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Es war im Frühling des Jahres 1800. Die Brüder, Sylvain und Josef Barona, erreichten etwa zwei Wochen früher als im letzten Frühling, mit ihrer Herde den Eingang zum Pla de Soulcem. Der erste Schnee war sehr früh gefallen, und die Schmelze hatte auch etwas früher eingesetzt. Josef war bereits freudiger Stimmung, denn in einem oder zwei Tagen würden sie ihr Orrys erreichen. Beide hofften, dass die Winterstürme und besonders die Bären, nicht zu viele Schäden angerichtet hatten.

Ihre Sommerbehausung war bei Weitem keine luxuriöse Unterkunft. Es war eine kleine mannshohe Hütte, ein Trockenmauerwerk, an einen Hügel angelehnt, überdacht mit Erdschollen, auf welchem, sich mit den Jahren, eine wilde Vegetation breitgemacht hatte. Der Großvater hatte sie noch errichtet. Eine niedrige Tür, welche im Sommer immer offen stand, damit der Rauch der Feuerstelle entweichen konnte, war die einzige Öffnung. Im hinteren Teil des Orrys hatte Sylvain eine Schlafstätte eingerichtet. Im vorderen Teil, neben dem Eingang befand sich die Feuerstelle. Ein zu recht gesägter Holzklotz diente als Tisch und zwei dreibeinige Höcker, die auch zum Melken der Kühe benutzt wurden, war die gesamte Ausstattung.

Neben dem bewohnten Orrys befand sich noch eine ähnliche, nur etwas kleinere Konstruktion. Die Überdachung war so niedrig, dass man sich nur gebückt darin bewegen konnte. In diesem Raum hatten schon viele von diesen schmackhaften Käsen gereift und auch in diesem Sommer sollten noch Einige hinzukommen.

Tagsüber, wenn Josef zwei- oder dreimal in der Woche, Butter und Milch hinunter ins Tal brachte, überwachte Sylvain die Tiere, die frei auf den herumliegenden Grasflächen weideten. An den anderen Tagen war Josef bemüht, mehr oder weniger nützliche Arbeiten zu verrichten. Am Spätnachmittag brachte Sylvain, unterstützt von ihrem Hund Rex, die Herde zurück zum Melken in eine Art Park unweit des Orrys. Die Tiere blieben dann dort eingezäunt bis zum nächsten Morgen.

Es waren nun schon fast drei Wochen vergangen seitdem die beiden Brüder Barona, ihr Sommerlager dort oben bezogen hatten. Die wenigen Reparaturen, am und um ihr Orrys, waren in diesem Jahr nun auch abgeschlossen. Josef, der fast jeden Tag hinunter ins Tal spazierte, konnte dann und wann eine kurze Pause einlegen. Er konnte zu Hause etwas plaudern und beim Aufstieg ein wenig Abwegs herum schnüffeln.

Es gab da ein wunderschöner Ort, wo er sich schon früher manchmal ausgeruht hatte. Eine bezaubernde Ecke inmitten eines Buchenwaldes. Hier und da ragten unregelmäßige, erratische Felsblöcke aus der Walderde. Einige strenge Fichten erhoben sich majestätisch um ein natürliches Wasserbecken. Ein kleiner Bach, in welchem, von den Bergen herab, ein glasklares und kühles Wasser plätscherte, hatte diesen im Laufe der Zeit gegraben. Hier war der Schatten zart, mit goldenen Strahlen, die überall durch das Blätterdach hindurch stachen. Es herrschte eine tiefe Stille, nur gestört vom Plätschern des Bächleins, dem gleiten einer Echse im Laub und dem Flattern eines Vogels in den Zweigen.

An jenem Nachmittag breitete Josef seine schlichte Wegmahlzeit auf einem jungen Farn aus: eine Scheibe Brot, das seine Mutter am frühen Morgen frisch gebacken hatte und ein Stück Käse. Er stärkte sich mit Genuss, doch er war auf irgendeine Art erregt. Er hatte ein Vorgefühl, als würde dieser Tag einer der schönsten seines Lebens sein, als würde ein unbekanntes, glückliches Ereignis ihn erwarten.

Als er seinen Hunger gestillt hatte, packte er die Überreste in seinen Tragekorb. Dann streckte er sich ins weiche Laub, neben einer jungen Buche, und wäre es auch nur für einen kurzen Augenblick. Durch das satte Grün ihrer Blätter verfolgte er die kleinen weißen Wölkchen, die am Himmel dahin zogen.

Josef musste wohl kurz eingeschlafen sein. Er merkte es an den Schatten, die sich, wenn auch nur leicht, verschoben hatten, auch fühlte er sich ein wenig benommen. Ohne den Kopf zu bewegen, ließ er seine Blicke um sich herum schweifen. Kein unbekanntes oder auffälliges Geräusch war zu hören. Doch dann, als er den Blick, dem Bächlein entlang, weiter nach oben richtete, sah er plötzlich eine außergewöhnliche Gestalt, und dass kaum dreißig Schritte höher weiter dem Hang entlang. Im ersten Augenblick konnte er dieses Etwas nicht zuordnen. War es ein Mensch oder ein Tier? Schnell wurde ihm jedoch klar, dass es nur ein Mensch sein konnte, so unglaublich, wie es ihm auch schien. Die Tierwelt dieser Gegend kannte Josef so gut wie jeder Jäger.

In einer vorsichtigen Bewegung, langsam und ohne das geringste Geräusch zu verursachen, drehte er sich in eine Bauchlage, um so, diese ungewöhnliche Gestalt genauer beobachten zu können. Es war wirklich ein Mensch.

Angelehnt an einem Felsblock, welcher zu dem Zeitpunkt gerade in der prallen Sonne lag, blickte sie hinaus über das grüne Tal, hinüber, zu dem dahinter liegenden Bergmassiv Montcalm. Zunächst konnte Josef nur die Beine erkennen, denn ein sehr heller und wilder Haarwuchs verdeckte fast den ganzen Körper. Er hatte in seinem jungen Leben noch nie eine Person mit solch langem und vor allem solch blondem Haar gesehen. War es nun ein Mann oder eine Frau? Er war sich immer noch nicht so ganz sicher. Dann plötzlich, in einer energischen Bewegung, warf sie mit beiden Händen gleichzeitig, ihre üppige Mähne über ihre Schultern. In seinem Alter hatte Josef noch nie andere Frauen oder gar Mädchen in seinem Alter gesehen, als die, eingehüllt in einem Haufen Stoffe. Er glaubte kaum seinen Augen und sein Herz begann zu rasen. Ob man es wahrhaben will oder nicht, der Instinkt des Menschen lässt sich nicht durch Gebote oder Verbote beeinflussen. Das Wort „nackt", war zu jener Zeit noch aus dem Wortschatz der Jugend verbannt. Was sich unter den schweren Roben verbarg, war ein streng gehütetes Geheimnis der Erwachsenen. Bis zu diesem Tag hatte Josef noch immer geglaubt, dass diese Wölbungen in den Korsagen der Frauen, irgendeine Verzierung sei. „Wie konnte ich nur so blöde sein?", murmelte er zu sich selbst.

