Читать книгу Braun & Hammer ...im Wahn - Heinz-Gerhard Witte - Страница 9
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Оглавление»Ach, meine verehrte Frau Krögerschmidt, wie lange sind Sie jetzt bei mir in Behandlung?«, fragt Tilmann seine, in Lebensjahren gesehen, älteste und ihm sehr am Herzen liegende Patientin. Er konnte schon immer gut mit älteren Damen umgehen. Und meistens beruhte diese unausgesprochene Sympathie, ohne dass er es sich hätte erklären können, auf Gegenseitigkeit.
»Ich kann es Ihnen gar nicht genau sagen, aber es sind schon einige Monate, so circa ein halbes Jahr«, sinniert sie etwas in sich gekehrt, »wovon wir allerdings die Urlaubswochen abziehen müssen«, setzt sie in wesentlich bestimmterem Tonfall fort.
Tilmann ist erleichtert, Frau Krögerschmidt wach und innerlich aufgeräumt wirkend zu erleben. Das war nicht immer selbstverständlich.
»Ach ja, Ihre wundervollen Wochen auf Mallorca in dieser, das soll nicht neidisch klingen, herrlichen Finca. Dort ging es Ihnen bestimmt wieder durchweg gut, will ich doch hoffen?« Tilmann weiß, Frau Krögerschmidt mag seine leicht spitzbübische Art und er muss sich dafür auch nicht verstellen. Tilmann ist spitzbübisch durch und durch.
»Ja und nein«, windet sie sich wieder nachdenklicher. »Ja, weil dort geht es mir deutlich besser als in Deutschland, keine Frage, vor allem meine Gemütslage ist dort viel stabiler, auch richtig. Und nein, weil mir aber meine Freundin auf Mallorca immer wieder ganz enorm fehlt, denn gerade da konnten wir ganz unbeschwert leben.«
Ihr Blick ist von Trauer umflort und geht durch Tilmann hindurch.
Er schweigt.
»Dort fühlten wir uns nicht kontrolliert, mussten keinen gesellschaftlichen Zwängen, Vorstellungen und Klischees entsprechen, konnten einfach unsere Liebe ausleben, verstehen Sie?«, ist sie jetzt wieder aufgewühlter. Die Augen seiner Patientin fixieren die seinen fragend.
»Insbesondere ich …«, drängt es sie, direkt fortzusetzen, bricht dann aber in resignierendem Tonfall ab.
Tilmann ist berührt, wie immer, wenn Frau Krögerschmidt von ihren Schicksalsschlägen erzählt und für Momente ihre sonst gewohnte Fassung verliert. Dennoch möchte er sie sich nicht ganz in ihren Emotionen verlieren lassen.
»Frau Krögerschmidt, ich nehme in diesem Moment einerseits sehr viel Trauer und Schmerz wahr …«
Frau Krögerschmidt nickt verhalten, aber zustimmend, während sich ihr für Millisekunden Bilder der verstorbenen Freundin aufdrängen.
»Aber etwas anderes fällt mir noch auf, und vielleicht gibt es einen Zusammenhang zu Aspekten, die wir schon besprochen haben«, fährt Tilmann fort.
»Was denn, Herr Braun?«, ist sie ihrerseits nun ehrlich neugierig und schüttelt die Bilder durch kaum sichtbare Kopfbewegungen weg.
»Also, ich denke gerade, vielleicht gilt für Ihr Lebensgefühl heute etwas Ähnliches wie damals?«
»Ich bin nicht sicher, ob ich Sie vollkommen verstehe?«
»Ich denke über den gesellschaftlichen Druck nach im Zusammenhang mit der Sehnsucht nach Ihrer Freundin.«
»Aha?«
»Je mehr Sie sich auch heute noch den gesellschaftlichen Verpflichtungen verschrieben fühlen, selbst wenn eine Liberalisierung stattgefunden hat, desto stärker empfinden Sie die Depression und umso größer ist die Sehnsucht nach Ihrer Freundin. Was denken Sie über meine halsbrecherische Hypothese?«
Durch Verhaltensanalysen3 hatte Tilmann in den letzten Monaten mit seiner Patientin herausgearbeitet, was ihre Depression in der Gegenwart aufrechterhielt oder gar verstärkte, aber auch, was ihre Symptome linderte. Beiden war aufgefallen, dass alleine der Aspekt des Lebensumfeldes einen entscheidenden Einfluss auf Frau Krögerschmidts Stimmungslage hatte. Deshalb liebt Tilmann seine Verhaltensanalysen auch so sehr, selbst wenn die Bezeichnung eher den Charme von Begriffen wie Kurbelwelle, schnellbindender Zement oder Versorgungsausgleichgesetz versprüht. Mit ihrer Hilfe kann er sogenannte Mikrosituationen auf allen Erlebensebenen einer Patientin in ihrer Symptomatik erfassen. Tilmanns Motto lautet: Ein Therapeut ohne Verhaltensanalyse ist so exakt wie ein Biologe ohne Mikroskop.
