Читать книгу Unbekannt und Heimatlos - Heinrich Voosen - Страница 7

3

Оглавление

In diesem Jahr erreichten Josef und Sylvain die Hochweiden von Soulcem ende Mai. Die Schäden in und um ihr Lager waren wie im vergangenen Jahr nicht besonders groß. In wenigen Tagen war wieder alles hergerichtet und ihr gewohntes Dasein konnte von vorn seinen Lauf nehmen.

Selbst wenn die Umgebung, das Orrys, der Wald und der Pfad die Josef nun wieder fast täglich beschritt, der Felsblock und das Bächlein, ihn immer wieder an Bloundino erinnerten. Er sich in Gedanken damit abgefunden, dass diese Episode seines Lebens endgültig abgeschlossen war.

Eines Tages dann, kaum eine Woche, nachdem sie dort oben angekommen waren, als er aus dem Tal zurückkehrte, hielt er plötzlich inne. Er glaubte, er war sich sogar sicher, dass er seinen Namen gehört hatte. „Bin ich von Sinnen?“ schoss es ihm blitzartig durch den Kopf. Diese Stimme … er hätte sie unter zehntausend erkannt. Er hatte nicht die Zeit dazu, weiter nachzudenken, noch sich in die Richtung zu wenden, aus der man ihn angesprochen hatte, als er hörte:

„Du bist zurückgekommen Josef, ich habe auf dich gewartet.“

Dann sah er sie. Sie saß ruhig auf einem großen Stein am Rande des Pfades, einige Schritte mehr und er wäre an ihr vorbeigegangen. „Aber das ist unmöglich …“, dachte er und sprang regelrecht zwei Schritte rückwärts. „Sie ist tot ...! Das kann nur ihr Geist sein!“ Er wusste nicht, was er noch denken sollte. Dann kam ihm der Gedanke an das, was Einige sagten, diejenigen die behaupteten Gespenster gesehen zu haben: Diese Gestalten sollen transparent sein und man konnte sie nicht berühren. Doch er stellte fest, dass er nicht durch die Bloundino hindurchsehen konnte. Verwirrt stammelte er:

„Bist …, bist du es wirklich Bloundino?“

Sie stand auf und näherte sich, indem sie ihm die Hand reichte. Er zitterte am ganzen Körper wie eine Pappel, und doch unternahm er, wenn auch zögernd, das Experiment der Greifbarkeit: Es war kein Spektrum.

„Erkennst du mich nicht, Josef? Du nanntest mich Bloundino.“

„Du lebst!“ Schrie Josef und ein paar dicke Tränen rollten über seine Wangen.

Das Abenteuer des jungen Hirten schien nun wieder dort weiter zu gehen, dort wo es durch den Winter unterbrochen wurde. Doch Josef bemerkte bald, dass es nie mehr so sein würde wie im vergangenen Sommer.

Fast zwei Wochen lang kam Bloundino noch regelmäßig. Sie aß, schlief, ging mit Josef zum Fischen an den Wildbach. Rannte mit Rex um die Wette beim Einholen der Herde. Genau so, wie man es im letzten Jahr gewohnt war.

Die beiden Brüder konnten sich nicht erklären wie und wo die Bloundino den Winter überlebt hatte. Sie fanden nur eine Erklärung: Es war ein Wunder!

Als die Bloundino sich im vergangenen Herbst mehr und mehr vom Sommerquartier der Brüder Barona fernhielt, war das nicht etwa um die, die ihre Freunde geworden waren zu verlassen. Es war auch nicht die Angst, dass man sie mit Gewalt ins Dorf schleppen könnte. Es war ihr wilder Instinkt, welcher, wenn auch verdrängt, immer noch in unserem Unterbewusstsein schlummert. Ihr Überlebenskampf, wahrscheinlich viele Jahre hindurch, in und mit der Natur, hatte dazu geführt, dass dieser Instinkt wieder das Vorrecht auf ihr Verhalten und ihre Lebensweise errungen hatte. So wie die Eichhörnchen, die Hamster und alle anderen Tiere des Waldes und der Berge, zwang diese Kraft auch Bloundino eine sichere Unterkunft und Vorräte zu sammeln.