Noch eine Weile schaute sie unbeweglich in die Ferne, dann richtete sie sich auf und entferne sich. Josef schaute ihr noch nach, sah, wie ihr blonder Schopf sich über dem Unterholz bewegte, bis sie schließlich ganz in den Blättern verschwand.

Es vergingen noch einige Minuten, bevor der Junge seine Gedanken wieder mehr oder weniger geordnet hatte. Die Erscheinung der Heiligen Jungfrau hätte ihn wohl kaum mehr aus dem Lot gebracht.

Den ganzen Weg entlang den er noch zurücklegen musste bis zu ihrem Lager, stellte er sich die unglaublichsten Fragen. Es gelang ihm immer noch nicht wirklich zu begreifen, was ihm da widerfahren war. Dieses unwahrscheinliche, unbekannte Gefühl, das seinen ganzen Körper durchflogen hatte, als sie ihr Haar über ihre Schultern warf. Er verstand auch nicht wieso und woher eine absolut unbekleidete Frau mit blonden Haaren hier vor ihm erschienen war. In dieser Region Frankreichs gab es nicht eine einzige Person mit solch hellen Haaren, hier waren alle dunkelhaarig. Sein erster Gedanke war, es könnte eine Hexe gewesen sein. Er stöberte in seinen Erinnerungen herum nach Merkmalen, die er über Hexen gehört oder gesehen hatte, doch er fand nichts, was mit dem Aussehen dieser Frau übereinstimmte. Er war sich sicher, eine Hexe konnte es nicht sein. Aber, wer oder was sonst? Vielleicht eine wilde Frau? Eine wilde Frau …, er hatte noch nie gehöht, dass so etwas überhaupt existierte.

Der Tag ging bereits zu Ende. Sylvain war schon dabei die Tiere zum Melken zusammenzutreiben als Josef endlich mit seinem Tragekorb auf dem Rücken und einem guten Stück Feuerholz auf der Schulter in Sichtweite kam. Ein wenig außer Atem warf er das Holz neben dem Eingang der Hütte ab und entledigte sich dem Tragekorb. Sylvain rief ihm schon von Weitem zu:

„Du bist spät dran heute, ich fing schon an, mir Sorgen zu machen!“

„Ich habe wohl wieder zu lange mit Großvater diskutiert.“ Erwiderte Josef ohne seine Beschäftigung zu unterbrechen.

Doch als sein Bruder näherkam, merkte dieser sofort am Verhalten seines Gehilfen, dass doch etwas Besonderes vorgefallen sein musste.

„Wenn du dein Gesicht sehen könntest!“, lächelte Sylvain. „Was ist passiert?“

Josef hatte nicht geglaubt, dass er immer noch nicht sein gewohntes Auftreten gefunden hatte, und improvisierte eiligst eine Geschichte, doch sein Bruder blieb skeptisch, er glaubte Josef nicht so ganz. Der Kleine schien ihm irgendetwas zu verheimlichen.

„Oh, nichts besonders. Es war nur ein Bär ... ja, es war ein Bär, der mich einige Zeit verfolgt hat. Du kannst dir leicht vorstellen, dass ich etwas verstört bin.“

„Ein Bär?“, erwidert Sylvain erstaunt. „Ich an deiner Stelle hätte den Holzklotz abgeworfen, sogar den Tragekorb auch noch, und wäre gelaufen so schnell mich meine Füße getragen hätten!“

„So schlimm war es nun auch wieder nicht", meinte Josef. „Das Holz habe ich ja erst später aufgehoben …, außerdem war es ja auch nur ein junger Bär.“

Er bemerkte doch nun, dass sein Bruder ihm nicht den Glauben schenkte, den er erhofft hatte, und versuchte so schnell wie möglich das Thema abzuhaken.

„Schau her Bruder, die Mutter hat heute in der Frühe frisches Brot gebacken, ich konnte nicht widerstehen, mir unterwegs ein Stück abzuschneiden. Du solltest das Gleiche machen. Ich fange dann schon mal mit dem melken an.“

Ohne ein weiteres Wort zu sagen, griff er einen Eimer, seinen Melkschemel und verschwand zwischen den Kühen. „Du mein Freund, dachte Sylvain, hast wieder irgendetwas angestellt. Die Butter ist ganz bestimmt wieder zu spät, oder in einem traurigen Zustand, zu Hause angekommen, und ich glaube eher, dass es der Vater war, der dir die Läuse geschüttelt hat.“

Der Vorfall wurde nicht mehr erwähnt, nicht im Laufe des Abends und auch nicht am nächsten Morgen. Nur als die üblichen Arbeiten des Vormittags erledigt waren. Als Josef sich auf den Weg ins Tal aufmachte und Sylvain sich langsam mit der Herde entfernte, rief dieser noch in einem etwas ironischen Ton:

„Komm nicht zu spät zurück, und nimm dich in acht vor den Bären, besonders vor den Kleinen!“

Josef hatte die Anspielung verstanden und erwiderte nur mit einem beistimmenden Handzeichen, bevor er den Hang hinunter in Richtung Wald davon eilte.

An diesem, und an den folgenden Tagen suchte Josef immer nach neuen Erklärungen um seine Eile zu rechtfertigen. Er nahm sich kaum die Zeit einen Happen zu sich zu nehmen, oder ausgedehnte Gespräche zu führen. Nur das Wichtigste wurde besprochen, dann verschwand er wieder.

„Heute Nacht hat ein Tier den Zaun durchbrochen und das muss ich noch vor der Rückkehr der Herde reparieren.“

Oder er hatte noch zu roden, Brennholz herbeizuschaffen, oder sonstige dringende Arbeiten zu erledigen. Er versuchte immer und überall Zeit zu gewinnen, um so schnell wie möglich zu seinem Versteck im Wald zu gelangen. Er hoffte jeden Tag, dass sich sein Traum erneuern würde, doch nichts geschah. Er begann schon, an der Realität seiner Vision zu zweifeln. Nach und nach schwand schon sein Interesse, sodass bald der Alltag wieder seine Rechte zurückgewann.

