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5 Aus Fräulein Dietrich wird Frau Will
ОглавлениеWieder läuten die Hochzeitsglocken, wieder steht ein Brautpaar vor dem Altar der Gedächtniskirche. Diesmal trägt Elisabeth den Schleier. Der Bräutigam überragt sie um mindestens dreißig Zentimeter: Georg Hugo Will, ein stämmiger Mann in schwarzem Frack, der einen Zylinder in der Rechten trägt. Ein Mann wie eine deutsche Eiche. Elisabeth kommt sich wie eine Zwergin vor neben diesem Riesen mit Fliege.
Der Pastor hat aus der Bibel gelesen, über die Kraft der Liebe gepredigt, aber auch anklingen lassen, dass das Leben keine einzige Hochzeit ist, sondern Tiefen und Zerreißproben bereithält.
Allein Gott in der Höh sei Ehr und Dank für seine Gnade …
Jetzt wird es ernst. Die Trauzeremonie beginnt. Elisabeth lässt ihre Augen kurz durch die Kirche schweifen, die nur in den ersten vier oder fünf Reihen gefüllt ist. Ganz vorn, mit gewohnt strengem Blick, ihre Mutter, daneben Marlene und Rudi in ihrer strahlenden Schönheit. Die kleine Maria thront auf dem Schoß ihres Vaters und starrt mit großen Augen auf den Mann im Talar und das Brautpaar mit den Trauzeugen.
Elisabeth senkt den Blick, sie hört die Orgel brausen, hört, wie der Pastor zur Gemeinde spricht, aber die Worte dringen nicht zu ihr vor, sie kommen ihr vor wie mahnendes Raunen aus nebelhafter Ferne. Sie spürt, wie ihr Herz pocht und die Hitze ihr ins Gesicht schießt. Am liebsten würde sie sich in Luft auflösen. Aber das geht natürlich nicht. Denn jetzt spricht der Pastor sie direkt an, drückt mit mildem Lächeln seine Freude darüber aus, dass sie beide gewillt sind, vor Gott den Bund der Ehe zu schließen. Die entscheidende Frage aber richtet der Geistliche zuerst an Georg. Die Antwort schallt so laut durchs Kirchenschiff, dass niemand sie überhören kann: »Ja, mit Gottes Hilfe.« Georg war schließlich mal Schauspieler und weiß, wie man sich Gehör verschafft.
»Ottilie Josephine Elisabeth Dietrich, willst du Georg Hugo Will, den Gott dir anvertraut, als deinen Ehemann lieben und ehren und die Ehe mit ihm nach Gottes Gebot und Verheißung führen – in guten wie in bösen Tagen, bis der Tod euch scheidet –, so antworte: Ja, mit Gottes Hilfe.«
»Ja, mit Gottes Hilfe.«
Die Stimme klingt dünner als die des Bräutigams, aber die Antwort fällt dennoch klar und bestimmt aus. Nicht der Anflug eines Zögerns schwingt darin mit. Ja, sie hat alles getan, ihrer schwachen Stimme Festigkeit zu verleihen – und die Zweifel zu übertönen. Denn gezweifelt hat sie bis zuletzt; unsicher, ob die Gefühle, die sie diesem Mann entgegenbringt, das Wort »Liebe« verdienen und als Grundlage für ein gemeinsames Leben ausreichen. Liebe?! Aber vielleicht gibt es diese Liebe, von denen die Goethe-Gedichte und Shakespeare-Sonette schwärmen, ja gar nicht. Vielleicht ist das alles wirklich nur Kitsch. Nicht einmal bei Marlene und Rudi ist sie sicher, ob das große Wort gerechtfertigt ist.
Auf jeden Fall hat Georg sich mit all seinem Charme um sie bemüht, hat sie mit seinem Witz, seinen Sprüchen, seiner Eloquenz umgarnt, sie gestreichelt und geküsst, dass ihr warm wurde.
Kennengelernt haben sich die beiden durch Marlene. Denn Georg leitet als Direktor den renommierten Kellerclub im Theater des Westens, und da hat er Marlene vor einiger Zeit für eine kleine Revue verpflichtet. Früher hat er selbst auf der Bühne gestanden, sogar in kleinen Gastrollen am Münchner Schauspielhaus. Aber dann, erzählt er gelegentlich, habe er gemerkt, dass er nicht dafür geschaffen sei, fremde Texte zu sprechen und sich Regieanweisungen zu unterwerfen. Seine Mission – dieses Wort benutzt er gern, wenn er von seiner Arbeit spricht – sei es, selbst Regie zu führen, und das tut er nun, auf der Bühne, vor allem aber hinter den Kulissen: als Manager, Kabarett- oder Theaterdirektor. Und das Theater des Westens, diese Operettenbühne in der Kantstraße mit den vielen Stars, war keine schlechte Adresse, wenn ihm die große Bühne auch noch verwehrt war.
