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Während der ersten Zeit, seitdem die beiden wieder zu Hause angekommen waren, blieb Josef wie eingemauert in seiner Trauer. Er war ein Anderer geworden; eine tiefe Wunde klaffte in seinem Herzen; er erkannte sich selbst nicht wieder; sein Gesicht war, wie das eines Anderen das sich mit Tränen vernässte.

Sylvain war der Einzige, der die Ursache und die fatale, sentimentale Stimmung seines kleinen Bruders kannte. Er ahnte, dass er diesen Zustand nur noch verschlimmern würde, wenn er den Eltern den wahren Grund verraten würde. Er traute sich nicht sein Versprechen zu leugnen, obwohl es auch andererseits seine Pflicht war, seine beunruhigten Eltern zu überzeugen. Er befand sich in einer heiklen Lage. Wie hätte er sich aus dieser Situation befreien können, anders als mit einer harmlosen Notlüge?

Eines Abends dann, Josef hatte sich bereits in sein Kämmerlein zurückgezogen, begann Sylvain seinen Eltern die ganze Geschichte, von Anfang an, vorzutragen. Eigentlich hätte er das große Geheimnis freigegeben, dennoch hielt er sein Versprechen. Er hatte kurzerhand die Bloundino durch ein Rehkitz ausgetauscht.

„Immer diese Eile …, jetzt verstehe ich!“ Seufzte die Mutter.

„Aber warum hat er uns nie ein Wort darüber gesagt?“

„Ah …, er wollte euch überraschen, und nun seine Niederlage …, das hat ihn schwer getroffen.“

„Armer Junge ...“, sagte der Großvater. „Ich glaube, da kann nur die Zeit etwas bringen. Ich kann den armen Kerl verstehen. Es ist sehr hart, das kann ich euch versichern. Ich kann mich noch daran erinnern, es ist, als sei es gestern gewesen: Ich hatte ungefähr sein Alter …“

Und der Großvater begann eine seiner alten Geschichten aus seiner Jugend zu erzählen, ohne zu ahnen, dass selbst, das aufregendste seiner Abenteuer nicht mit dem seines Neffen zu vergleichen war.

Josef versuchte so gut er konnte seine Aufgaben und Pflichten, in der Familiengemeinschaft zu verrichten. Es gab noch einiges zu tun, Kartoffeln, Gemüse, Äpfel …, alles musste unter Dach und Fach, denn der Winter begann sich nun auch im Tal, bemerkbar zu machen.

Während der letzten Monate des Jahres schien Josef sich allmählich von seinem Schmerz zu erholen, doch niemand ahnte, dass Bloundinos Bild noch immer allgegenwärtig in seinen Gedanken war.

Es hatte die ganze Nacht geschneit. Auzat, ein Kleines kaum hundert Seelen Dörfchen sowie das ganze Tal war mit einer bereits ansehnlichen Schneeschicht bedeckt. Die weiße Decke verhüllte an diesem Morgen die ganze Gegend von Pamier bis zur spanischen Grenze. Noch sah man erst hier, und da spärliche Lichter aus dem Dunkel hervor treten und eine tiefe Stille herrschte noch über dem Tal von Vicdessos.

Es war gegen acht Uhr, als die Haustür der Baronas sich öffnete und Anton, der Vater, auf der Schwelle erschien. Er prüfte mit kritischen Blicken den Himmel und schüttelte bedenklich den Kopf. Seine warme Wollmütze war über die Ohren bis zum Rollkragen seiner dicken Strickjacke gezogen, und am unteren Ende seiner Hosenbeine konnte man ein Paar klobige, mit Stroh gepolsterte Holzschuhe erkennen.

Kopf schüttelnd prüfte er mit kritischen Blicken den dunklen Himmel. Immer noch wirbelten einzelne dicke Schneeflocken zur Erde nieder, und die schweren aschfahlen Wolken über den Bergen kündigten noch eine üppige Reserve der weißen Pracht an.