Ungefähr drei Wochen waren vergangen, seitdem Josef die Frau gesehen hatte und nun war dieses Abenteuer weitgehend in den Hintergrund seiner Beschäftigungen gerückt.

An diesem Tag hatte er dem Großvater seinen Plan, die Umzäunung um einige Schritte zu erweitern, in allen Details unterbreitet. Der alte Mann fühlte sich geschmeichelt, dass der Junge ihn zurate gezogen hatte, und gab ihm sogar noch einige Ratschläge mit auf den Weg.

Nach dieser Unterhaltung begab sich Josef nun wieder auf den Weg zurück in die Berge. Seine Gedanken waren voll beschäftigt mit neuen Ideen und er hatte, an diesem Nachmittag, nicht einen Augenblick mehr an diese Frau gedacht. Diese Geschichte schien nun endgültig der Vergangenheit anzugehören. Manchmal dachte er noch daran, aber immer weniger. Doch dann plötzlich, in einem Moment, indem er überhaupt nicht daran dachte, als er an einem Busch vorbei schritt, wurde er brutal aus seinen Gedanken gerissen. Sie war da, nur einige Schritte von ihm entfernt. Sie war unter einem hervor stehenden Felsen gebeugt und erfrischte sich. Josef konnte sie nur den Moment eines erschrockenen Blickes sehen, denn mit einem Sprung verschwand sie im Unterholz.

Josef hatte nun die Gewissheit, dass er nicht geträumt hatte und das die Frau sich immer noch in der Gegend aufhielt. Es war also doch noch nicht alles vorbei. In seinen Gedanken begann schon sein Zaun zu zerfallen, bevor er noch nicht einmal begonnen hatte, ihn aufzubauen.

Sie schien so scheu wie ein wildes Reh. Er müsste, so dachte er, mit äußerster Vorsicht und Geduld vorgehen, um vielleicht ihr Vertrauen zu gewinnen. In wenigen Augenblicken hatte er einen Plan. Schon an diesem Nachmittag machte er sich die Mühe bis hinauf zu dem Felsen zu klettern, wo er sie zum ersten Mahle gesehen hatte. Er brauchte nicht lange zu überlegen. Die frischen Fußabtritte im feuchten Lehm, am Rande des Bächleins, verrieten ihm das die Frau mit ihren bloßen Füßen vielleicht noch am selben Tag dort gewesen sein musste. Aus den Fährten, mehr oder weniger deutlich, die er dort lesen konnte, zog er die Gewissheit, dass sie sich regelmäßig an diesem Ort aufhielt. Zu welchem Zeitpunkt des Tages musste er nun noch herausfinden. Jedenfalls hatte er sie am Nachmittag in der ganzen Zeit nicht mehr dort gesehen.

In dem Moment, als er seinen Weg fortsetzen wollte, kam ihm die Idee: Warum nicht jetzt schon etwas Nahrung auf dem Felsen zurückzulassen. Es wäre ja möglich, dass sie noch später am Nachmittag dorthin käme. Gedacht getan, er legte kurzerhand etwas Brot und Käse auf den Felsen und ging dann seines Weges. Er beschloss niemanden von seiner neuen Begegnung zu erzählen, sogar sein Bruder dürfte vorerst nichts erfahren.

Am nächsten Morgen hatte er Eile das Resultat seines Experimentes zu erfahren. Schon von Weitem stellte er fest, dass Brot und Käse verschwunden waren. Nach Kurzem überlegen musste er sich eingestehen, dass es bei Weitem nicht sicher war, wer die Nahrung verschlungen hatte. Doch Josef lies sich nicht so leicht enttäuschen. Jedes Mal wenn er vorbeikam, legte er etwas Nahrung auf den Felsen, und jedes Mal war alles verschwunden. Doch die Frau sah er nie.

Schließlich hatte er dieses unsichere Spielchen satt und beschloss mit List vorzugehen. Am ersten Tag, nachdem er am Vormittag Brot und Käse ausgelegt hatte, verkroch er sich in seinem Versteck unweit des Felsens. Er verblieb, solange es ihm möglich war, ohne dass er zu spät mit seiner Lieferung zu Hause ankam. Am nächsten Tag ging er gleichermaßen vor, nur am Nachmittag.

Josef war außer sich, alle seine Versuche scheiterten. Doch womit er nicht gerechnet hatte, war: Diejenige, auf die er es abgesehen hatte, war genau so schlau wie er selbst, wenn nicht sogar noch aufgeweckter. Seit einigen Tagen bereits kannte sie alle seine Bewegungen und Zeiten seiner Anwesenheit. Wehrend er in seinem Versteck den Felsbrocken ununterbrochen anstarrte wurde der Beobachter ohne es zu bemerken zum Beobachteten. Er hatte nicht die geringste Ahnung, dass nur einige Meter genau über ihm, ein Paar neugierige Augen alle seine Gesten genau verfolgten. Nur wenige Augenblicke, nachdem er gegangen war, waren auch seine Gaben vom Felsen verschwanden.

Er war vielleicht erst ein Lausbub, aber er war schon genauso hartnäckig wie ein ausgewachsener „Mountagnol" und dachte eine Art Mitteilung könnte eine bessere Lösung sein. Dann wieder, dachte er, wen sie wirklich eine wilde Frau war, dann könnte sie ja wahrscheinlich nicht lesen, oder gar seine Sprache nicht verstehen. Außerdem konnte er gar nicht schreiben. Er fand allerdings das die Idee an sich, eine der Besten war, die ihm je eingefallen war. Nach einigem Grübeln fand er die Lösung. Er würde ganz einfach ein paar Blumen zu der Nahrung legen, so brauchte er nicht zu schreiben, und sie nicht zu lesen. Gleichzeitig würde er feststellen, ob es ein Mensch oder ein Tier war. Denn ein Tier, so meinte er, würde die Blumen nicht anrühren.

Am nächsten Morgen, sobald er sich ins Tal aufmachte, begann er damit einige Blumen zu pflücken. Er achtete darauf möglichst Verschiedene und, seines Erachtens nach, die Schönsten zu finden. Mit einigen Grashalmen band er einen kleinen Strauss und legte diesen mit etwas Nahrung auf den gewohnten Stein. Dann setzte er seinen Weg ins Tal fort, um doch seine Aufgabe pünktlich zu erledigen. Die Butter und die Milch in seinem Korb konnten nicht warten.