Knapp eine Meile von Sylvain und Josef entfernt, dort wo in den Bergen nur noch vereinzelte Büsche sprießen, hatte Bloundino schon seit ein paar Jahren eine Grotte bezogen. Eine dieser Höhlen mit niedrigem Zugang; eine von denen die weit in den Felsen hinein führen. Dort wo die Temperatur immer, ob Sommer oder Winter, konstant bleibt. Bloundinos Beschäftigung war erheblich in den Herbstmonaten und rechtfertigte ihre Abwesenheit. Handvoll um Handvoll transportierte sie die Ernte in ihre Behausung: Kastanien, Nüsse, Eicheln, Tannenzapfen und Wurzeln aller Art. Auch ihre Liege musste erneuert werden mit Gräsern, Moosen und trockenen Blättern.

Die Gesetze der Natur können erbarmungslos scheinen, jedoch wer sie kennt und respektiert, findet Hilfe und Geborgenheit.

Wie gewöhnlich war Bloundino mit Josef ins Lager zurückgekehrt. Sie hatte am Tümpel auf ihn gewartet und sie hatten dann den Rest des Weges miteinander zurückgelegt. Sie blieb bis zum Abend, und nach dem man gegessen hatte, begann sie unerwartet mit einer langen Erklärung. Sie sprach in Französisch über etwas, was die beiden nicht recht definieren konnten. Dann stand sie auf und ging von dannen.

„Ich habe nichts verstanden.“ Sagte Josef.

„Um ehrlich zu sein, ich auch nicht. Nur glaube ich, dass sie von Bergen gesprochen hat.“

„Von Bergen? Das könnte sein.“

„Da bin ich mir fast sicher. Aber was den Rest angeht …“

Am nächsten Tag war Bloundino nicht am Bächlein und sie kam auch nicht zum Abendessen am Orrys. Scheinbar hatte sie das Weite gesucht. Josef hatte schon den Verdacht, dass ihre Abwesenheit etwas mit ihrem unverstandenen Vortrag vom Vorabend zu tun hatte. Und so war es.

Sie hatte den Endschluss gefasst weiter nach Osten, die Wälder und Berge in der Umgebung des Tales von Artigue auszukundschaften. Es sollte kein endgültiger Abschied sein, was Josef aber nicht verstanden hatte. Sie hatte versprochen, bald wiederzukommen.

Nachdem sie mehrere Geröllhalden und andere schwierige Passagen hinter sich gebracht hatte, erreichte sie den Wildbach, der auch den Namen Artigue trägt. Die Wälder, nichts konnte schöner für Bloundino sein als diese Stille, die Schatten abwechselnd mit hellen Lichtungen und Aussicht auf grüne Wiesen und den Wildbach. Hier und da, am Rande des Stromes, fielen kleine Bächlein von Stein zu Stein inmitten hoher Gräser; kleine Sümpfe; einige erratische Felsblöcke, überzogen mit hellgrünen Moosen. In diesem Tal weideten auch Vieherden, welche sie von Weitem durch das Schilf hindurchsehen konnte, und Hüter, die in Orrys hausten, ähnlich wie Josef und Sylvain. Von weiter entfernt vernahm sie Axt Schläge. So wusste sie, dass auch Holzfäller in der Gegend arbeiteten.

Sie zog nun vorsichtig in diese Richtung weiter und entdeckte eine große Lichtung, dort waren mehrere Erdhügel aufgebaut, aus denen Rauch entwich. Andere waren zu einem Haufen verkohltem Holz zusammengeschrumpft und die Erdschollen waren rund herum aufgehoben. Andere noch schienen im Aufbau, hier waren Holzstämme pyramidenförmig zusammengestellt. Ein wenig abseits befand sich auch eine Hütte, jedoch bedeutend größer als die Orrys die Bloundino kannte. Diese Behausung war aus Holz gebaut, mit Ästen überdacht und bekleidet. Hier war alles anders. Sie hatte noch nie ein ähnliches Lager gesehen.

Dieses Waldstück hinter Mounicou verwalteten die Brüder Garcia, ein paar düstere Einsiedler. Man sah sie nur ein oder zweimal im Jahr im Tal. Diese verhängnisvollen Gefährten, man nannte sie: „Der Große“ und „Der Lahme“, lebten abseits von allem. Sie wahren nicht besonders beliebt da unten. Es war eher ihr Aussehen und ihr Verhalten, denn sie hatten noch niemanden etwas zuleide getan.