»Dann wäre also nicht nur die Sonne Spaniens und die gute Luft auf der Finca gut für mich, sondern unbewusst auch das gesellschaftliche Umfeld, auch wenn Sie lieber von Konditionierung sprechen, Herr Braun?«
Jetzt ist es Frau Krögerschmidt mit ihrem hintergründig- trockenen Humor, die Tilmann zuzwinkert.
»Sie haben doch, wie Sie wissen, Narrenfreiheit bei mir und dürfen auch unbewusst sagen. Aber im Ernst, es war doch erklärungsbedürftig, dass der Depressionstest zwar bestätigte, dass Ihr Leidensdruck erheblich nachgelassen hatte, aber immer noch eine nicht unerhebliche Restsymptomatik bestand und besteht?«
Frau Krögerschmidt windet sich förmlich in ihrem Sessel, wippt nervös mit dem Fuß des rechten Beines, welches sie über das linke geschlagen hat, seufzt.
»Ach, Herr Braun, wenn bei einer alten Frau wie mir Reste von Depressionen bleiben, geht davon sicher die Welt nicht unter. Wen interessiert das schon?«
»Jetzt bin ich aber ehrlich schockiert!«, empört sich Tilmann ernsthaft. »Trotz all ihrer Fortschritte in der Therapie haben Sie immer wieder schlechte Phasen. Ihre Depression meldet sich zurück, klopft bei Ihnen an und freundlich wie Sie sind, bitten Sie sie auch noch herein!«
Zu Frau Krögerschmidt hatte Tilmann von Anfang an eine besondere Beziehung. Er „darf“, trotz ihres erheblichen Leidensdrucks, eigentlich immer wieder auch humorvoll mit ihr umgehen, ohne dass sich Frau Krögerschmidt gekränkt fühlt.
Nur heute geht die gewohnte Leichtigkeit zwischen ihnen irgendwie verloren, denkt Tilmann beunruhigt. Oder besser, irgendetwas Dunkles grätscht subtil dazwischen.
Er wird umgehend in seiner Sorge bestätigt.
Herausfordernd schaut sie Tilmann an. »Aber Herr Braun, jetzt bin ich doch etwas pikiert! Das klingt ja direkt vorwurfsvoll?«
Der wiederum hält dem Blick stand, ist aber verunsichert. Alles ist anders als sonst, und zwar in einer Weise, die er nicht greifen kann. Und Tilmann mag keine Situationen, die er nicht greifen kann.
»Das soll um Gottes Willen kein Vorwurf sein! Im Gegenteil werde ich den Verdacht nicht los, Sie fühlen sich vor allem machtlos gegenüber dem gesellschaftlichen Druck hier in Deutschland. Dann wäre eher das Gefühl der Hilflosigkeit dieser Situation gegenüber der Motor Ihrer Depression, oder?«
Seine Patientin im Sessel gegenüber entspannt sich zu Tilmanns Erleichterung wieder etwas. »So kann ich das schon eher annehmen«, entgegnet sie in versöhnlicherem Ton. »Nur der Vorwurf, der dann wohl kein Vorwurf war, hatte mich doch etwas geärgert!«
Tilmann setzt jetzt alles auf eine Karte. Man muss das Eisen schmieden, solange es heiß ist, sagt er sich: »Der einzige Vorwurf wäre, wenn Sie es überhaupt so nennen wollen, der, dass Sie dem gesellschaftlichen Druck gegenüber vorzeitig … wie soll ich sagen … aufgeben und resignieren?«
Ein langer und ernster, aus zu Schlitzen verengten Augen trifft ihn von der anderen Seite. Frau Krögerschmidt hält den Atem an und Tilmann kann nichts tun, außer zu warten.
Eine gefühlte Ewigkeit später regt sie sich.
»Herr Braun, ja, vielleicht haben Sie recht, wenn Sie anmerken, dass es mir schwer fällt, mit dem Druck und den an mich gestellten Erwartungen umzugehen. Und vielleicht tue mich nach wie vor schwer damit, meine ureigenen Bedürfnisse auszuleben, mein Leben noch aktiver zu gestalten.«
»Ja, ein bisschen kommt es mir bei Ihnen noch so vor. Aber vielleicht nehmen wir das eher als Herausforderung und nicht als Grund zum Resignieren?«
Tilmann wartet ab und hofft, dass seine Worte auf fruchtbaren Boden fallen.
»Danke, dass Sie mich nicht für einen hoffnungslosen Fall halten, aber wie stellen Sie sich das unter den hiesigen Bedingungen vor?«
Tilmann ahnt, dass jetzt vielleicht seine Chance gekommen ist.