Nur knappe drei Stunden später war Josef wieder am kleinen Teich angekommen. Er hatte den Felsen, der noch etwas höher im Wald lag, noch nicht erreicht, sah er schon von Weitem, dass die Nahrung und auch die Blumen verschwunden waren. Nachdem er sich vergewissert hatte das die Blumen nicht, vielleicht von einem Tier verstreut herum lagen, war er überzeugt. Es war die Frau, die immer wieder seine Gaben zu sich genommen hatte. Doch als er damit beschäftigt war die Ration Nahrung zu erneuern, überfiel ihn plötzlich ein unglaubliches Angstgefühl. Seine Gedanken erfüllten sich schlagartig mit Visionen des Grauens. Zu keinem Zeitpunkt hatte er bis jetzt daran gedacht, dass diese Kreatur, die er nur bewundert hatte, für ihn gefährlich werden könnte. Urplötzlich glaubte er zu sehen, wie sie aus dem Gebüsch hervor sprang und sich auf ihn stürzte. In panischer Angst begann er, zu laufen. Ohne sich auch nur ein Mal umzudrehen, lief er bis zum Rande des Waldes und noch weiter hinaus, bis er sich erschöpft und außer Atem ins Gras fallen lies.

Jedoch seine Leidenschaft und seine guten Gedanken gewannen rasch wieder die Oberhand. Denn, überlegte er, wenn sie die Absicht hätte, mich zu töten, dann hätte sie es seit Langem getan. Sie hätte mich zu jeder Zeit überfallen können.

An diesem Abend war es Josef nicht möglich den Konflikt, der in ihm wütete, vor seinem Bruder zu verbergen.

„Schon wieder ein Bär?“, fragte Sylvain mit einem ironischen Grinsen.

„Du hast mir nicht geglaubt … oder?“

„Ehrlich gesagt ..., kein Wort.“

Sylvain war davon überzeugt, dass dieses merkwürdige Etwas war, was es auch sein mochte, mit seinen Höhen und Tiefen, das seinen jungen Bruder seit Wochen in Aufregung hielt. Vielleicht steckte ja auch nur eine junge Freundin hinter der ganzen Geschichte. Nun wollte er endlich Klarheit schaffen.

„Wenn wir mal in Ruhe über dein Problem sprechen würden … ganz unter uns? Schließlich bin ich dein Bruder. Ich bin doch schon einige Jahre älter als du und habe auch schon vieles erlebt. Ich könnte dir vielleicht einige Ratschläge geben. Was meinst du?“

„Ich möchte nicht darüber reden.“

„Du machst einen Fehler, kleiner Bruder. Sprechen wir darüber. Du kannst mir vertrauen, ich werde niemanden etwas davon sagen, es bleibt alles unter uns. Ich glaube nicht, dass ich dich schon einmal verraten habe …“

„Ja ich weiß, aber dieses Mal ist es nicht dasselbe. Ich kann nicht mit dir darüber reden, nicht mit dir und nicht mit jemand anderen.“

„Ist es denn wirklich so ernst?“

„Nein, es ist nicht, dass es so schlimm wäre, nur es ist ein Geheimnis. Nein, ich werde schon selbst damit fertig werden.“

„Gut, wenn du meinst, dann sorge, dass du selbst damit fertig wirst. Aber … sag mir wenigstens, ob sie hübsch ist.“

„Von wem sprichst du?“

„Ach Josef, spiel' nicht den Unschuldigen. Ich meine deine Geliebte!“

„Ah! Daher weht der Wind. Glaube nur ja nicht, dass du mir mein Geheimnis so einfach entreißen kannst. So geht das nicht! Wenn du etwas erfahren willst, dann musst du schon schwören, auf … ich weiß nicht … auf deinen eigenen Kopf zum Beispiel.“

„Ho! Ho! Du willst es aber wissen. Hat man dir nicht gelernt das Schwören eine Todsünde ist?“

„Schon, aber der Pfarrer hat uns auch gesagt, dass es nur eine Todsünde ist, wenn man vorhat, sein Versprechen nicht zu halten, oder nicht hält.“

„Wenn es so ist, wie du sagst, dann gut. Ich schwöre, dass ich niemanden etwas sage.“

„Niemals?“

„Niemals!“

„So ist es gut.“

„Also kleiner Bruder, ich höre. Es ist doch so, wie ich dachte? Es ist ein Mädel, das dich in diesen Zustand versetzt hat seit ein paar Wochen; oder doch nicht?“

Und Josef fing an zu erzählen; er vertraute seinem Bruder schließlich sein Geheimnis an, er erzählte die ganze Geschichte vom ersten Tag an. Sylvain hatte einige Schwierigkeiten eine so unglaubliche Geschichte zu verarbeiten. Doch er glaubte seinem Bruder, denn Josef hätte niemals gewagt eine solche Zeremonie, mit Schwur und allem drum und dann anzuwenden.

„Und du hast diese Frau nur diese zweimal gesehen?“

„Genau so ist es.“

„Hast du zumindest darüber nachgedacht, wie gefährlich dein Spielchen ist?“

„Ja schon, aber …"

„Was, aber?“

„Ich glaube nicht, dass diese Frau gefährlich ist. Ich habe mir überlegt, wenn sie gefährlich wäre, dann hätte sie mich ja schon längst überfallen können.“

„Und wie denkst du, dass es nun weiter gehen soll? Wie willst du nun vorgehen? Ich weiß nicht ob ich dir erlauben kann mehr zu unternehmen. Man sollte eher die Gendarmen davon benachrichtigen. Gott weiß, wo diese Frau herkommt. Es ist vielleicht eine Geistesgestörte, die irgendwo aus einer Anstalt ausgebrochen ist. Das ist ein Geheimnis, das man leider nicht so einfach behalten kann. Sie könnte gefährlich sein und sich auch an andere Personen vergreifen. Eins steht fest, es ist nicht normal, dass eine Frau in dem Zustand in den Wäldern herumläuft.“

„Und was wird man mit ihr machen, wenn sie nicht gefährlich ist? Hast du dein Versprechen schon vergessen? Wir haben nicht das Recht jemanden davon zu erzählen; es ist unser Geheimnis.“

„Also gut. Es ist nun doch eher an mir mich der Sache anzunehmen, das ist nichts für dich, du bist noch zu jung. Du hast schon Sachen gesehen …“.