Aus ihrem Versteck beobachtete die Bloundino eine Weile neugierig die Umgebung. Es schien so, als wäre niemand in der Nähe. Das Schlagen der Äxte hallte von etwas abseits und tiefer im Wald herüber. Sie näherte sich vorsichtig der Hütte, vielleicht war dort jemand. Doch auch hier war alles mäuschenstill. Noch einen Augenblick hielt sie inne, dann, in der Hoffnung irgendetwas Essbares zu finden, schlich sie sich hinein.

Während sie nun drinnen herumstöberte, lauschte sie aufmerksam den Geräuschen der Äxte, doch was sie hörte waren nicht die der Brüder Garcia.

Die schwer mit Holzkohle beladene Karre eines Fuhrmannes war nur ein paar Hundert Schritte vom Lager entfernt, unglücklicherweise, hinter einem dicken Stein abgerutscht. Die beiden Lulatsche waren nur dem Fuhrmann zu Hilfe geeilt. Als sie sich nun ihrem Arbeitsplatz näherten, merkten sie gleich den Wirrwarr in ihrer Hütte.

„Zum Teufel! Ein Bär in unserer Hütte!“ Meinte der Große. „Und das Gewehr?“

„Ah, ja, das Gewehr …, auch in der Hütte!“

„Und was nun? Jetzt stehen wir schön hier.“

„Ich würde vorschlagen.“ Murmelte der Lahme. „Wir verhalten uns ruhig und warten ab, bis er von alleine herauskommt.“

„Schon …, wenn er alles zerfetzt und unser Proviant aufgefressen hat.“

„Und, da geht uns obendrein auch noch ein schönes Fell durch die Binsen.“

Auch etwas gekränkt durch ihre eigene Dummheit, lassen sich die beiden hinter einem Baumstamm zu Boden sinken. Der Lahme schüttelt den Kopf:

„So ein Schwachsinn, das Gewehr in der Hütte zu lassen. Das sieht uns ähnlich.“

„Ah ja …, du sagst es.“

„Aber …“, meinte dann der Große. „Findest du nicht auch, dass es da drinnen verhältnismäßig ruhig hergeht? Meinem Erachten nach würde ein Bär etwas mehr Rabats machen.“

„Hm …, jetzt wo du es sagst …, es ist vielleicht doch was anders. Aber es ist nicht sicher. Es wäre vielleicht doch besser nicht zu heftig am Bienenkorb zu schütteln.“

„Du hast recht, man kann nie wissen …, lassen wir das lieber.“

Während die beiden Hausbesitzer noch mit gedämpfter Stimme hinter ihrem Baumstamm berieten, hatte die Bloundino ausgiebig gespeist. Einige Viktualien eingesammelt und bereitete sich vor den Ort des Wohlseins zu verlassen. Um die Hütte verlassen zu können, musste sie, wegen ihrer statuarischen Figur, sich beträchtlich nach vorne beugen, sodass ihre imposante Mähne bis zum Boden reichte und ihren gesamten Körper verdeckte.

Selbst wenn die Brüder Garcia schon mehrmals in schlüpfrige Situationen verwickelt waren, dieses behaarte Etwas, das so einfach nicht zu identifizieren war, versetzte sie in Schrecken.

„Verdammt! Was ist das?“ Fuhr der Lahme hoch.

„Woher soll ich das wissen? Ein Bär ist es nicht, und auch kein Pferd.“

„Könnte es ein Löwe sein?“

„Ein Löwe? Bist du nicht bei Sinnen? Hier gibt es keine Löwen!“

Nachdem sich die Bloundino aus der Hütte gezwängt hatte, richtete sie sich auf, warf einen kurzen Blick nach links und rechts und machte sich dann eiligst aus dem Staub. Im selben Augenblick fuhr der Lahme überreizt hoch und schrie:

„Weg von hier, das ist der Teufel!“

Alarmiert von diesem Geschrei, beschleunigte die Bloundino blitzartig ihre Schritte.

„Nein!“ Schrie der Große. „Das ist eine Frau!“ Und stürzte sich in die Verfolgung der Diebin.

„Heee! Komm zurück du …“

Der Lahme fing nun erst an die Realität zu begreifen und hinkte so schnell er konnte hinterher.