Marlene hatte ihn sofort beeindruckt mit ihrem sprühenden Witz, ihrer Berliner Schnauze, ihrer rauchigen Stimme, ihren schönen Beinen. Später, viel später wird er sogar behaupten, er habe sie entdeckt. Doch dieses Verdienst sollten auch andere für sich in Anspruch nehmen – und zwar mit größerer Berechtigung.
Auf jeden Fall aber hatte er dank Marlene deren ältere Schwester entdeckt. Marlene hatte Liesel mitgebracht, als sie von Georg Will zum Essen eingeladen worden war. Dabei war gleich deutlich zu spüren, dass Leni alle Annäherungsversuche dieses Liebhabers dicker Zigarren abblockte. »Was der sich einbildet«, vertraute sie ihrer Schwester an. »Spielt sich auf wie so ’n Generalintendant und hat von Tuten und Blasen keenen Schimmer.«
Aber Liesel ließ sich dadurch nicht abschrecken. Sie fand, dass ihre Schwester mal wieder etwas hart und ungerecht war. Georg war doch nett!
Er war zwei Jahre älter als sie und stammte aus dem nordböhmischen Städtchen Teplitz (heute Teplice), einem berühmten Kurort am Fuße des Erzgebirges. Nach der höheren Handelsschule hatte er in München Philosophie studiert – unter anderem bei dem bekannten Literatur- und Theaterwissenschaftler Artur Kutscher. Aber schon nach wenigen Semestern hatte er das Studium abgebrochen und war vom Hörsaal ins Bühnenmetier gewechselt – zuerst als Dramaturg am Hoftheater Meiningen, später als Schauspieler in München. Karriere hatte er dann aber hinter den Kulissen gemacht, er war schon in jungen Jahren Chefredakteur der Zeitschrift Musik und Theater und bald auch Pressechef der Bühnengenossenschaft geworden. Wie er politisch stand, hatte Liesel nie so recht begriffen. Eigentlich war er eher konservativ, hatte in München 1919 angeblich das Freikorps Oberland mitgegründet, München und Oberschlesien mit Waffengewalt von Arbeiterräten und Kommunisten »gesäubert«, wie er ihr mal zu vorgerückter Stunde erzählt hatte. Aber dann war er trotzdem der SPD beigetreten und stand, wie er immer wieder betonte, mit manchem Linken aus der Kulturszene auf Du und Du. Im Theater des Westens managte er nicht nur das Kellertheater, sondern betrieb auch das Theaterrestaurant, wo er als Hausherr oft Kollegen des Deutschen Bühnenvereins und Größen des Berliner Kulturlebens bewirten ließ.
Liesel war beeindruckt, als er ihr erzählte, dass er schon für die Weltbühne geschrieben habe, mit Leuten wie Carl von Ossietzky und Kurt Tucholsky bekannt sei und große, ehrgeizige Pläne habe. Und sie war stolz, dass er sich für sie interessierte. Endlich einer, der sie ernst nahm, der sie nach ihrer Arbeit in der Schule fragte, nach ihren Lieblingsautoren, ein Verehrer, der sie bewunderte, weil sie Oscar Wilde und Baudelaire im Original las.
Er hatte sie eingeladen, ihn in Kabaretts zu begleiten, und schließlich auch zu Hause in der Kaiserallee besucht – argwöhnisch beäugt von ihrer Mutter, die gar nicht begeistert war, dass schon wieder so ein Theaterheini ins Haus hineingeschneit kam. Nein, dieser Georg Hugo Will war für Josephine von Losch alles andere als ein Traumschwiegersohn. Weder war er wohlhabend, noch stammte er aus einer Familie von Stand. Immerhin hatte er Manieren und konnte gut reden. Andererseits war der Witwe klar, dass sie im Falle ihrer Ältesten nicht so wählerisch sein durfte. Elisabeth war einfach keine Schönheit, und es wurde Zeit, dass sie unter die Haube kam. Es war sowieso schon etwas peinlich, dass die jüngere Schwester vor der älteren geheiratet hatte.