„Und …? Wenn ich auch gesehen habe, was ich, deiner Meinung nach, nicht hätte sehen dürfen, dann ist es wohl nicht mehr notwendig, ein Drama daraus zu machen. Ich bin fast am Ziel. Nur solltest du im Moment nichts unternehmen. Lass mich das machen.“

„Glaubst du? Wenn sie so ist, wie du sagst …“.

„Nackt?“

„Halt den Mund, kleiner Knirps! Trau dich nur nicht dieses Wort im Beisein einer erwachsenen Person auszusprechen; Vater würde dich umbringen.“

„Ich weiß, aber du bist ja mein großer Bruder, und du hast gesagt, dass wir über alles reden können.“

„Unter uns, einverstanden, aber du bringst mich mit deinem Blödsinn in eine unmögliche Situation. Wenn Vater und Mutter unglücklicherweise davon erfahren was sich hier oben abspielt, dann uns Gnade.“

„Sie können nichts erfahren, es ist unser Geheimnis. Denk daran, großer Bruder!“

Die beiden unterhielten sich noch bis tief in die Nacht hinein. Es gelang Josef am Ende seinen Bruder davon zu überzeugen, ihn nach seiner Idee handeln zu lassen. Seiner Ansicht nach, würde es genügen noch etwas Mut und etwas Geduld, vielleicht sogar viel Geduld, zu haben. Josef war davon überzeugt, dass wenn zu diesem Zeitpunkt eine andere Person sich einmischen würde, könnte dies die ganze Operation zum Scheitern bringen. Er gab zu, dass er sehr erschüttert gewesen sei, als er die Frau ganz ohne Kleidung zum ersten Mahl gesehen hat. Er meinte, das wäre wohl nicht das Einzige gewesen, was ihn so beeindruckt habe. Er wusste nur nicht genau, was es eigentlich gewesen war.

Die beiden teilten sich die paar Stunden Wache dieser kurzen Nacht. Doch trotz der Müdigkeit die anfing sich bemerkbar zu machen, konnte weder der Eine noch der Andere einschlafen.

Seit der Flucht vor seinen Wahnbildern am Vortag, selbst wenn er diese nun eher als weit übertrieben ansah, fühlte er sich doch nicht mehr ganz so mutig wie vorher. Das leiseste Knistern im Gebüsch lies in erregt aufhorchen; hier und da drehte er sich blitzschnell um, er hatte immer wieder den Eindruck, verfolgt zu werden. Trotz allem war er fest, entschlossen sein Vorhaben nicht aufzugeben.

Am Nachmittag, auf seinem Weg zurück aus dem Tal, stieg er wie gewöhnlich hinauf zum Felsblock um frische Nahrung und einen Blumenstrauß zu hinterlassen. Da er den Namen der Frau nicht kannte, wenn sie denn einen Namen hatte, überlegte er, wie er sie wohl nennen könnte. Er fand „Bloundino“, angepasst, das klingt gut, dachte er.

Er beobachtete das Unterholz um ihn herum, und mit einer etwas unsicheren Stimme wagte er einen Versuch.

„Hallo! ..., Hallo! ..., Bloundino!“

Dann horchte er wieder einen Augenblick. Doch nichts geschah. Keine Menschenseele schien sich in der Gegend aufzuhalten. Außer dem endlosen Geplätscher des Bächleins, dem Rauschen des Windes in den Ästen und dem Zwitschern der Vögel, war nichts zu hören. So machte er dann einen neuen Versuch sich bemerkbar zu machen.

„Heio! ..., Heio! ..., Bloundino, ich habe zu essen gebracht!“

Dann, während er noch da stand und horchte, bewegte sich plötzlich ein Strauch, kaum vier oder fünf Schritte von ihm entfernt. Josef erstarrte. Er sah etwas wie ein Büschel trockenes Gras, welcher sich langsam aus den grünen Blättern hervorhob. Sie stand da, unbeweglich und ohne ein Wort oder Geräusch von sich zu geben. Josef bemerkte nicht den geringsten Ausdruck von Aggressivität in ihrer Haltung. Er fühlte sich trotzdem nicht besonders wohl in seiner Haut, seine Hände zitterten wie die eines alten Mannes und er hatte den Eindruck, seine Haare stünden zu Berge. Selbst wenn jetzt der Abstand zu ihr bedeutend kleiner war als das erste Mahl, konnte er keine Details erkennen. Das Gestrüpp verbarg den unteren Teil ihres Körpers bis zur Taille. Alles was er sehen konnte schien wie eine Vogelscheuche ohne Arme, die man dort inmitten des Gestrüpps aufgestellt hätte. Er sah nur ihre Augen, die durch ihr üppiges zerzaustes Haar hindurch funkelten.

Eine Zeit lang standen sie sich so gegenüber, und beobachteten sich gegenseitig. Dann faste sich Josef ein Herz und stammelte in seinem Dialekt, indem er zögernd mit der Hand winkte:

„Komm …, hab keine Angst …, hab keine Angst, komm …“

Die Bloundino zeigte sich doch sehr vorsichtig und bewegte sich nur einen Schritt vorwärts, während Josef vorsichtshalber einen Schritt rückwärts machte. Er fürchtete trotz allem, sie könnte plötzlich hervor springen und über ihn herfallen. Was oder wie es auch war mit ihrem Gegenseitigen vor und rückwärts, nach einiger Zeit war sie am Felsen angekommen und Josef stand nun einige Schritte tiefer im Gebüsch. Um den Felsen herum wo das Bächlein floss war die Vegetation weit nicht so üppig und Josef konnte sie nun in ihrer vollen Pracht bewundern. Sie kann nur eine wilde Frau sein, so wie ich glaubte von Anfang an, dachte er.