„Was sagst du …, eine Frau? Cré bleu! Fang’ sie …, fang' sie!“

Bald waren die Bloundino und auch der Große im Unterholz verschwunden. Er hörte nur noch die Stimme seines Bruders: „Komm hehr …, warte, wenn ich dich kriege!“ Bald merkte er, dass es für ihn keinen Sinn hatte, noch länger hinterher zu hüpfen und gab die Verfolgung auf. Er ließ sich kurzerhand auf einen Baumstumpf nieder und wartete.

Wenig später tauchte auch sein Bruder wieder, außer Atem, aus dem Gebüsch auf.

„Hast du gesehen was ich gesehen habe?“ Fauchte er.

„War es wirklich eine Frau?“

„Selbstverständlich war es eine Frau, und … sogar ohne Kleider … du, natürlich …, du siehst ja immer nur den Teufel …, wie gewöhnlich.“

„Sapristi! Was höre ich da? Und diese Frau war …, absolut …, total …, ohne gar nichts?“

„So wie ich es dir sagte.“

„Bist du dir ganz sicher? Du hast sie wirklich so gesehen?“

„So wie ich dich sehe …, ungefähr.“

„Verdammt noch mal! Warum hast du sie weggejagt? Seit wie viel Jahren suchst du schon eine …, und jetzt? Mensch bist du blöde!“

„Ich hab sie nicht weggejagt!“ Schrie der Große fast wütend. „Ich wollte sie ja einfangen ..., Idiot!“

„Und warum hast du sie nicht …?“

„Weil sie schneller war als ich, du Blödian!“

Als ein paar Tage später die Garcias bemerkten, dass die eigenartige Frau wieder um ihr Lager herum schlich, überlegten sie auf welche Weise sie sie einfangen könnten. Sie kamen nach langem Grübeln auf eine ähnliche Idee wie Josef Barona, nur hatten sie Josefs Geduld nicht und auch ein anderes Ziel vor Augen.

Sie legten Nahrung aus und hofften, dass sich, so die Frau, aus den Gebüschen hervor, weiter in die Lichtung wagen würde. Es geschah auch so, wie sie es sich vorgestellt hatten, nur, gelang es ihnen nicht sich ihr zu nähern. Sobald einer der beiden auftauchte, nahm sie reiß aus.

Doch als sie am nächsten Tag wieder erschien und dann von Neuem flüchten wollte, geschah es. Schon nach ein paar Schritten schrie sie plötzlich auf und stürzte der Länge nach zu Boden. Was war geschehen? Die finsteren Gesellen hatten unauffällig einige Schlingen gelegt und die Bloundino hing nun fest. Sie hatte nicht einmal die Zeit zu verstehen, was geschehen war, geschweige denn die Fessel zu lösen. Schon waren die beiden zur Stelle. Zunächst waren sie noch freudig erregt und glaubten nun leichtes Spiel zu haben, doch trotz ihrer Hasen schlinge am Fuß, wehrte sie sich mit ungeahnten Kräften. Sie schlug, biss und kratzte, und es verging eine gewisse Zeit, bevor es ihnen gelang sie mit vereinten Kräften in ihre Unterkunft zu transportieren.

Man hatte ihr Hände und Füße gefesselt, doch dies zum Trotz, der Transport zur Hütte verwandelte sich schnell in einen weiteren Kraftakt. Der große fasste sie unter die Axel, der Lahme an den Füßen, doch ihr Opfer schrie und brüllte wie ein wildes Tier. Die Bloundino riss und zerrte an ihren Fesseln und bäumte sich mit all ihren Kräften. Der Lahme wurde hin und her geschleudert, sodass man fast im Kreise herum schlingerte. Die beiden keuchten wie die Ochsen und der große, der rücklings auf die Hütte zusteuerte, musste immer wieder den Eingang neu anpeilen. Dann endlich, nach mehreren fehlgeschlagenen Versuchen verschwanden sie ruckartig in ihrer Unterkunft.

Drinnen legten sie ihre Gefangene nun auf eine der beiden Liegen, doch sie waren immer noch nicht am Ende ihrer Anstrengungen. Die Bloundino sträubte sich immer noch wie eine Wildkatze, gab grauenhafte Schreie von sich und versuchte wütend sich zu befreien. Um sich endlich eine Verschnaufpause zu verschaffen, band man sie kurzerhand an die Lagerstätte.

„Zum Kuckuck ...!“Keuchte der Lahme, vollständig außer Atem. „Ist die gewaltig!“

„Du sagst es!“ Erwiderte der Große, genau so hechelnd.