Kurz, nachdem er ins Innere zurückgegangen war, erschien er wieder bewaffnet mit Schaufel und Besen, und begann damit einen Pfad bis zur Stalltür freizuschaufeln. In der Zwischenzeit war auch Maria, die Mutter, eingemummelt in einer dicken Wollweste, draußen erschienen.

„Welch schöner Schnee!“ Rief sie aus.

„Ja …, und es hängt noch einiges in der Luft“. Erwidert Anton. „Josef müsste trotz dem nachher bis nach Vicdessos".

„Ja, er wird gehen, der Schnee macht ihm nichts aus.“

Wenig später am Vormittag, die Holzschuhe mit frischem Stroh gepolstert, seinen unvergänglichen schwarzen Hut mit breitem Rand und seinem genauso dunklen Umhang, machte sich Josef auf den Weg. Alles in allem erinnerte sein Aussehen an einen Landpfarrer. Sein Tragekorb war bis zum Rand mit Wollknäuel gefüllt. Es war die Wolle, die die Mutter in letzter Zeit gesponnen hatte und die er nun zum Weber nach Vicdessos bringen musste. Immer noch ein wenig benommen, vertieft in seinen intimen Gedanken, folgte er den wenigen Fußspuren im frischen Schnee. Die kleine Holzbrücke, über den immer noch heftig strömenden Bach, hatte der Frost während der vergangenen Tage in ein bizarres Gebilde verwandelt. Seitdem Josef die letzten Behausungen von Auzat passiert hatte, waren keine Spuren mehr zu erkennen. Scheinbar hatte noch niemand an diesem Tag das Dorf verlassen. Die Mountagnol waren nun mal so; bei diesem Wetter bevorzugte man eher die Nähe der Feuerstelle.

Als Josef wenig später fast sein Ziel erreicht hatte, führte ihn sein Weg zwangsläufig an der Kirche und dem anliegenden Friedhof vorbei. Er blieb einen Augenblick stehen und schaute hinüber zu den verschneiten Gräbern, von denen nur noch die aufrecht stehenden Steine und Kreuze zu sehen waren. Uhr plötzlich schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, dass wohl jeder das Recht auf ein würdiges Grab habe. Selbst sein alter Hund Prinz, den er und sein Bruder vor zwei Jahren im Garten hinter dem Haus begraben hatten. Dass seine Bloundino, die doch ein Mensch war, niemals ein Grab haben würde, riss die noch heilende Wunde in seinem Herzen wieder auf. Er brach von neuem in Tränen aus, er weinte und jammerte, sodass man ihn von Weitem hören konnte.

Nach dem Er seinen Auftrag erfüllt hatte und wieder zu Hause angekommen war, verkroch er sich augenblicklich in seinem Kämmerchen auf dem Dachboden. Man rätselte, was wohl passiert sein könnte und man befürchtete, dass der Ärmste von Neuem in sein Elend versinken würde.

„Ich glaubte schon, es wäre vorbei.“ Seufzte Maria. „Einerseits war ich froh, dass er sich von der Bande der Nichtsnutze aus dem Dorf getrennt hat. Wenn das so weitergeht, wäre es mir noch lieber, er wäre da draußen und würde irgendwelchen Blödsinn machen.“

„Ich frage mich immer noch ob da nicht doch, was anders dahinter steckt.“ Meinte der Vater. „Das Ganze scheint mir doch ein wenig übertrieben für ein Rehkitz. Ich weiß nicht Sylvain, hast du uns wirklich alles erzählt?“

„Selbst verständlich hab ich das! Es sei denn, es ist noch etwas, wovon ich nichts weiß.“

„Ich glaube die Geschichte jedenfalls.“ Mischte sich der Großvater ein. „Du Anton, du kannst nicht wissen, was das für den Jungen bedeutet.“

„Hör auf Vater, als ich in seinem Alter war, hatte ich auch Tiere, aber so verhext wie er, war ich nun doch nicht.“

„Ha, ha!“ Grinste der Großvater. „Ich glaube, du bist schon zu alt um dich an alles zu erinnern.“

„Die ganze Sache fängt doch an, mich zu beunruhigen.“ Unterbrach die Mutter.

