Читать книгу Braun & Hammer ...im Wahn - Heinz-Gerhard Witte - Страница 11
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Оглавление20:14 Uhr Der Wetterbericht beendet die Nachrichten und läutet den nächsten Streit der Häuslers ein.
»Ich will heute Abend einfach nur meine Lieblingsserie schauen und mir ist vollkommen egal, was du tun wirst«, zischt Marianne ihrem Mann in einem Tonfall zu, der keine Widerworte duldet.
»Bitte, lass uns nur einmal zusammen beten«, fleht Karl eindringlich.
»Und nach dem ersten Gebet willst du ein zweites und dann noch eins und noch eins. Das kenne ich schon. Gib jetzt Ruhe!«
Karls Pegel der Verzweiflung steigt und zeternd beginnt er, seine Stimme zu erheben. »Wenn wir heute Abend nicht zusammen beten, wird etwas Schreckliches passieren, glaub es mir!«
»Nein!«, schmettert Marianne zunehmend ungehalten.
»Ganz bestimmt! Wie kann dir diese profane Sendung nur wichtiger sein, als sich mit deinem Mann zusammen dem drohenden Unheil in der Welt entgegen zu stemmen?«
Warum konnte es mit Marianne nicht so einfach wie früher zuhause sein? Wobei es nicht nur einfach war, aber vieles war einfacher.
Karls Eltern waren sehr religiös. Sie gingen am Wochenende zur Messe und bei jeder Mahlzeit wurde gebetet. Ihre religiöse Überzeugung ging so weit, dass in jedem Raum ihrer Wohnung, bis auf Keller und Abstellkammer, jeweils ein aufwendig handgeschnitztes Kreuz aufgehängt war.
Für Karl war das alles nicht nur ganz selbstverständlich, sondern er ging auch gerne zur Kirche, weil er sich Gott dort näher fühlte. Für ihn war es in etwa so, als ob er dort einen Freund träfe. Und man kann nicht behaupten, dass der eher schüchterne und etwas sonderbare Karl im echten Leben viele Freunde gehabt hätte. Mit der Grundschulzeit begann sich Karls zunehmende Religiosität auch seines Umgangs mit dem neuen und ungewohnten Leistungsdruck zu bemächtigen. Fühlte er sich anfangs durch die schnöden weltlichen Anforderungen des Einmaleins und der Deutschdiktate noch vollkommen überfordert und ihnen hilflos ausgeliefert, lernte er bald auch hier, seinen direkten Draht zu höheren Mächten zu nutzen. Hatte er anfangs mehr zufällig entdeckt, dass das Rezitieren von Psalmen und inbrünstiger Christe-du-Lamm-Gottes-Gesang vor Klassenarbeiten gegen mit Schweißausbrüchen gepaarter Versagensangst half, so bekam das systematische Beten vor wichtigen Klassenarbeiten im Laufe der Zeit einen immer höheren Stellenwert.
Seine an sich ja selber sehr religiösen Eltern standen den einen oder anderen Abend schweigend und auch ratlos vor Karls Zimmertür. Waren sie anfangs noch ganz verzückt gewesen angesichts der freiwilligen Hingabe ihres Filius an Gott, fragten sie sich doch zunehmend, ob alles in Ordnung mit ihm sei. Mit großen Augen schauten sie sich sorgenvoll an, während unablässig die Gebete aus Karls Zimmer schallten. An dem sich verändernden Lichtschein im Spalt unter der Tür konnten sie erkennen, dass Karl im Rhythmus der Verse in seinem Zimmer auf und ab lief. Um eine Beratungsstelle aufzusuchen waren sowohl die Scham als auch die Angst vor der Antwort, ihr Sohn könne verrückt sein, zu groß. Zudem beruhigte Karls Großmutter, die Mutter seines Vaters, die Eltern, es sei ganz sicher nur eine Phase, die sich von selber wieder lege. So eine Phase habe sie selbst auch gehabt und schließlich sei mit ihr doch auch alles wieder in Ordnung gekommen. Karls Eltern schauten betreten zu Boden und ganz wohl war ihnen immer noch nicht, aber immerhin beschlossen sie, für ihn zu beten und jede Woche mindestens eine Kerze im Dom anzuzünden, auf dass sie von Schlimmerem verschont würden.