Zunächst mussten sie eine kurze Verschnaufpause einlegen. Während dessen warfen sie sich noch eiligst ein paar Schlücke von ihrem selbst gebrannten Feuerwasser in den Schlund. De l’aïgourdent, wie sie das Zeug nannten. Dann begannen sie aufs Neue, sich um ihre „Frau“ zu kümmern.

Alles, was man so über die Brüder Garcia im Tal erzählte, war letztendlich nur verleumderisches Geschwätz. Daher hätte auch niemals eine Frau aus einem der Dörfer es gewagt, den beiden dort oben in ihr Asyl zu folgen. Trotz allem stiegen sie jedes Jahr hinab zum Fest in Vicdessos, in der Hoffnung eine Frau zu finden, doch jedes Jahr kehrten sie auch wieder, enttäuscht, sogar traurig, allein zurück. Niemand wollte ihre Gesellschaft; sie waren geächtet, zur Einsamkeit verurteilt.

Außer das die Bloundino gefesselt blieb, musste sie keinerlei Brutalität erdulden. Wie hätten sie auch anders handeln können, um sie bei sich zu behalten? Erfahrungen mit Frauen hatten sie wenig, besser gesagt keine. Sie bemühten sich und taten ihr Bestes um die Bloundino zu beruhigen. Obwohl die Gefangene sie nicht verstehen konnte, flüsterte man ihr beruhigende Worte zu. Man tupfte ihr behutsam den Schweiß von der Stirne, gaben ihr zu trinken und sogar versuchte man, wenn auch ein wenig unbeholfen, ihr die Wangen zu streicheln.

Die unermüdlichen Schwerarbeiter berührten jedenfalls an jenem Tag kein Holz und keine Axt mehr, denn die Pflege der Frau, die sie seit Jahren erhofft hatten, nahm alle ihre Zeit in Anspruch.

Ein paar Stunden waren vergangen, die Bloundino hatte sich einigermaßen beruhigt, und man entschloss sich, sie loszubinden. Vorsichtshalber lies man ihr doch noch die Hände gefesselt, aber alles schien reibungslos zu verlaufen. Es war ihnen sogar gelungen sie irgendwie zu verführen, jedenfalls glaubten sie es. Ob ihre ganzen Bemühungen nun falsch, oder doch richtig waren, konnten sie eigentlich nicht abschätzen. Die beiden waren auf jeden Fall zufrieden und ihre Frau sollte reichlich belohnt werden.

Währendem der Große sie von ihren letzten Fesseln befreite, machte sich der Lahme daran Viktualien in ein Tuch einzubinden. Als sie diese dann noch in Empfang genommen hatte, zögerte sie nicht lange und verließ die Hütte. Draußen angekommen drehte sie sich noch einmal um, schaute die beiden an, dann lief sie eiligst davon und verschwand im Unterholz.

„Nun ist sie weg …“, seufzte der Lahme. „Glaubst du nicht es, wäre besser gewesen, wir hätten sie noch etwas länger zurückgehalten?“

„Nein …, das würde nichts bringen. Du wirst sehen, wenn sie alles aufgegessen hat, erscheint sie wieder.“

„Ich an deiner Stelle wäre mir da aber nicht so sicher.“

„Aha, die Frauen sind nun mal so, sie benötigen auch ihre Freiheit.“

„Und …, woher willst du das schon wissen? Du hattest doch auch noch nie was mit Frauen zu schaffen.“

„Stimmt, aber ich glaube, das ist so.“

„Dann hoffen wir mal, dass sie ziemlich guten Hunger hat.“

Der Große hatte recht; so schien es wenigstens. Drei vier Tage lang hatte man sie nicht gesehen, doch dann plötzlich tauchte sie wieder auf. Sie zeigte sich regelmäßig am Rande der Lichtung, doch wagte sich nicht weiter vor; sie blieb immer in Nähe der Büsche. Manchmal stand sie längere Zeit neben einem Strauch, kaute Blätter und beobachtete die beiden Männer bei der Arbeit.

„Komm her und nimm dir ein Stück Brot, anstatt da unten zu stehen und Blätter zu knabbern wie eine Ziege.“ Rief ihr der Große zu.