»Frau Krögerschmidt, auch in Deutschland, hier zu Hause, könnten Sie bedürfnisgerechte Dinge unternehmen ohne andere zu enttäuschen. Sie können auch hier wirklich nette Menschen treffen! Und Sie müssen dabei ja nicht mal jeder Einladung folgen!«
»Na ja, wenn Sie das so sagen mit dem müssen, muss ich wahrscheinlich mal wieder nichts. Sie wollen mich mal wieder dazu bringen, mehr nein zu sagen, nicht wahr?« Mit einer amüsiert hochgezogenen Augenbraue blickt sie herüber.
»Ich? Wer wäre ich, mir das anzumaßen?«
Willkommen beim edlen Wettstreit der Ritter der Ironie, denkt Tilmann, nun selber angenehm belustigt, aber vor allem erleichtert. Er möchte aber den Ernst der Sache wieder mehr in den Fokus nehmen.
»Und hatten wir nicht noch eine vielleicht etwas banal anmutende Liste mit angenehmen Dingen als Abwehrschild gegen die hinterhältige Depression erstellt?«
Tilmann greift nach seinem Notebook und tut so, als wenn er sich gegen Angreifer zur Wehr setzen muss. »Darf ich überhaupt so respektlos über Ihre Depression reden?«
»Ja schon …«, entgegnet Frau Krögerschmidt zögerlich. Sie versucht tapfer zu lächeln, wendet aber ihren Blick ab und schaut zu Boden.
Eine längere Pause tritt ein. Und es bestätigt sich, dass doch nicht alles Gold ist, was hier heute zwischendurch mal glänzt, denkt Tilmann bedrückt.
»Die Stille sagt mir, dass Sie mit sich selbst im Gespräch sind?«
Langsam hebt Frau Krögerschmidt wieder ihren Blick. Erschreckend glasig sind ihre Augen geworden, denkt Tilmann.
»Herr Braun, Sie wissen, ich komme sehr gerne zu Ihnen. Und Ich sehe auch die Fortschritte in unserer Behandlung, keine Frage. Aber ich muss Ihnen auch sagen, dass mir durch unsere Gespräche immer klarer wird, wie sehr mir meine geliebte Freundin fehlt.«
Pause.
Tilmann weiß, setzt er jetzt zu schnell nach, wird er wieder einen scheinbar paradoxen Abwehrreflex provozieren. Denn bei aller Liebenswürdigkeit dieser Patientin, hat diese zugleich ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Autonomie. Das hatte er zu Beginn der Behandlung etwas unterschätzt, aber bald herausgefunden: Es gab eine klare Grenze bei Frau Krögerschmidt bezüglich der Annahme von noch so gut gemeinten Ratschlägen. Einige Male hatte sie ihm bis dahin vor den Bug schießen müssen.
Zugleich eindringlich und tief traurig schaut sie ihn weiter unvermittelt an.
»Ich kann und will sie nicht ersetzen. Doch manche Erkenntnisse im Leben kommen einem einfach zu spät. Damit muss ich heute leben, so schwer es mir fällt.«
Tilmann beschleicht ein bedrückendes Gefühl nach der Sitzung mit Frau Krögerschmidt. Sie ist gegangen und er hat das Gefühl, etwas Bedeutendes nicht angesprochen zu haben. Eine nagende Ungewissheit bemächtigt sich seiner.
Jetzt, vor seiner Espressomaschine stehend, fällt es ihm wie Schuppen von den Augen. Er befürchtet schlicht und ergreifend, seine Patientin könnte suizidgefährdet sein! Aber warum? Diese diffuse Unsicherheit hat zwar jetzt einen Namen bekommen, erscheint dadurch aber nicht viel lösbarer geworden zu sein.
Hatte Peer nicht beim letzten Treffen gesagt, er habe das Gefühl, die Last der Verantwortung nicht mehr tragen zu können? Sollte dieser Virus jetzt etwa auch auf ihn übergesprungen sein? Selbstzweifel helfen jetzt aber nicht, denkt er und konzentriert sich lieber auf das Problem.
So folgt er wieder dem Gedanken der Suizidgefährdung und sucht nach Anhaltspunkten, die konkrete Hinweise geben könnten. So sehr er sich aber bemüht, es bleibt einfach nur diese schreckliche Ungewissheit. Und bevor diese noch in Verzweiflung umschlägt, beschließt er, seine Patientin zwischen den Sitzungen anzurufen, um sie etwas mehr „kontrollieren“ zu können. Irgendwelche kleinen Anlässe lassen sich dafür schon finden, sagt Tilmann zu sich selbst.
Auch wenn es allen therapeutischen Konventionen widerspricht.