Und so stellte Josephine von Losch im Laufe der folgenden Wochen ihre Bedenken mehr und mehr zurück und ermutigte Liesel am Ende sogar, den Bund der Ehe einzugehen. Der Bräutigam hätte es vorgezogen, die Trauung auf das Standesamt zu beschränken, aber die Schwiegermutter bestand auf einer feierlicheren Zeremonie in geistlichem Glanz, die wie bei Marlene in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche stattfinden sollte. Das war sie ihrer Familie, zu der ja auch der angeheiratete Zweig derer von Losch gehörte, einfach schuldig. Auch Liesel kam es entgegen, dass ihre Ehe den Segen der Kirche erhielt. Sie war schließlich religiös, betete jeden Abend vor dem Schlafengehen.
Trotzdem hatte ihr diese Trauung schlaflose Nächte bereitet. Denn mit der Heirat war ein großes Opfer verbunden: Sie musste ihren Beruf aufgeben, Abschied vom Schuldienst, von ihren Schülern nehmen. Georg erwartete von ihr wie die meisten Ehemänner der damaligen Zeit, dass sie ganz für ihn da war – natürlich auch für künftige Kinder. Und ihre Mutter empfand diese Erwartung nicht als ungebührlich, sondern als durchaus schicklich. Sie profitierte auch davon. Denn Elisabeth sollte sich mit ihrem Mann in der vierten Etage der Kaiserallee 135 einrichten und, nunmehr frei von schulischen Verpflichtungen, ihrer Mutter als Ausgleich für die mietfreie Wohnung im Haushalt zur Seite stehen.
Das waren Aussichten, die sie nicht froh stimmten. Voller Bewunderung blickte sie jetzt wieder auf Marlene. Die nämlich hatte mit ihrem Rudi am 26. Januar 1926 einen Ehevertrag geschlossen und sich darin ausdrücklich das Recht auf eigene Erwerbstätigkeit vorbehalten. In dem für damalige Zeiten sehr ungewöhnlichen Vertrag stand sogar, dass alle Einkünfte aus Marlenes Erwerbstätigkeit nur ihr allein zustanden. Das Gleiche galt für alles, was sie in die Ehe eingebracht hatte oder noch erben würde. Rudi hatte nur unter der Bedingung zugestimmt, dass die Vereinbarung keinesfalls bekannt werden durfte. Denn für einen Mann galt es seinerzeit als nicht sehr rühmlich, seiner Gemahlin derartige Rechte und Freiheiten einzuräumen.
Doch so etwas konnte nur Marlene durchboxen, sie selbst hatte einfach nicht die Kraft, ihrem Bräutigam solche Zugeständnisse abzuverlangen. Aber vielleicht würde ja alles noch gut werden, vielleicht bekäme sie bald ein Kind, so einen süßen Fratz wie Marlenes Tochter Maria.
Für Zweifel ist es jetzt zu spät. Der Pastor hält ein Samtkissen mit glänzenden Ringen in der Hand und fordert das Brautpaar auf, sich die Ringe gegenseitig anzustecken. Am Ende beugt sich Georg zu seiner Angetrauten herab und gibt ihr einen Kuss, der mehr der Hauch eines Kusses ist. Segen und Schlussgebet beschließen die Zeremonie. »Großer Gott, wir loben dich.«
Auf die Hochzeit folgten trübe Tage. Elisabeth trauerte ihrer Arbeit als Lehrerin nach; einer Arbeit, die ihrem Leben Sinn gegeben hatte, das Gefühl, selbst auch ein bisschen wertvoll und geachtet zu sein auf dieser Welt. Die Hausarbeit verschaffte ihr keine wirkliche Erfüllung. Zeitweise fühlte sie sich wie im Gefängnis – bewacht und bevormundet von ihrer Mutter und von ihrem Mann. Sie war gar nicht so unglücklich, dass Georg bald nur noch zum Schlafen nach Hause kam. Seine Arbeit als Regisseur und Kulturmanager hielt ihn oft bis weit nach Mitternacht auf Trab. Er inszenierte kleine Komödien, engagierte Schauspieler, Sängerinnen und Tänzerinnen, verhandelte mit Musikern, entwarf neue Projekte – bald nicht nur für den Kellerclub im Theater des Westens, sondern auch für die »Tribüne«. In dem Privattheater inszenierten auch namhafte Regisseure wie Erwin Piscator oder Jürgen Fehling, und auf der Bühne waren bisweilen bekannte Gesichter zu sehen – Stars wie Adele Sandrock und Heinrich George zum Beispiel, die hier vor allem in Komödien glänzten. Auch Marlene war schon in der »Tribüne« aufgetreten, in einer Nebenrolle in der Komödie Der Rubikon von Edouard Bourdet. Aber das war im Frühjahr 1926 gewesen, in einer Zeit also, bevor Georg Will dort zu arbeiten begann, der 1933 sogar vorübergehend die Leitung übernehmen sollte. Jetzt machte sie um ihren Schwager lieber einen Bogen. Sie hatte schon im Kellerclub an der Kantstraße keine guten Erfahrungen mit diesem Mann gemacht, der so schnell aufbrauste. So hatte sie denn auch immer etwas anderes vor, wenn Will sie zu einer Vorstellung oder einem gemeinsamen Essen einlud.