„Wir sollten behutsam vorgehen.“ Meinte der Lahme. „ich werde ihr Mal ein Stück auf einem Baumstumpf legen. Ich glaube, dass wir das erste Mal doch etwas zu heftig waren.“

„Ist schon möglich …, aber nicht sicher. Ich glaube, sie hat es trotzdem gemocht.“

„Wieso? Woran erkennst du das denn nun wieder?“

„Sonst …, ich meine, sie wäre sonst wohl nicht zurückgekommen.“

Sie kam nun wieder näher, doch mit äußerster Vorsicht, und sobald sie die Nahrung erfasst hatte, verschwand sie sofort wie ein Blitz.

Bald hatten die beiden Verführer das Spielchen leid und stellten wieder Fallen auf. Jedoch die Bloundino hatte sie beobachtet und um ein zweites Mal hineinzutreten, war sie nun doch zu pfiffig. Der Große sah sie schon in der Schlinge, doch sie hüpfte wie eine Gazelle an den Fallen vorbei und verschwand.

„Sapristi …! Die ist doch tatsächlich …“ Knurrte er und kratzte sich den Nacken.

„Haben wir sie?“ Schrie der Lahme von Weitem.

„Kein Glück …! Verflixtes Weib …! Ist die schlau!“

„Ich hab dir ja gesagt. Wir kriegen sie nicht mehr.“

„Jetzt ist Schluss!“ Machte der Große grimmig. „Keine Nahrung, keine Fallen, kein gar nichts …, überhaupt nichts mehr! Sie hält uns zum Narren …, zum Narren, verdammt noch mal!“

Einige Tage lang spazierte sie hin und her am Rande der Lichtung. Sie war immer da, irgendwo in den Büschen. Dann eines Morgens, als der Lahme gähnend aus der Hütte trat, war sie da. Sie saß ruhig auf einem gefällten Baumstamm nur einige Schritte vom Eingang entfernt; so als erwartete sie jemanden. Um sie nicht wieder zu verscheuchen, tat ihr Entdecker als wäre nichts geschehen, drehte sich um und ging wieder hinein.

„Heh ...“. Machte er halblaut. „Sie ist wieder da …, da draußen.“

„Und habe ich dir nicht gesagt, dass sie zurückkommt?“

Er tat so, als wäre er nicht im Geringsten verwundert. Mit dem halben Brot in der Hand, von dem er soeben, ein paar, Scheiben abschneiden wollte, ging er zur Tür.

„Mach dir nicht die Mühe abzuhauen, es wird nicht mehr gespielt. Glaube nur ja nicht, dass ich dir noch mal nachlaufe, ganz zu schweigen von meinem Bruder mit seiner Krücke als Bein. Du kommst jetzt hier hinein und isst mit uns, oder du gehst dir deine Mahlzeit im Wald suchen.“

Dann fiel im ein, dass sie ihn wahrscheinlich überhaupt nicht verstanden hatte. Er machte darauf hin eine einladende Handbewegung und ging wieder hinein.

„Meinst du nicht, dass es besser wäre, sie etwas …, ich meine etwas freundlicher einzuladen?“

„Und ich sag dir, so macht man das, und nicht anders.“

Einige Augenblicke vergingen; die beiden hatten an ihrem „Tisch“ platz genommen. Ein Baumstumpf um den herum sie ihre Behausung gebaut hatten, und begannen ihr Frühstück einzunehmen, als sich die Bloundino mit etwas zögernden Schritten dem Eingang näherte.

„Was habe ich dir soeben gesagt? Da kommt sie ja schon.“

„Nah so was! Es sieht so aus, als hättest du recht. Ich hätte nie gedacht dass …“

„Ehrlich gesagt.“ Unterbrach der Große. “Ich auch nicht.“

„He ... komm rein!“ Winkte der Lahme und erhob sich.

„Komm setz' dich hier.“ Fügte er hinzu, indem er auf seinen Schemel zeigte.

„Ja, setz' dich da hin …, hab keine Angst, es wird schon nichts passieren.“ Dann fügte er hinzu: „Gleich was die, da unten über uns erzählen, wir sind dafür noch lange keine Wilden. Und zu essen ist auch zu Genüge da.“

Was die Nahrung anbelangte, hatten die Brüder Garcia reichlich Vorrat. Sie unterhielten nämlich einen regen Tauschhandel, mit den Fuhrleuten, die ihre Kohle ins Tal transportierten.

