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4 Die Rolle ihres Lebens

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Warten, warten, warten. Im Deutschen Theater in Berlin steht eine junge Frau allein auf einer Bühne und knetet nervös die Finger. Vorsprechen für die Schauspielschule Max Reinhardts, jenes berühmten Regisseurs, der das Theaterleben in der Hauptstadt prägt wie kein Zweiter. Eine geschlagene Stunde hat Marlene schon im tristen Vorraum auf ihren Auftritt gewartet; miterlebt, wie eine Mitbewerberin bedrückt zurückkam und kein Wort herausbrachte, als Marlene sie fragte, wie es gelaufen sei. Jetzt ist sie selbst gleich dran.

Im dunklen Zuschauerraum sitzen Herren, die sie nicht erkennen kann. Gesichtslose Silhouetten. Max Reinhardt ist nicht darunter. Der große Meister inszeniert gerade in Wien.

Auf der Bühne steht nur ein Stuhl. Aber das reicht. Marlene hat das Gretchen-Gebet aus Goethes Faust einstudiert. Am Abend zuvor noch hat sie die Szene Liesel vorgespielt, die den Monolog genauso auswendig konnte wie sie selbst. Liesel war begeistert gewesen. Aber jetzt kommt es darauf an, diese Schattenwesen im Parkett zu überzeugen.

»Bitte.«

Tief durchatmen und los.

Marlene setzt sich, starrt ins Scheinwerferlicht und versucht sich vorzustellen, dass sie in irgendeiner Mauerhöhle das Andachtsbild der Mater dolorosa vor sich hat.

Ach neige, du Schmerzenreiche,

Dein Antlitz gnädig meiner Not …

Sie spürt, dass sich ihr Herzklopfen legt, steigert sich mehr und mehr in ihren Text, kniet nieder.

Wer fühlet,

Wie wühlet

Der Schmerz mir im Gebein?

Tagelang hat sie kaum an etwas anderes denken können, alles getan, um diese Chance nicht zu vermasseln. Denn die Schauspielschule Max Reinhardts gilt als Tor zu den besten Theatern Deutschlands, und nicht alle Bewerberinnen werden zum Vorsprechen eingeladen. Nein, bei weitem nicht.


Die Schauspielerin als junge Frau.

Marlene war froh, die Schule endlich hinter sich gelassen zu haben. Bis zum Abitur war sie auch in Weimar nicht gekommen. Aber wozu brauchte der Mensch Abitur? Sie sah sich als Künstlerin. Eigentlich wollte sie ja Konzertgeigerin werden, aber nach dem Vorfall mit dem Geigenlehrer war ihr die Lust am Geigenspielen abhandengekommen. Die Leichtigkeit, mit der sie bisher den Bogen gestrichen hatte, fehlte plötzlich. Und so war sie von der Musikakademie abgelehnt worden. Aber sie sah keinen Grund, sich darüber zu grämen. Schon lange hatte sie davon geträumt, Schauspielerin zu werden. So wie Henny Porten, ihr Idol. Ihre Mutter war entsetzt gewesen, als sie ihr von ihren Plänen berichtet hatte. Das alte Lamento von den brotlosen Künsten. Pah! Sie würde schon noch beweisen, dass man auch mit der Schauspielerei Geld verdienen konnte. Aber jetzt erst einmal diese Aufnahmeprüfung.

Sie rutscht auf ihren Knien hin und her, legt Schmerz und Verzweiflung in ihre Worte, fleht voller Inbrunst das imaginäre Bild der Madonna vor ihrem inneren Auge an:

Hilf! Rette mich von Schmach und Tod!

Ach neige,

Du Schmerzenreiche,

Dein Antlitz gnädig meiner Not!