Derweil bestätigte sich Karls kindlich-magisches Denken über die Zusammenhänge von hingebungsvollem Gebet und Erfolg in der Schule immer mehr, ohne also durch lästige Fragen von außen gestört zu werden. Und selbst negative Erfahrungen konnten die schlagende innere Logik des Ganzen nicht mehr bremsen. Gab es eine Arbeit zurück und hatte er eine gute Note, führte er es natürlich auf das Gebet zurück. Bei einer schlechten Note, da war er sich ebenso sicher, hatte er einfach nur noch nicht intensiv genug mit Gott gesprochen. Im Gewühl sich stürmisch aufbauender Synapsen in seinem Gehirn wurden auf diese Weise aus anfänglichen Trampelpfaden allmählich neuronale Land- und dann Bundesstraßen und schließlich dreispurige Autobahnen.
Wäre es nach Karl gegangen, hätte er nach dem Abitur sogar Katholische Theologie studiert. Zu seinem großen Leidwesen reichte für den damaligen Numerus Clausus sein Notenschnitt landesweit ganz knapp nicht aus. Bei Verlosungen von Studienplätzen im Rahmen von Sonderkontingenten an Universitäten hatte er kein Glück, Härtefallregelungen zogen nicht und für Stipendien jeglicher Art wurde ihm seine ewige Introvertiertheit zum Fluch. Karl konnte weder gesellschaftliche noch politische Aktivitäten vorweisen, die ihn hätten würdig erscheinen lassen. Und Katholische Theologie war auch nicht das Studienfach, das Parteien oder Gewerkschaften als in ihrem Sinne förderungswürdig erschien. Nicht einmal die Konrad- Adenauer-Stiftung ließ sich von ihm überzeugen.
Obwohl Karl diverse andere Fächer in anderen Städten hätte studieren können, war er doch so entmutigt und frustriert, dass er beschloss, gar nicht zu studieren.
Rückblickend sagt er heute, bei Familienfeiern auf dieses Thema angesprochen, Gott habe es dann wohl nicht so gewollt und er, der junge Karl, habe sich damals demütig diesem Willen Gottes unterworfen. Mit seiner Berufswahl des Elektrikers sei er ja jetzt auch sehr glücklich und auch so könne man Gott dienen, jeder eben an dem Platze, wo ihn der Herr hinstelle. Dennoch sind ihm diese Gespräche bis heute unangenehm und er bekommt jedes Mal Sodbrennen davon, was er sich kaum erklären kann.
Im ersten Lehrjahr als Elektriker freundete er sich mit Barbara an, die er noch aus der Schulzeit kannte. Die ersten Küsse, die sie austauschten, hatten ihm den Kopf verdreht und das Gefühl von Schmetterlingen im Bauch war unvergleichlich.
Ladehemmungen bekam Karl, als sie Sex einforderte. Beim ersten Mal war er noch so überrascht, dass er nicht wusste, was passierte und ließ alles geschehen. Woher sollte er auch Näheres wissen, schließlich war er von seinen Eltern nicht aufgeklärt worden.
Im Verlaufe ihrer Freundschaft wurde der Sex zu einem immer größeren Problem. Karl kam mit seiner religiösen Überzeugung in Konflikt. Zuletzt hatte er sich auferlegt, keinen Sex vor der Ehe zu haben. So hatte er zumindest die Bibel verstanden.