Vorsichtig, ohne ein Wort zu sagen, näherte sie sich. Bloundinos große strahlende Augen rollten wie Murmel in ihren Höhlen und fixierten kurz, immer noch bedächtig, abwechselnd die beiden Männer und die Nahrung. Sie zögerte …

„Nun mach schon …, lass endlich deinen Hintern nieder.“

Dann sagte er zu seinem Bruder, der gerade einen Holzklotz herbeischaffte als eigene Sitzgelegenheit:

„War es notwendig etwas von Wilden zu erwähnen?“ Glaubst du, dass sie eine Ahnung davon hat, was man im Tal über uns erzählt? Schau sie dir an …, wilder als sie ..., dann bist du ein toter Mann.“

In der Behausung der Brüder Garcia entspannte sich nach und nach die Atmosphäre. Sie merkten rasch, dass ihr Gast regen Appetit hatte, worüber sie eher erfreut reagierten.

„Gib ihr doch noch ein Ei.“ Sagte der Große mit einem erfreuten Grinsen.

Es war bereits das vierte Ei, das sie schlürfte. Die beiden vergnügten sich köstlich. Jedes Mal wenn sie hastig mit dem Nagel ihres Zeigefingers, ein schnabelförmiges Gebilde, die Schale durchstach, erschallte ein vergnügtes Lachen in der Hütte.

Dass ihre neue Freundin weder taub noch stumm war, hatten sie schon bemerkt, doch von dem was die Bloundino sagte verstanden die beiden kein Wort. Spanisch war es nicht, das war ihnen schon klar, aber außer ein paar Happen dieser Sprache hatten sie keine Ahnung von Fremdsprachen.

Mehrere Monate lang verbrachte die Bloundino im Lager der Brüder Garcia, doch manchmal verschwand sie auch für ein oder zwei Tage. Scheinbar machte sie sich auf um neue Horizonte zu erkunden. Sie näherte sich auch den Orrys im Tal von Artigue. Im Allgemeinen, waren die Hirten die dort den Sommer verbrachten gastlich. Wenige gab es doch die nicht besonders, oder gar überhaupt nicht erfreut über den Besuch einer solch schamlosen Kreatur waren. Dann und wann kam es sogar zu unangenehmen Übergriffen. So stark und flink sie auch war, in jedem Orrys gab es genügend Gegenstände um ein wütendes Monstrum zu bändigen.

Die Garcias konnten nur lächeln, wenn ihre „Frau“ nach einem solch abenteuerlichen Ausflug mit gestreiftem Hinterteil zurückkehrte.

„Ha, ha, ha! So siehst du gut aus!“ Lachte der Lahme, als er sie schweigend vorbei huschen sah.

„Hast du es nötig zu diesen Idioten zu gehen?“ Meinte der Große. „Was fehlt dir hier bei uns?“

„Kann passieren, wenn man schnüffeln geht, wo man nicht soll.“

Wahrscheinlich hätte sie den bevorstehenden Winter warm und sorgenlos mit den Brüdern Garcia verbringen können, doch sie hatte sich anders entschieden.

Als der Sommer dem Ende zu ging, kehrte sie nach Soulcem zurück um Vorräte für den Winter zu sammeln. Bis zum Abstieg der Herden besuchte sie wieder regelmäßig ihre alten Freunde Josef und Sylvain.

Dann verschwand nach und nach das Grün der Wiesen wieder unter einer dicken Schneedecke.

Es war ganz zu Beginn des Winters 1804 -1805. An diesem Tag waren die Temperaturen fast frühlingshaft, sodass der frische Schnee der noch in der Nacht gefallen war, zu schmelzen begann. Die Bloundino nutzte diese vielleicht letzte Gelegenheit, um noch einige Nahrungsmittel einzusammeln.

Gesättigt und beide Hände beladen mit einigen Vorräten kehrte sie am Spätnachmittag in ihr Winterquartier zurück. Nachdem sie die Ernte in ihrer Vorratsecke verstaut hatte, legte sie sich auf ihre frisch gepolsterte Liege und schlief bald ein.

