930 traf Marlene in Berlin ein. Kurz vorher war schon ihr Gepäck angeliefert worden: sechs Überseekoffer, die sie sich eigens nach ihren Vorgaben hatte anfertigen lassen – groß wie Schränke, geschmückt mit den Anfangsbuchstaben ihres Namens, »M« und »D«. Liesel traf Marlene am nächsten Tag bei Marias Geburtstag. Sie sah schöner aus denn je – vor allem noch viel eleganter. Sie duftete nach einem teuren Parfüm und hatte die Ausstrahlung einer Königin. Es war keine Frage, dass an diesem Tag nicht das Geburtstagskind im Mittelpunkt stand, sondern die heimgekehrte Mutter. Marlene erzählte von den Dreharbeiten, von ihrem wunderbaren Regisseur, von der Marokko-Premiere in den USA, von dem schönen Haus in Hollywood und all den verrückten Leuten dort und den vielen Berühmtheiten, denen sie jetzt begegnete – von Charlie Chaplin bis Greta Garbo, ihrer Nachbarin in Hollywood.

Marlene hatte Liesel bei der Begrüßung in den Arm genommen, lange und fest gedrückt und auf beide Wangen geküsst. »Wie geht es dir, meine Süße?«, hatte sie gefragt. Als Liesel stockend und etwas verschämt auf die Frage geantwortet hatte, war sie ihr schon nach zwei oder drei Sätzen ins Wort gefahren. Immerhin konnte Liesel irgendwann noch erzählen, dass sie im Sommer mit ihrer Familie an die Riviera fahren wolle und dafür schon fleißig Italienisch pauke.

»Das ist gut«, sagte Marlene. »Du musst auch mal was für dich tun – und hier unbedingt raus.«

Bis Weihnachten war Marlene für ihre Schwester nicht mehr erreichbar. Sie erhielt Besuch von Freunden, sprach mit Journalisten, ließ sich fotografieren, besuchte ihre alten Stammlokale, gab Autogramme, wurde auf offener Straße bejubelt und in den Zeitungen gefeiert.

Dass Marlene durch den Blauen Engel und ihre Hollywood-Karriere so berühmt geworden war, machte sie auch für Georg Will interessant. Der Kabarettdirektor lud seine glamouröse Schwägerin ein, in seine Shows oder Theatervorstellungen zu kommen, und brannte darauf, seine kleinen Kulturtempel mit ihrem Besuch zu adeln. Wie schön wäre es, Marlene in seinem Restaurant im Theater des Westens zu bewirten – natürlich sollte dabei dann ein Fotograf den Stargast werbewirksam ablichten. Doch Marlene erteilte ihm eine Abfuhr nach der anderen. Da nützte es auch nichts, wenn Georg Will seine Frau als Unterhändlerin einspannte.

»Was der Kerl sich einbildet«, schnaubte Marlene, als Liesel in den Weihnachtstagen einen weiteren Versuch unternahm. »Tut mir leid, Süße, für den Quatsch ist mir die Zeit zu schade.«

Schließlich klappte es dann doch. Am 7. Januar 1931 besuchte Marlene Dietrich eine Revuepremiere im »Tingel-Tangel«. Der Grund für ihre Zusage war aber nicht Kabarettmanager Will, sondern der Komponist Friedrich Hollaender, dem Marlene seit dem Blauen Engel in Freundschaft verbunden war. Hollaender hatte die Musik zu der Revue geschrieben und saß selbst am Klavier.

Das Premierenpublikum erkennt sie sofort, und Marlene macht auch gar nicht erst den Versuch, sich in einer Loge zu verstecken. Sie winkt den Berlinern huldvoll zu und nimmt in der ersten Reihe Platz, als sei sie nicht nur der Ehrengast, sondern die Attraktion des Abends. Sie wird eingerahmt von ihrer Mutter und Elisabeth. Liesel ist für den feierlichen Anlass in ihr schwarzes Abendkleid geschlüpft. Im Vergleich zu dem roten Seidenkleid mit dem tiefen Dekolleté, das Marlene trägt, kommt ihr ihre eigene Garderobe trist vor. Sie wagt kaum zu atmen, weiß nicht, wohin mit den Händen, und blickt entsetzt zur Seite, als ein Fotograf nach vorn kommt, um ihre Nachbarin abzulichten. Georg, der zu ihrer Linken sitzt, wendet sich dagegen nicht ab, sondern beugt sich sogar ein wenig vor, um mit aufs Bild zu kommen. Wie peinlich! Zum Glück verlöschen dann aber die Lichter, und der Vorhang geht auf, sodass erst einmal alle Augen auf die Bühne gerichtet sind.