Sylvain erhob sich und sagte:

„Mach dir keine Sorgen Mutter, ich geh mal nach oben zu ihm.“

Letztendlich war Josefs Rückfall doch nur von kurzer Dauer. Wenig später kamen beide zurück zum Rest der Familie. Darauf bemühte sich selbst Anton, dieses heikle Thema nicht mehr zu erwähnen.

Mit dem herannahenden Frühling gewann Josef nun auch wieder nach und nach seine Freude am Leben. Der Frühling, die Jahreszeit, die er bevorzugte, die Jahreszeit, die ihn faszinierte. Er liebte die Felder und Wiesen übersät mit Blumen aller Art; das helle Grün der Buchen und Birken vermischt mit dem dunklen Grün der Tannen und Fichten. Er lebte auf, wenn er entlang der Wildbäche schlendern konnte, wo diese in ohrenbetäubendem Grollen ins Tal stürzten und in den aufgewirbelten Tropfen sich die Farben des Regenbogens reflektierten.

An einem Morgen hatte sich Josef in der Frühe aus dem Haus geschlichen. Selbst Sylvain hatte nichts bemerkt. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, als er sich in Richtung Port de Lerse entfernte. Er hatte sich vorgenommen, von l’Arbu ein paar schöne Schwarze, so bezeichnete man die Bachforellen, mit nach Hause zu bringen. Gleichzeitig war dieser Ausflug für ihn eine Gelegenheit die Berge wieder zu finden, welche der Schnee und seine „Krankheit“ ihn viel zu lange ferngehalten hatten.

Etwas stromabwärts unterhalb des Wasserfalls Arbu war das tobende Geräusch der fallenden Wassermassen ein wenig gedämpfter. Hinter einem Hügel beruhigte sich der Strom und formte ein Becken im Geröll, um sich dann, nur zwanzig Schritte weiter, wieder mit voller Wucht hinunter ins Tal zu ergießen. Ein erfahrener Sonntagsfischer, so wie Josef einer war, erkannte diese Stelle sofort als eine von Forellen bevorzugte Ecke.

Es konnte gegen zehn Uhr sein, als er am Ufer gegenüber dem Hügel ankam und wo er sich im Geröll niederließ. Er rollte die Ärmel hoch und konzentrierte seine Blicke auf die mehr oder weniger ruhige Wasseroberfläche. Plötzlich hielt er den Atem an, eine stattliche Forelle bewegte sich auf in zu. In diesem Moment der höchsten Anspannung bemerkte er einen Schatten, der sich neben ihm abhob. „Scht!“ Macht er leise ohne sich abzuwenden. „Die hohl ich mir“. Pfeilschnell griff er mit beiden Armen ins eiskalte Wasser und hob eine fast zwei Pfund schwere Forelle hervor. Immer noch auf den sich kraftvoll weidenden Fisch zu fixieren und ohne sich seinem vermutlichen Zuschauer zu zuwenden, sagte er: „Ist das nicht ein Prachtstück?“

Als er darauf immer noch keine Antwort bekam, drehte er sich schließlich um und zeigte stolz seinen Fang. „Nah! Was meint Ih …?“, doch das Ende seiner Frage blieb ihm vor Schrecken im Halse stecken. Er hatte plötzlich das Gefühl, das der Schopf unter seinem Hut aufrecht stünde. Nur einige Schritte hinter ihm sah er seinen Bewunderer: Ein ausgewachsener Bär saß da und beobachtete ihn ruhig mit gewissen Interessen. Josef nahm sich nur die Zeit seinen Hut festzuhalten, und schnellstens die Flucht zu ergreifen. Seinen Fang ließ er seinem Zuschauer als Geschenk zurück.

Unbekannt und Heimatlos

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