Erschrocken wachte sie plötzlich auf. In der totalen Dunkelheit hatte sie den Eindruck einer Anwesenheit. Als sie einen Augenblick später wieder Herr ihrer Sinne war, vernahm sie ein Geräusch wie ein tiefes Atmen und verspürte in regelmäßigen Abständen einen warmen Luftzug auf der Haut. Als sie dann behutsam ihren Arm ausstreckte, fühlte sie genau neben ihr einen gewaltigen, pelzigen Hügel, welcher dann auch ein leises, scheinbar zufriedenes Grunzen erzeugte. Dieser Eindringling konnte nur ein Bär sein. Bloundino konnte ihn nicht sehen, aber es schien so, als hätte sich das Ungetüm komfortabel eingerichtet und seinen Winterschlaf begonnen. Eine höllische Angst überfiel sie, und sie wäre geflüchtet, wenn diese haarige Masse ihr nicht den Weg versperrt hätte. Die Bloundino war wie eingemauert in ihrer Ecke.

Doch die Zeit war noch nicht angebrochen für den Bären in seinen lethargischen Schlaf zu versinken, welcher wahrscheinlich dann bis zum Frühling gedauert hätte. So erwachte Bloundinos Mitbewohner noch von Zeit zu Zeit, drehte in der Höhle herum und machte sogar noch kurze Ausflüge bis ins Freie.

Zunächst hatte sie in diesen Momenten mehrmals versucht ihre Unterkunft dem Bären zu überlassen, doch ihr Freund entfernte sich immer nur unweit des Eingangs. Sobald sie sich der Öffnung näherte, sah er auf, zeigte jedoch keinerlei Aggressivität ihr gegenüber. Vielleicht waren es die kläglichen Laute, die sie in ihrer Angst von sich gab, die ihn an ein Junges seiner Spezies erinnerten.

Nach einigen Tagen stellte sich ein gegenseitiges Vertrauen ein und man beschloss sich für ein friedliches Zusammenwohnen.

Wenn auch der dickste Einwohner fast die ganze Lagerstätte in Anspruch nahm, blieb genügend Material umher um das Schlafgemach ein wenig zu vergrößern.

Für die Bloundino war die Situation ein nicht zu verachtendes Geschäft und es schien so, als hätte auch der Bär Gefallen an diesem idealen Winterquartier. Eine solch komfortabel ausgestattete Liege hätte er wohl kaum in anderen Höhlen gefunden und versank bald in seinen natürlichen Tiefschlaf. So ausgestattet blieb der Bloundino auch noch genügend Platz und sie konnte sich obendrein in einen wärmenden Pelz vergraben.

Während der Wintermonate hatte die Bloundino reichlich Zeit über das Benehmen ihres tief schlafenden Mitbewohners nachzudenken. Sie stellte sich die irgendwie beunruhigende Frage, ob er sich wohl beim Erwachen im Frühling noch genauso verhalten würde wie vor dem Einschlafen. Doch alles verlief mehr oder weniger reibungslos.

Nur überfiel die Bloundino ein etwas mulmiges Gefühl, als er begann, die Frühlingsluft zu schnuppern, schnaufend hin und her tobte, und begann kleine Bäumchen zu knickten. Was die Bloundino nicht ahnte, war dieses hektische Benehmen keine Aggressivität ihr gegenüber, sondern lediglich eine imposante Demonstration seiner Manneskraft. Dieses Erlebnis hätte trotz allem tragisch enden können, wenn da nicht unerwartet eine junge Bärendame aufgetaucht wäre.

Im Laufe dieses Sommers 1805 verringerte die Bloundino ihre Besuche bei dem Einen und Andern ihrer Freunde im Soulcem und im Tal von Artigue. Sie schien nun mehr angezogen von den Wäldern von Auzat und dem Tal von Vicdessos. Wen der Bär auch die meiste Zeit als Einzelgänger herum trollte, begegneten sie sich doch manchmal wenn auch zufällig für ein kurzes Spielchen oder einen ausgedehnten Spaziergang. So entdeckten sie an den Hängen von Saleix, versteckt im Unterholz eine andere Höhle, welche die Bloundino nun als neues Winterquartier einrichtete.

Der folgende Winter war eher mild. Freilich gab es Schnee in Mengen, doch er blieb schwer und feucht. Während ihr haariger Begleiter seelenruhig schlummerte, nutzte die Bloundino die milde Atmosphäre um hier oder da, ein paar Eier zu entwenden oder gar einem Hühnchen den Hals umzudrehen. Es ergab sich, dass einige höchst erstaunte Einwohner, der abgelegenen Weiler beobachtet hatten, wie eine nur mit ihrem üppigen Haar bekleidete Frau im tiefen Schnee davon eilte.

Unbekannt und Heimatlos

Подняться наверх