Barbara trennte sich nach zehn Monaten von ihm und erzählte im Freundes- und Bekanntenkreis, er hätte eine Macke, einen Tick und könnte nicht poppen. Das war der Zeitpunkt in Karls Leben, als er für sich feststellte, nur wenigen Menschen vertrauen zu können. Er war auch nicht bereit, seinen Glauben aufzugeben.
Jetzt erst recht nicht!
»Aber ich muss doch unsere Familie schützen! Wir müssen zusammen beten!«
Karl ist aufgebracht und steht wild gestikulierend vor Marianne. Die sitzt mit verschränkten Armen nur da und blickt stur und scheinbar konzentriert an ihm vorbei auf den flimmernden Bildschirm. Erschöpft und hilflos lässt er sich dann in einen der Fernsehsessel fallen, krallt sich mit den Händen in den Armlehnen fest. Die Finger bohren sich tief in das Polster.
Karl weiß, dass seine Frau nicht wirklich in ihre Sendung vertieft ist. Ihr Kiefer bewegt sich mahlend. Vor allem aber ihre Augen irritieren ihn. Sie scheinen einer imaginären und von außen gesteuerten Auf-und-Ab-Kurve mit einer gewissen Amplitude zu folgen, die ihn an etwas erinnert. Er grübelt angestrengt. Dann fällt es ihm ein: Es ist der sinusartige Verlauf einer Kurve, wie er sie aus den Darstellungen über Wechselstrom kennt! Also geht etwas Neuartiges in ihr vor? Etwas beginnt, sie auf merkwürdige Art zu steuern? Es läuft ihm eiskalt über den Rücken. Eine grauenhafte Vorahnung macht sich in ihm breit, ohne dass er sie schon genau benennen könnte.
Jedenfalls muss er gegensteuern, jetzt und sofort, ob sie nun mitzieht oder nicht!
»Vater unser, der du bist im Himmel … geheiligt werde dein Name …«, beginnt er zu intonieren.
Und es funktioniert: Marianne zeigt eine Reaktion, auch wenn sie nicht, wie erhofft, in sein Vaterunser mit einsteigt.
»Halt endlich die Klappe mit deinem Schwachsinn, du … du! Ich halte es nicht mehr aus! Wenn die Kinder nicht wären, dann …«
»Ja, sag es nur. Dir traue ich sogar zu, die Kinder im Stich zu lassen. Wem Fernsehen wichtiger ist als die Sicherheit der Familie, der lässt auch seine Kinder im Stich!«
Karl will sie einfach im Gespräch halten, damit sie nicht wieder in diesen furchtbaren Zustand verfällt.
»Wenn es einer weiß, dann bist du es«, sagt Marianne süffisant und unvermittelt viel ruhiger. Mit zusammengekniffenen Augen und in die Hüfte gestemmten Armen fixiert sie ihn.
Der versteht den letzten Satz seiner Frau nicht mehr. Er hat ihn nicht einmal richtig wahrgenommen. Sein eigener Satz, wem Fernsehen wichtiger sei als die Sicherheit der Familie, der ließe auch seine Kinder im Stich, schlägt dennoch wie eine Bombe ein. Denn in diesem Moment wird ihm die Tragweite seiner eigenen Aussage bewusst und reißt einen tiefen emotionalen Krater. Plötzlich ist er überzeugt, Marianne wird die Kinder allein lassen. Karl ist schockiert. Was würde dann aus den Kindern werden? Würde er alleine die tiefen Verletzungen bei ihnen, das erlebte Trauma, auffangen können? Ist das die Frau, die er einmal aus tiefer Liebe heraus geheiratet hatte?
Langsam reift die grauenhafte Vorahnung zu einer erschütternden Erkenntnis in ihm. Er versucht zwar, sich dagegen zu wehren, aber seine Gedanken rasen wie wild und kennen nur eine Richtung. Egal, wie er es betrachtet oder hin und her dreht, es kann nur eine Erklärung geben: Der Antichrist hat sie schon in seinen Fängen!