In der Pause ist Liesel froh über den dichten Pulk von Leuten, die ihre Schwester derart umdrängen, dass sie von ihr getrennt wird. So kann sie an der Seite ihrer Mutter die Sektbar ansteuern und den Tumult, selbst unbeobachtet, aus sicherer Distanz verfolgen. Marlene verursacht unterdessen einen Menschenauflauf. Alle wollen ihr die Hand schütteln und bekunden, wie begeistert sie vom Blauen Engel sind. Sie genießt die Komplimente und freut sich besonders, einige Worte mit Friedrich Hollaender wechseln zu können. »Marlene«, rufen die Leute ihr zu, »Lola Lola«, skandieren sie. Marlene zeigt ihr strahlendstes Lächeln, sie winkt und lacht. Aber die Besucher geben sich nicht damit zufrieden, ihre »Marlene«-Rufe verstummen nicht. Sie wollen, dass sie singt, rufen die Titel ihrer Lieder durch das Foyer. Als sie sich mit einem fragenden Blick an Hollaender wendet, zuckt der Pianist nur scheinbar resigniert die Achseln und nickt ihr mit verschwörerischem Lächeln zu. Damit ist es abgemacht.

Gegen Ende der Pause steigt sie auf die Bühne, verbeugt sich unter tosendem Beifall und singt »Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt«. Der Applaus will kein Ende nehmen – und natürlich muss sie auch die »Kesse Lola« zum Besten geben.

Liesel klatscht kräftig mit. Sie ist stolz auf ihre Schwester. Als das Publikum Marlene auch nach dem fünften Lied noch nicht gehen lassen will, laufen ihr Tränen der Rührung über die Wangen. Schließlich geht die Revue weiter. Aber echte Begeisterung will nicht mehr aufkommen. Der Applaus bleibt hinter dem Jubel in der Pause zurück.

Blandine Ebinger, die Hauptakteurin der Revue, ist an diesem Abend verständlicherweise nicht gut auf Marlene zu sprechen. Die Besucherin aus Hollywood hat ihr die Schau gestohlen. Georg Will wird Liesel später erzählen, Blandine, die Exfrau Hollaenders, habe hinter den Kulissen getobt. »Was hat dieses Filmsternchen hier bei uns auf der Bühne zu suchen? Kann mir das mal einer sagen?«, habe sie geschimpft. »Die kann doch überhaupt nicht singen.«

Marlene lachte nur spöttisch, als sie von der Klage erfuhr. »Die Provinznudel ist doch bloß neidisch.«

Sie blieb noch einige Monate in Berlin. Aber Liesel bekam ihre Schwester noch seltener zu sehen als zuvor. Marlene machte Plattenaufnahmen, gab Interviews, studierte ein neues Drehbuch, ließ von ihrem Gesicht einen Abdruck für eine Büste nehmen, ging mit ihrem alten Freund und Filmpartner Willi Forst auf den Presseball, begrüßte Chaplin auf seiner Werbetour für den Film Lichter der Großstadt in Berlin und ließ sich neue Kleider schneidern. Zwischendurch fuhr sie nach London und Paris, um sich bei der Kinopremiere von Marokko zu zeigen.

Rudi sah man nur selten an ihrer Seite. Gleich nach ihrer Rückkehr war ihr klar geworden, dass ihr Mann inzwischen fest mit Marias Kindermädchen Tamara liiert war, die sich schminkte und stylte wie die fünf Jahre ältere Frau ihres Geliebten.