Geschafft! Jetzt müsste eigentlich der Applaus einsetzen. Zumindest ein paar lobende Worte wären schön. Aber es bleibt einige schreckliche Sekunden lang still. Was folgt, dringt nur bruchstückhaft zu ihr vor, wie von weit her. Später sollte sich die Szene zu einer Anekdote mit ganz unterschiedlichen Szenen entwickeln. Aus dem dunklen Zuschauerraum soll eine Geisterstimme gerufen haben: »Fräulein Dietrich, heben Sie Ihren Rock. Wir wollen Ihre Beine sehen. Heben Sie Ihren Rock.«

Aber das ist nicht verbürgt. Sicher ist, dass Marlene abgelehnt wurde. Ihr Vortrag, heißt es, sei zu schwülstig gewesen. Sie habe zu dick aufgetragen. Niemand erwarte von einer Schauspielerin, dass sie Tränen vergieße, wurde ihr gesagt. Entscheidend sei es, das Publikum zum Weinen zu bringen.

Doch Marlene ließ sich nicht entmutigen. Sie nahm – angespornt und gefördert von Onkel Willi – privaten Schauspielunterricht, übte sich im Singen, Geigenspielen und Tanzen und sprach weiter vor. Mit Erfolg. Sie wurde engagiert: als Nummerngirl, als Statistin, für Nebenrollen im Theater. Sogar in einer Inszenierung von Max Reinhardt durfte sie mitspielen. In der Shakespeare-Komödie Der Widerspenstigen Zähmung trat sie als Witwe auf – eine winzige Rolle, aber im Großen Schauspielhaus vor dreitausend Zuschauern. Sie fiedelte, sang und tanzte. Manchmal absolvierte sie an einem Abend gleich zwei Auftritte hintereinander. Nachdem sie mit ihrer Tanztruppe ihre langen Beine geschwungen hatte, streifte sie ihr Glitzerkostüm ab und schlüpfte in das Gewand einer Zofe.

An Auftrittsmöglichkeiten fehlte es im Berlin der zwanziger Jahre nicht. Die Stadt vibrierte vor Kreativität, sprühte vor lange unterdrückter Lebensfreude. Operetten und Revuetheater, Kabaretts und Schauspielhäuser wetteiferten um die Gunst eines vergnügungshungrigen, aber nicht anspruchslosen Publikums. Und fast alles war erlaubt. Der Zusammenbruch des Kaiserreichs, Geldentwertung und Wirtschaftskrise hatten die strenge wilhelminische Moral aufgeweicht, Tabus hinweggefegt und Raum für eine scheinbar unbegrenzte Freiheit geschaffen, die der Kunst ideale Entfaltungsmöglichkeiten eröffnete. Männer stiegen in Frauenkleider und präsentierten sich kichernd mit prallen Kunststoffbrüsten, Frauen sangen Hymnen auf die gleichgeschlechtliche Liebe, und alte Autoritäten wurden zu Lachnummern – egal ob Bischof oder General. Marlene schlüpfte von einer Rolle in die andere. Dabei entwickelte sie großes Geschick darin, ihre Kostüme meist stillschweigend zu ihrem Privateigentum zu machen. Sie nahm, was sie kriegen konnte: Kleider, alle Arten von Handschuhen, Schals, Schuhe, Boas, Handtaschen und vor allem Hüte – Hüte mit Federn, Hüte mit Kunstblumen, Hüte mit Seidenbändern. Dies hatte den Vorteil, dass sie bei Vorsprechterminen und manchen Engagements ihre Garderobe gleich mitbringen konnte.

Bald stand sie auch in kleinen Rollen vor der Kamera. Filme hatten Konjunktur. Kinos und Filmgesellschaften schossen wie Pilze aus dem Boden. Leerstehende Lagerhäuser verwandelten sich in Traumfabriken. Besonders Bauten mit Glasdächern waren gefragt, denn Sonnenstrahlen waren besser – und billiger – als Scheinwerfer. Da noch ohne Ton gearbeitet wurde, konnten in einer Halle dicht nebeneinander gleich mehrere Filme gedreht werden. Hier tobte eine Tortenschlacht, da weinte ein Mann herzzerreißend um seine Liebste, und wenige Meter entfernt prügelten sich Kinder publikumswirksam um eine Tafel Schokolade.