Am Felsen angekommen hatte sie, genau wie das erste Mal, ihr volles langes Haar über ihre Schultern geworfen. Josef war in Ekstase, doch er beobachtete ihre Statur mit ängstlichen Gefühlen. Sie könnte mich erdrücken wie eine Laus, kam ihm plötzlich wieder in den Sinn. Sie hatte wirklich eine Statur die eine derartige Überlegung rechtfertigte. Insoweit Josef in der Lage war dies abzuschätzen, war sie mindestens einen Meter achtzig groß. Ihre Beine waren lang und kräftig, ihre Arme muskulös und ihre Haut war braun und wie sonnengegerbt. Um dieses Aussehen zu erreichen, musste sie schon mehrere Jahre lang ohne Kleidung Sonne und Witterung getrotzt haben. Ihre Finger und Fußnägel waren lang, spitz und verbogen, irgendwie krallen ähnlich. Jetzt, wo sie ihr Haar geöffnet hatte, konnte Josef auch ihr Gesichtsausdruck näher betrachten. Es schien ihm, dass ihre Züge nicht die eines bösen Menschen sein konnten, sondern reflektierten eher Gutmütigkeit und Sanftmut. Sie hatte große, glänzende Augen, und ihre Zähne waren dunkel und grünlich verfärbt von den Säften der Vegetabilien, welche wahrscheinlich seit Langem einen großen Bestandteil ihrer Nahrung war.

Josef verfolge doch die Evolution seines Unternehmens mit ein wenig Stolz. Noch ehe sie die Nahrungsmittel in Anspruch nahm sie sein Sträußchen in die Hand und mit einem Lächeln genoss sie mit einem tiefen Atemzug den Duft der Blüten. Seiner Folgerung nach war bestimmt sein kleines, wahrscheinlich für Andere unscheinbares Präsent, der Grund, dass sie sich ihm endlich genähert hatte, und dass sie sogar seine Nachricht verstanden hatte. Seine Nähe schien sie nicht mehr zu irritieren. Sie aß alles dort an Ort und Stelle. Nachdem sie noch einen Schluck Wasser aus dem Bächlein getrunken hatte, nahm sie den Strauss, warf noch mit einem Lächeln einen Blick in Richtung ihres Beobachters. Dann, ohne ein Wort zu sagen, huschte sie davon und verschwand im Gebüsch.

An diesem Nachmittag lief Josef wieder, so schnell er konnte, doch dieses Mal war es nicht mehr die Angst, die ihn verfolgte, sondern die Freude. Die Eile seinem Bruder die freudige Nachricht zu überbringen das kein Grund mehr bestand noch Angst vor dieser Frau zu haben. Er hatte es geschafft, besser gesagt, fast geschafft, denn er war entschlossen, es nicht bei diesem Resultat zu lassen.

Am Tag danach bat er seine Mutter um Erlaubnis, einen Strauss Blumen aus dem Garten mitzunehmen. Es würde seinem Bruder Freude machen, vorspiegelte er, etwas von zu Hause zu sehen, er der den ganzen Sommer allein dort oben in den Bergen weilte.

„So mein Junge, dein Korb ist bereit.“ Sagte sie. „Und gut gefüllt heute. Ich habe euch einige Kartoffeln und frisches Gemüse aus dem Garten und eine Scheibe geräucherten Schinken hinzugetan, so könnt ihr euch eine gute Suppe machen.“

„Ja, danke Mama, und auch noch danke für die Blumen!“ Sagt er noch, während er seinen Tragkorb überzog. Und schon stand er auf der Türschwelle.

„Du hast es aber wieder eilig heute.“

„Ja, ich habe noch Einiges zu tun da oben.“ Erwiderte er, dann entfernte er sich eiligst.

Josef hatte sich vorgenommen, folgendermaßen vorzugehen: Während sie mit dem Verschlingen ihrer Mahlzeit beschäftigt wäre, wollte er ein paar Schritte näher an sie herantreten. Er wollte nichts überstürzen, denn sie sollte sich auf keinen Fall bedrängt fühlen. Er hatte wieder seinen Plan sorgfältig vorbereitet und keinen Augenblick damit gerechnet, dass ihn eine Überraschung erwartete. Kaum hatte er damit begonnen seine Schätze auszubreiten, merkte er, dass sie plötzlich, nur noch einige Schritte hinter ihm stand. Sie war so geräuschlos hinter dem Felsen hervor gekommen, dass er erschrocken hochfuhr. Nur einen Augenblick war er wie versteinert, dann griff er hastig nach den Blumen und reichte sie in ihre Richtung. Sie lächelte.

„Sie sind schön.“ Sagte sie auf gut französisch.

Weil sie bis dahin noch kein Wort gesprochen hatte, hatte Josef schon gedacht sie sei stumm. Taub eher nicht, denn sie hatte ja am Vortage seinen Ruf gehört. Er verspürte wie eine große Milde in ihrer Stimme, die irgendwie seltsam heiser klang. Außerdem verstand er nicht, was sie sagte, denn er erkannte ihre Sprache nicht, und für die Bloundino durfte es ebenso sein. Dies zum Trotz, man sprach.

„Sie … sie sind aus dem Garten.“ Sammelte Josef. „Sie sind schön …, oder?“

„Wie heißt du?" Fragte die Bloundino.

„Ja, sie sind schön … Wenn du willst, bringe ich dir noch Andere in ein paar Tage.“

„Du scheinst mir ein guter Junge zu sein. Wie heißt du?“

Josef verstand kein Wort von dem, was sie sagte, und begann damit einen Bissen Brot mit einer Scheibe Käse zu belegen.

„So …, lass es dir schmecken. Das ist es, was du möchtest, du hasst bestimmt wieder Hunger?“

Das Gespräch war nicht besonders reichhaltig, dies zum Trotz, neigte sich Josefs Proviant nach und nach, dem „nichts mehr“ entgegen. Nachdem er seinen Tragkorb eingeräumt und wieder geschultert hatte, zögerte er einen Augenblick, doch dann nahm er behutsam Bloundinos Hand. Sie lächelte.

„Komm.“ Sagte er. „Ich zeige dir, wo wir sind, mein Bruder und ich. Du brauchst keine Angst zu haben, Sylvain, das ist mein großer Bruder, er weiß alles, ich habe ihm schon von dir erzählt.“

Josef freute sich gewaltig, denn anders, als er gedacht hatte, folgte sie ihm ohne Zögern. Der Name „Sylvain“ schien ihr bekannt zu sein und sie fragte:

„Bist du Sylvain?“

„Ah! Du hast den Namen verstanden …! Nein ..., Sylvain ist mein Bruder. Ich heiße Josef …, ich bin Josef.“

„Du heißt also Josef?“

Da der Pfad den Josef nun schon seit Wochen selbst getreten hatte so schmal war, dass die beiden nebeneinander hätten gehen können, schritten sie im Gänsemarsch voran, Josef als Wegweiser. So gingen sie, bis Josef plötzlich haltmachte und sich umdrehte.