Zur Marokko-Erstaufführung in Prag ließ sich Marlene dann aber doch von Rudi begleiten. Sie nutzte die Gelegenheit, ihren in der Nähe lebenden Schwiegereltern mit ihrem Mann einen Besuch abzustatten. In der Kaiserallee kümmerte sie sich, wann immer es möglich war, um die kleine Maria. Nach Ostern sollte das aufgeweckte Mädchen eingeschult werden. Aber dazu kam es nicht. Marlene beschloss, ihre Tochter mit nach Amerika zu nehmen. Und Rudi stimmte zu – mit der noch vagen Absicht, vielleicht irgendwann selbst einmal auf der anderen Seite des Atlantiks Wurzeln zu schlagen. Die politische Lage in Deutschland verdüsterte sich zusehends. Bei den letzten Reichstagswahlen im September 1930 hatten die Nationalsozialisten gut achtmal mehr Stimmen erhalten als zwei Jahre zuvor. Das waren für Leute aus der Filmbranche wie Rudi Sieber keine guten Signale. Denn die antisemitischen Parolen der Nazis richteten sich auch gegen jüdische Regisseure, Drehbuchautoren und Schauspieler und damit gegen einen großen Teil der Künstler, die dem deutschen Film gerade erst im vergangenen Jahrzehnt zu seinem hohen internationalen Ansehen verholfen hatten.

Überall im Kulturbereich standen jüdische Intellektuelle und Künstler hoch im Kurs. Die künstlerische Leitung des »Tingel-Tangel« zum Beispiel hatte gerade Friedrich Hollaender übernommen, der ebenfalls Jude war und selbst ein ironisch-politisches Couplet zum Thema beisteuerte: »An allem sind die Juden schuld«.

Das gefiel auch dem Kabarettmanager Georg Will. Der wusste natürlich, wie seine alten Freikorpskameraden über solche Sticheleien dachten. Aber in Fragen der Kunst stand er den meist jüdischen Kulturschaffenden näher.

In anderen Fragen geraten Will und Hollaender mächtig aneinander. Streit entzündet sich vor allem an einer Trennwand mit Mosaiken, die Szenen aus dem Nibelungenlied zeigen. Hollaender stört die Sichtblende im germanischen Stil enorm. Vollkommen unmöglich, mit dieser Trennwand dreihundert Besuchern eine barrierefreie Sicht zu bieten, wie es der Vertrag vorsieht.

»Brechen wir doch die entsetzliche Mosaikmauer weg«, schlägt er vor.

Aber Will protestiert. »Unmöglich! Alles von Hand eingesetzt. Goldsteinchen, echte Goldsteinchen sind das.«

»Grässlich!«

Will weist händeringend auf den Denkmalschutz hin, hebt den kunstgeschichtlichen Wert der Mosaikwand hervor: »Alles Motive aus der Nibelungensage. Sehen Sie doch, hier: Hagen mit dem Jagdspeer! Und da: Kriemhild mit Etzel beim Gemetzel. Sehen Sie nur, wie schön das glitzert.«

»Muss alles weg«, entgegnet Hollaender.

»Nur über meine Leiche.«

Trotz seiner Empörung über den bilderstürmenden Komponisten unterzeichnet Georg Will den Vertrag dann aber doch. Denn der Theatermanager weiß den zugkräftigen Namen seines störrischen Partners durchaus zu schätzen.

Einen Tag vor der Generalprobe kracht es erneut. Als dreihundert neue Stühle angeliefert werden, sieht Hollaender sich bestätigt, dass die Mosaikwand die Sicht tatsächlich massiv behindert. Und der Komponist ruft eigenmächtig die Handwerker und lässt das germanische Heldenepos mit Axthieben zertrümmern, dass sich die Mosaiksteinchen in einen großen Schutthaufen verwandeln und das ganze Theater des Westens erbebt. Götterdämmerung im »Tingel-Tangel«. Der Kabarettchef zieht sich wutschnaubend in sein Restaurant zurück und tröstet sich mit einem steifen Grog. Hollaenders Erfolg aber stimmt Georg Will dann wieder versöhnlich. Denn alle folgenden Vorstellungen sind ausverkauft. Dabei fehlt es nicht an politischen Anspielungen. So trägt zum Beispiel Lügenbaron von Münchhausen in der Hollaender-Revue eine Hitler-Maske.