Berlin mühte sich, den Amerikanern Konkurrenz im Filmgeschäft zu machen, und Marlene Dietrich war dabei. In Joe Mays Film Tragödie der Liebe, der 1923 in die Kinos kam, spielte sie die aufreizende Geliebte eines Staatsanwalts: Lucie, ein Flittchen. Es war nur eine kleine Rolle, im Schatten von Stars wie Rudolf Forster und Emil Jannings, mit dem sie hier zum ersten Mal gemeinsam auftrat. Doch Marlene warf sich mächtig ins Zeug, um sich die Rolle zu sichern. Für die Bewerbung schlüpfte sie in ein Chiffonkleid mit tiefem Ausschnitt, streifte sich grellgrüne Handschuhe über, klemmte sich ein Monokel ins Auge und stöckelte in hochhackigen Schuhen durchs Studio. Dabei sah sie nicht nur verführerisch aus, sondern vor allem lächerlich. Auch der Regieassistent Rudolf Sieber, betraut mit der Auswahl der Nebendarsteller, musste sich das Lachen verkneifen. Trotzdem engagierte er die junge Schauspielerin – und verliebte sich in sie.

Der Funke sprang über. »Er war so schön«, erinnerte sich Marlene Dietrich später. »Sein blondes Haar glänzte, und er war angezogen wie ein englischer Lord auf seinem Landsitz. Ein kleiner Regieassistent beim Film in echtem Tweed? Na, ich wusste sofort, dass ich ihn liebte.«

Der fünf Jahre ältere Regieassistent aus dem Sudetenland war zwar bereits verlobt, aber das änderte nichts daran, dass er Marlene schon wenige Wochen nach den Dreharbeiten Ende 1922 einen Heiratsantrag machte.

Josephine von Losch war anfangs gar nicht begeistert, als Rudolf Sieber bei ihr um die Hand ihrer Jüngsten anhielt. Sie hatte sich für ihre Marie Magdalene eine bessere Partie erhofft als so einen mittellosen Filmfritzen. Andererseits konnte sie es nicht mehr mit ansehen, wie das Mädel immer tiefer im Sumpf dieses Lotterlebens versank. Sie hoffte, dass sie nach der Heirat endlich die Schauspielerei aufgeben würde. Schließlich ließ sie sich sogar als Trauzeugin einspannen, als die beiden am 17. Mai 1923 auf dem Standesamt Berlin-Friedenau den Bund der Ehe eingingen.

Marlene war erst einundzwanzig. Glaubt man ihren Erinnerungen, schloss sich an die standesamtliche Prozedur eine feierliche Trauung in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche an. Ihrer Autobiographie zufolge wäre Marlene am liebsten in einer Pferdekutsche mit wehendem weißem Schleier vorgefahren. Ihre Mutter mietete aber einen amerikanischen Straßenkreuzer, einen Packard. Marlene, heißt es, nutzte das schützende Dunkel im Innern des Autos, um den Myrtenkranz zu lösen, den ihre Mutter ihr zuvor geflochten und als Zeichen der Jungfräulichkeit aufgesetzt hatte. Denn Jungfrau war sie seit der Vergewaltigung in Weimar nicht mehr. »Es gibt Dinge, die man nie vergisst«, notierte sie kurze Zeit später in ihrem Tagebuch und erinnerte sich voll Bitterkeit und Sarkasmus an die »Trauung von Weimar«, die »all das Trübe mit dem Liegenlassen der Geige« nach sich gezogen habe.