„Ich heiße Josef. Und wie heißt du?“

„Ich habe verstanden … du heißt Josef.“

„Vielleicht hast du keinen Namen?“ Meinte er. „Oder vielleicht willst du mir ihn nicht verraten? Aber das macht nichts, ich nenne dich einfach Bloundino.“

„Bloundino …, was ist das? Ah, so nennst du mich. Komischer Name. Bloundino …, wenn du willst …, ja … ich finde, das ist gut."

„Also hast du scheinbar keinen anderen Namen, das hatte ich mir schon gedacht.“

„Ich verstehe nicht viel von dem, was du sagst. Wohin gehen wir?“

„Es ist blöde, wenn man sich nicht versteht.“ Meinte Josef.

„Ist es noch weit?“

Inzwischen waren die beiden am Waldrand angekommen. Hier verharrten sie einen Augenblick, denn von dort aus erhob sich nun ein mit fetten Gräsern bewachsener, lang gezogener Hügel. Etwas weiter hinauf konnte man die beiden kleinen Hütten schon erkennen, über denen sich ein feiner bläulicher Rauchschwaden erhob.

„Schau dort oben …“, sagte Josef und deutete mit dem Finger in Richtung ihrer Behausung. „Da sind wir, mein Bruder und ich. Du kannst mit mir kommen. Es besteht keine Gefahr.“

Doch Bloundino schien nicht besonders angetan von der Idee sich am helllichten Tage weiter ins offene Gelände zu begeben. Behutsam befreite sie ihre Hand und ohne ein Wort zu sagen entfernt sie sich im Unterholz.

Zunächst war Josef ein wenig enttäuscht, doch nach einer Weile fand er, dass schließlich alles sogar noch besser verlaufen war, wie er gehofft hatte. Vielleicht war es ja auch wegen ihrer Kleidung, dachte er, wegen ihrer Kleidung, die sie ja nicht hatte und, dass jemand anders sie so sehen könnte. Schließlich, alles in allem, war er zufrieden mit dem Resultat, er fühlte sich sogar bevorzugt.

So vergingen einige Tage, sie trafen sich am Bächlein, teilten die Nahrung, die Josef mitbrachte, schwatzten ein wenig, jeder in seiner Sprache, ohne sich wirklich zu verstehen. Dann gingen sie gemeinsam bis zum Waldrand. Josef hatte versucht, sie mit seinem Umhang zu bekleiden. Sie sträubte sich zwar nicht, ließ ihn geduldig sein Vorhaben beenden aber entledigte sich der Bekleidung rasch und gab ihm sein Gewand zurück; sie wollte es nicht. Er hatte den Eindruck, dass sie sich nicht wohlfühlte, dass sie nichts auf der Haut vertragen konnte. Trotz dem, dachte er, es muss mir gelingen mit etwas Geduld sie zu kleiden; denn sein Plan war, sie im Herbst mit ins Tal zu nehmen. Er konnte sich nicht mit dem Gedanken abfinden, dass er sie allein und ohne Kleidung während der Winter Monaten in den Bergen zurücklassen müsste; sie würde das wohl kaum überleben.

Es waren ungefähr zwei Wochen vergangen, seitdem er Bloundino zum ersten Mahl gegenübergestanden hatte. Eines Nachts dann, Josef hatte gerade seine Nachtwache angetreten. Er hatte sich auf seinem Schemel neben dem Feuer niedergelassen, als Rex, ihr Hund, plötzlich aufhorchte und zu knurren begann. Es fiel Josef auf, dass die Tiere draußen keinerlei Erregung zeigten. Im Allgemeinen, sobald Gefahr drohte, war sofort in der Umzäunung die Hölle los. In dieser Nacht hatte nur Rex etwas Ungewohntes bemerkt.

„Ganz ruhig Rex.“ Sagte Josef leise. „Du weckst Sylvain! Keine Aufregung, es ist nichts.“

Er hielt Rex am Halsband und begab sich nach draußen. Es war keine stockdüstere Nacht, es war knapp Halbmond und der Himmel war wolkenlos. Neben dem Käse-Orrys löste sich im Halbdunkel, für jeden normal Sterblichen, eine beunruhigende Silhouette, doch Josef erkannte sofort die Statur der Bloundino. Für ihn war diese düstere Erscheinung eher ein freudiges Ereignis, sie hatte sich endlich entschieden bis zu ihm zu gekommen.

Von diesem Tag an kam sie regelmäßig fast jede Nacht. Manchmal blieb sie sogar bis zum Morgen, solange bis Josef sich auf den Weg ins Tal aufmachte.

Sylvain war nicht besonders erfreut über dieses bizarre Verhältnis seines kleinen Bruders, aber er war auch nicht mehr strikt dagegen. Schließlich war es ja mehr oder weniger seine Schuld, er hatte sich ja vom Geschwätz der Rotznase einwickeln lassen. Er konnte nur immer noch nicht verstehen, wie und wo der Springinsfeld, den Mut gefunden hatte, sich dieser Frau zu nähern, geschweige denn Freundschaft zu schließen. Allein schon ihr Aussehen hätte nicht nur den Unmutigsten in die Flucht geschlagen. Er war davon überzeugt, dass der Junge instinktiv handelte und das Ganze aus einem anderen Blickwinkel betrachtete. Er konnte es nicht fassen, dass sein kleiner Bruder sich in den letzten Wochen so verändert hatte. Er war voller Verwunderung, sie war nicht mehr die Bloundino, sie war seine Bloundino. Manchmal, wenn er seine wichtigen Arbeiten verrichtet hatte, verbrachte er die Zeit ihr ungewöhnlich üppiges Haar von Blättern und trockenen Zweigen Reste zu säubern. Sie lies ihn geduldig in ihrer Mähne herum zupfen. Er konnte machen, was er wollte, besser gesagt, fast, denn was er auch unternahm, es gelang im nicht, sie an irgendwelche Kleidung zu gewöhnen. Sie lies sich ausstaffieren, doch sobald das Spiel zu Ende war, zog sie eiligst alles wieder aus.

Bloundino war inzwischen gleichermaßen eine Mitbewohnerin der Sommerresidenz der Brüder Barona geworden, jedoch sie blieb unabhängig. Sie kam und ging, manchmal blieb sie bis weit in die nächste Nacht hinein und am Tag danach verweilte sie vielleicht nur eine Stunde. Sie sprach nur wenig, wenn, dann meistens nur mit Josef. Während er tagsüber seinen Beschäftigungen nachging, schlief sie oft zusammengekauert in einer Ecke. Doch wenn er Hilfe benötigte um einen schweren Stein, einen Stamm oder Klotz zu verlagern, fasste Bloundino heftig zu. Diese Frau war zwar vom Aussehen her schon ein einziges Muskelpaket, doch selbst Sylvain war verblüfft zu sehen, welche Kräfte sie entfesseln konnte. Wenn die böswillig würde, dachte Sylvain, dann würden wohl der Kleine, sogar wir beide den Kürzeren ziehen.