Schon bald wird ein Regime solche Respektlosigkeiten erbarmungslos unterbinden und bestrafen, aber erst einmal darf noch gefeiert werden, und Georg Will stößt an auf das Wohl seines künstlerischen Leiters. Sicher, auch Hollaender ist einer dieser neunmalklugen Juden, mag der Kulturmanager gedacht haben, aber er ist erfolgreich, und allein das zählt. Die ganze Kulturszene ist ja geprägt von jüdischen und linksliberalen Künstlern, darüber kann man schon aus geschäftlichen Gründen nicht hinwegsehen.

Elisabeth freute sich über den Erfolg der satirischen Revue, und das nicht nur, weil er Geld in die Kasse brachte. Die Spitzen gegen die Braunhemden sprachen ihr aus dem Herzen. Aber die Kommunisten machten ihr ebenfalls Angst, und eigentlich interessierte sie sich gar nicht für Politik. Sie war traurig, dass Marlene schon wieder packte, um nach Amerika zurückzukehren – diesmal mit Maria. Das Mädchen würde ihr fehlen. Marlene sowieso.

Und mit der bevorstehenden Abreise der Schwester quälte sie erneut die Frage, wie ihr eigenes Leben weitergehen sollte. Ein Lichtpunkt immerhin war der geplante Italienurlaub, für den sie weiter Italienisch paukte – und Goethes Erinnerungen an seine Reise ans Mittelmeer las.

Aber erst einmal gingen Marlene und Maria auf ihre weite Reise. Am 16. April 1931 war es so weit. Kurz nach Mitternacht sollte der Zug in Richtung Bremerhaven abfahren. Freunde, Bewunderer und Reporter waren zum Bahnhof geströmt, um Abschied zu nehmen. Liesel stand mit ihrer Mutter und Rudi am Bahnsteig. Der Schlagerkomponist Peter Kreuder, der Hollaender bei den Musikarrangements zum Blauen Engel unterstützt hatte, war sogar mit einer Blaskapelle angerückt, die zu dieser nächtlichen Stunde aufspielte. Marlene trug einen Leopardenmantel, als sie den Zug bestieg – an der Hand Maria, in einem weißen Mantel aus Kaninchenfell. Begleitet wurden die beiden von Resi. Die Garderobiere sollte sich in Amerika um Maria kümmern.

Liesel musste weinen, als der Zug abdampfte. Abschiedsszenen dieser Art gingen bei ihr selten ohne Tränen ab. Später, als Schwager Rudi ihr die Telegramme zeigte, die Marlene ihm von Bord des Schiffes – es war wieder die »Bremen« – gesandt hatte, musste sie aber auch lachen. Da die Überfahrt sehr stürmisch gewesen war, waren alle seekrank geworden. Besonders Resi. Sie hatte sich übergeben müssen und so weit über die Reling gelehnt, dass ihr Gebiss mit über Bord gegangen war.

Jetzt lagen Tausende von Meilen zwischen Liesel und Leni. Doch sie ließen den Kontakt nicht abreißen, schrieben einander Briefe und Telegramme. Darin informierte Marlene ihre Schwester zwar nicht über alle pikanten Details ihrer Affären, in ihre komplizierte Beziehung zu Josef von Sternberg aber weihte sie sie ein. Elisabeth wusste, dass Sternbergs Frau Riza Royce Marlene wegen der Zerstörung ihrer Ehe mit dem Regisseur verklagt hatte und eine halbe Million Dollar »Schmerzensgeld« verlangte – und sie freute sich mit ihrer Pussycat, als der Streit hinter den Kulissen gegen eine stattliche Abfindung beigelegt und Sternberg von seiner Frau endlich rechtsverbindlich geschieden wurde. Da immer damit zu rechnen war, dass ihre Briefe in die falschen Hände gerieten, setzte sie für manche Namen Pseudonyme ein. Josef von Sternheim zum Beispiel nennt sie in dem folgenden Brief aus dem Jahr 1932 »Stocke«, während sie dessen Exfrau unverblümt – ganz im Sinne ihrer Schwester – schlicht als »altes Scheusal« bezeichnet:

Dass mit Stockes Frau hat mich riesig gefreut, direkt eine Herzensfreude! Dieses alte Scheusal! Dass Du mit Stocke wieder Filme machst, ist ja herrlich. Lass Dich nur nicht quälen und ärgern.

Fesche Lola, brave Liesel

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