Die Hoffnungen ihrer Mutter erfüllten sich nicht. Marlene ließ sich durch ihre Heirat keineswegs zur züchtigen Hausfrau machen. Schon im Juni 1923 trat sie in einer »Hintertreppen-Tragikomödie« mit dem Titel Zwischen neun und neun wieder vor einem Theaterpublikum auf, und im Juli stand sie erneut vor der Kamera – diesmal in einer Nebenrolle als Badenixe am Ostseestrand in dem Film Der Sprung ins Leben von Johannes Guter. Weitere Bühnenauftritte schlossen sich in rascher Folge an. Sie spielte in der Farce Mein Vetter Eduard, sie mimte die Hippolyta in Shakespeares Sommernachtstraum, sie mischte als frühreifes Schulmädchen mit in Wedekinds Frühlings Erwachen, sie verwandelte sich in ein Dienstmädchen in Der eingebildete Kranke von Molière.

Dann aber kam eine neue Rolle auf sie zu: Marlene, die jetzt laut Ausweis Marie Magdalene Sieber hieß, wurde schwanger und am 13. Dezember 1924, zwei Wochen vor ihrem dreiundzwanzigsten Geburtstag, Mutter eines Mädchens, das sie Maria nannten.

Sie nahm ihre neue Rolle ernst. Wenn sie auch bald wieder in Filmen und Theaterstücken mitspielte, wurde die Tochter zu ihrem Lebensmittelpunkt. Die Zeit zwischen ihren Auftritten verbrachte sie jetzt, wann immer es ihr möglich war, bei ihrer Maria in einer Wohnung in der Kaiserallee, die ihre Mutter für sie in der Nähe ihres eigenen Hauses gemietet hatte.


Marlene Dietrich und ihre Tochter Maria im Hawaii-Look mit Papierblumen im Haar (1931).

Am 18. Oktober 1926 schrieb sie in ihr Tagebuch:

Das Kind ist alles. Ich habe nichts sonst! Mutti ist immer noch so himmlisch gut, und das Kind macht ihr so viel Freude. Ich fange langsam an, ein bisschen abzuzahlen an Liebe. Sonst ist nichts! Ich spiele Theater, mache Filme und verdiene viel Geld. Ich habe eben dies Buch durchgelesen! Gott, wo ist der Überschwang der Gefühle! Alles vorbei!

Kein Mensch versteht, dass ich an dem Kind so hänge, weil keiner weiß, dass ich sonst nichts habe. Ich selbst erlebe nichts. Als Frau nichts und als Mensch nichts.

Die Ehe mit Rudi war von leidenschaftlicher Liebe weit entfernt. Nach außen hin galten die beiden als Traumpaar, zwei bildschöne Menschen, die scheinbar wie geschaffen füreinander waren. Sie lächelten verliebt in die Kameras, wenn sie fotografiert wurden – ob beim Berliner Presseball oder am Strand von Swinemünde. Doch in sexueller Hinsicht kamen sich die beiden seit der Schwangerschaft offenbar nicht mehr besonders nahe. Sie nannten sich »Papi« und »Mutti« und lebten zusammen wie Bruder und Schwester. Maria schrieb viele Jahre später über ihre Mutter:

Marlene hatte leidenschaftlichen Romanzen schon immer den Vorzug vor purer Sexualität gegeben. Nur aus ehelichem Pflichtgefühl vermochte sie den Liebesakt zu erdulden. Jetzt diente ihr die vage Ausflucht, das Kind könne Schaden nehmen, als Vorwand, die körperliche Liebe endgültig aus ihrer Ehe zu verbannen. Der liebende Gatte stimmte allem zu, was sie für richtig hielt.

Durch ihr Kind und den Umzug in die Kaiserallee war Marlene ihrer Schwester wieder näher gekommen. Auch in deren Leben war eine Veränderung eingetreten. »Es geht ihr oft nicht gut«, schrieb Marlene am 18. Oktober 1926 in ihr Tagebuch. »Man kann ihr nicht helfen. Ich liebe sie sehr.«

Fesche Lola, brave Liesel

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