Elisabeth litt darunter. Denn sie liebte ihre Schwester – vielleicht sogar mehr als ihren Mann. Und sie verteidigte Marlene, wenn Georg sich abfällig über sie äußerte. Im Übrigen wagte sie es nur sehr selten, ihrem Mann zu widersprechen. Oft genug hatte der ihr zu verstehen gegeben, was er von ihrer Meinung hielt: »Was weißt du denn?! Du hast doch keine Ahnung.«
Damit hatte er sicher nicht unrecht. Denn sie verstand wirklich nicht, nach welchen Gesetzen dieses turbulente Berliner Kulturleben funktionierte. Georg machte ihr aber immer wieder klar, dass es dabei nicht nur um Kunst ging, sondern auch um Geld. Das Dumme war, dass Georgs Projekte oft mehr Geld verschlangen, als sie einbrachten, sodass sie ihre Mutter hin und wieder um einen »kleinen Kredit« für ihren Mann bitten musste – was Josephines Meinung über Georg nicht eben besser machte und Liesel ungeheuer peinlich war. Sie sah sich darum immer häufiger genötigt, Georg gegenüber ihrer Mutter zu verteidigen, obwohl sie oft selbst ihre Zweifel hegte und im Stillen mit Georg haderte. Manchmal wusste sie gar nicht mehr, was sie denken sollte. Dann konnte es vorkommen, dass sie so durcheinander war, dass sie alles falsch machte und dafür auch noch von Georg lautstark gescholten wurde. Nein, sie fühlte sich nicht wohl in ihrer Haut.
Zu den Höhepunkten ihres Lebens zählten die Abende, wenn Georg sie zu seinen Premieren mitnahm. Aber auch da kam sie sich neben den hübschen Schauspielerinnen und Tänzerinnen, die Georg schöne Augen machten, oft klein und hässlich vor. Einfacher war es, wenn Marlene sie einlud. Aber dann war meist auch ihre Mutter dabei, die sie immer flüsternd zurechtwies, etwa weil sie zu gebückt saß oder zu lange klatschte.
Ungestört und mit sich selbst im Reinen war sie nur, wenn sie sich in ihre Bücher versenkte. Und natürlich brachten die Stunden mit ihrer kleinen Nichte Freude in ihren Alltag, wenn Marlene sie wieder einmal bat, sich um Maria zu kümmern. Das Lachen dieses schönen Kindes war ansteckend.
Schließlich wurde Elisabeth selbst schwanger, und alle Sorgen und Kümmernisse traten jetzt hinter der frohen, aber auch etwas bangen Erwartung der Niederkunft zurück.
Am 10. Juni 1928 war es so weit. Liesels Leben hatte endlich wieder einen Mittelpunkt. Sie liebte ihren kleinen Hans-Georg aus vollem Herzen, umsorgte ihn von morgens bis abends, schaukelte ihn in seiner Wiege, und wenn er zu weinen begann, nahm sie ihn sofort auf den Arm und stillte ihn, mochte ihre Mutter sie auch noch so streng zu mehr Zurückhaltung und Regelhaftigkeit ermahnen. Manchmal wagte sie es sogar, die Einmischungsversuche der Hausherrin zurückzuweisen. So gab sie ihrem Sohn beharrlich die Brust, obwohl ihre Mutter energisch für die Flasche plädierte.
Seinen Vater bekam das Kind nicht sehr oft zu sehen. Der war weiter mit wechselnden Kulturprojekten beschäftigt – und vielleicht auch mit wechselnden Frauen. Liesel blieb nicht verborgen, dass seine Hemden manchmal nach einem fremden Parfüm rochen. Aber sie stellte ihn deswegen nicht zur Rede und betrieb auch keine Nachforschungen. Sie war ganz zufrieden mit sich und der Welt, wenn sie mit dem kleinen Hans-Georg allein sein konnte.