Von Zeit zu Zeit empfand Josef Lust das Abendbrot ein wenig zu verfeinern, dann ging er hinab an den Wildbach und versuchte eine oder zwei schöne Bachforellen zu fangen. Als die Bloundino ihn zum ersten Male begleitete, versuchte er ihr zu erklären, wie man sich anstellen sollte, um Fische mit bloßer Hand zu ergreifen. Doch sehr bald musste er sich eingestehen, dass Bloundino einen weit besseren Meister gekannt haben musste, als er es war. Ihre Fangmethode war die der Bären: zunächst wählte sie eine Stelle nach ihren eigenen Kriterien, beobachtete kurze Zeit den Grund und dann plötzlich, kam der kraftvolle „Prankenhieb". Nur äußerst selten entkam Ihr ein Fisch. Josef beobachtete sie verblüfft, er traute seinen Augen kaum. Wie konnte sie bloß bis zu den Hüften in das eiskalte Wasser, und dann noch mit einer unglaublichen Geschicklichkeit einen Fisch treffen. Das Wasser in diesen Bächen ist kaum mehr denn geschmolzener Schnee. Er hatte oft genug, seine Hand hinein getaucht um es zu wissen. Wie viele Jahre Bloundino abseits jeglicher Zivilisation benötigt hatte, um sich so eng mit der Natur zu verbinden, war für ihn, und später für viele, unvorstellbar. Nun war ihr Leben so gestaltet, natürlich, mit ihren Gesten und ihrem Verhalten alles das, was sie von den Tieren gelernt hatte.

Diese seltsame Situation, diese Frau, die keine Regel der Zivilisation beherrschte, neben welcher sein „kleiner“ Bruder, fast das Aussehen eines Säuglings hatte, beunruhigte Sylvain doch immer noch.

„Findest du sie nicht schön?“ Fragte Josef, indem er Bloundinos Haarpracht auf verschiedene Art seinem Bruder vorzeigte.

„Wenn du es sagst. Wenn Vater und Mutter dich sehen, könnten mit dein …, was soll’s? Dann Gnade dir …, was sage ich, dann Gnade uns beiden, ich bekäme wahrscheinlich genau so viel wie du. Wie konnte ich mich bloß in dieses Abenteuer hinein ziehen lassen? Wenn ich dir einen guten Rat geben kann, dann lasse sie endlich mal in Ruhe. Eines Tages hat sie die Nase voll von deinen Schikanen, und dann langt sie dir eine …, mein lieber Mann …, aber eine saftige!

„Was denkst du denn nun wieder?“

„Ja, ja …, mach ruhig weiter so, du könntest dich eine Zeit lang daran erinnern.“

„Warum denn? Ich tu ihr doch nichts.“

„Ich weiß …, ich weiß, ich habe ja sowieso nie recht. Sollte etwas passieren, dann bringst du deinen Mist aber auch wieder alleine in Ordnung!“

Sylvain stellte sich immer wieder die Frage, wer, oder was, diese Kreatur wohl sein könnte. War es nun eine Frau, die sich in ein Tier, oder ein Tier, das sich in eine Frau verwandelt hatte? Ihre Gebärden und der wilde Duft, den sie hinterließ, waren eher die eines Tieres, man konnte es anders nicht ausdrücken. Ihr Aussehen jedoch, ihre Intelligenz und ihre Gefühle waren zweifellos die einer Frau. Vielleicht vernünftig hergerichtet, achte Sylvain, könnte sie sogar eine sehr schöne Frau sein. Es wäre ja möglich dass Josef, so hingerissen, wie er war, die wirkliche Schönheit der Bloundino sehen konnte.

Die beiden vergangenen Jahre waren das erste und zweite Mal, das Josef mit seinem Bruder im Soulcem den Sommer verbracht hatte. Jedes Mal hatte er die Monate unendlich lang empfunden, doch in diesem Jahr war für ihn die Zeit im Fluge vergangen. Während sich nun der Herbst mehr und mehr bemerkbar machte, blieb auch die Bloundino länger und länger abwesend. Die beiden Brüder grübelten drüber nach, womit ihre Mitbewohnerin wohl in dieser Zeit beschäftigt sein könnte. Jedes Mal wenn sie noch für eine oder zwei Stunden vorbei schaute, nahm sie eine Kartoffel, einen Apfel oder sonstiges Essbares mit sich und verschwand dann wieder.

Josefs Bemühungen waren vergebens. Sein Traum schien endgültig den Bach hinunter zu gehen. Er war sich nun bewusst, dass seine Bloundino nicht mit ihm den Winter verbringen würde, und seine fröhliche Stimmung, begann sich zu verfinstern.

Dann kam der Tag, an dem der erste Schnee in den höheren Lagen fiel. Die Zeit war für die Hirten gekommen mit ihren Herden den Abstieg zu beginnen; ihre Orrys und die Hochweiden zu verlassen. So wie man im Frühling nach und nach hochgestiegen war, so ging es nun von Tag zu Tag auf tiefer gelegene Weideplätze wieder hinunter ins Tal.

Die Bloundino folgte noch ein paar Tage der Herde der beiden Brüder, doch als dann auch, andere Herden sich näherten, verschwand sie eines Morgens und kam nicht mehr zurück.

Josef fiel in eine tiefe Trübsal, alles um ihn herum stürzte in sich zusammen, er konnte es nicht verstehen. Warum nur? Sein schöner Traum verwandelte sich plötzlich in einen schrecklichen Albtraum. Er hatte doch alles versucht und getan um seine Bloundino vor dem sicheren Tode zu bewahren. Jeden Tag lief er noch wie ein Brennender kreuz und quer durch die Wälder und rief, doch die Bloundino war verschwunden. Die Wölfe, die Bären, die Kälte, der Schnee und der Hunger …, Josef wusste, dass seine Bloundino bald sterben würde. Niemand konnte ohne Kleidung, ohne Feuer und ohne Nahrung dort oben überleben …, es war einfach unmöglich.

Unbekannt und Heimatlos

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