Читать книгу Braun & Hammer ...im Wahn - Heinz-Gerhard Witte - Страница 8
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Оглавление»Ich halte es nicht mehr aus mit dir!«, schreit Marianne, mit hochrotem Kopf und sichtbar stark pulsierender Halsschlagader, ihren Mann an.
»Weil du einfach überhaupt keine Ahnung von dem hast, was sich da draußen abspielt!«, brüllt Karl zurück. Hektisch wischt er sich einige wirre Haarsträhnen aus dem verschwitzten Gesicht.
Seit mehr als einer Stunde streiten sie jetzt heftig und lautstark nach einem Tag, der auch so schon voller Spannungen war. Immer wieder hatten sie sich wegen Kleinigkeiten angeblafft, konnten aber die endgültige Eskalation noch abwenden. Sie hatten sich geschworen, nie vor ihren Kindern zu streiten, um die nicht unnötig in ihre Eheprobleme hineinzuziehen. Ihre Kinder sollten niemals das erleben, was sie selbst in ihrer Kindheit und Jugend hatten durchmachen müssen.
Marianne kommt ursprünglich vom Land. Ihre Eltern hatten damals einen kleinen Bauernhof mit Viehzucht und Ackerbau. Der Erwerb aus der Landwirtschaft konnte die vierköpfige Familie gerade so ernähren, von Wohlstand konnte allerdings keine Rede sein. Zu allem Überfluss trug ihr Vater den schwer verdienten, kargen Gewinn in die Dorfkneipe. Zusätzlich zu dessen Alkoholismus, der regelmäßig Auslöser für Streit war, unterstellte Mariannes Mutter ihrem Mann, er hätte ein Verhältnis mit der Kneipenwirtin. Besonders laut wurde es aber, wenn die Mutter versuchte, mit dem Vater über die Zukunft des Betriebes zu diskutieren. Sie befand sich nämlich im Zustand andauernder Verzweiflung, da sie die Herrin der Zahlen, also der Buchführung, war und sah, dass es so nicht weitergehen konnte.
»Mach doch endlich die Augen auf, sonst gehen wir direkt in die Pleite!« und »Rede endlich mit mir!« sowie »Dann denk doch wenigstens an die Kinder!« waren ihre häufigsten und eindringlichsten Sätze.
Mariannes Vater hingegen, Typ verschrobener Bauer, wie sie rückblickend abfällig bemerkte, ließ in seiner Starrköpfigkeit nicht mit sich reden. Er ging seinen gewohnten Gang in nervtötender, stoischer Ruhe weiter. Seine entsprechenden, gebetsmühlenartigen Antworten lauteten »Ich weiß gar nicht, was du hast?« und »Diskutier nicht mit mir!« sowie »Du bist doch einfach nur hysterisch!« So ließ er Mariannes Mutter in schöner Regelmäßigkeit auflaufen. Aber an einem ganz speziellen seiner sogenannten blauen Tage ging ihr Vater weiter als sonst, viel weiter. In seinem Suff tönte er, breitbeinig auf den speckigen Polstern der Eckbank sitzend, höhnisch zurück: »Ich hab's doch wie immer voll im Griff, aber du kapierst es nicht, weil du ja sogar zum Scheißen zu doof bist! Kannst dich direkt zu unseren durchgeknallten Kühen in die Reihe stellen, passt schon mit deinen fetten Euterhängetitten!«
Das saß. Mariannes Mutter lief rot an, stand, bebend vor Zorn, da, konnte aber zur diebischen Freude des Vaters zunächst nichts erwidern. Heute konnte er endlich gewinnen, hoffte er und holte zum vermeintlich entscheidenden Schlag aus. Mit glasigem Blick und mehr lallspuckend als geordnet sprechend rief er mit heiserer Stimme: »Und deine feine Tochter kannst du direkt mitnehmen, die ist nämlich auch nichts besser als du!«
In diesem Moment konnte Mariannes Mutter nicht mehr an sich halten und rastete aus. Für sich selbst konnte sie vielleicht nicht so gut einstehen, aber wenn es um ihre Kinder ging, wurde sie zum Raubtier. Sie schrie, nein, sie brüllte ihren Mann so laut an, dass die Katzen auf der Diele ängstlich auseinanderstoben und der räudige Hund sich verstört hinter einem Stapel Heuballen verkroch. Sogar die Hühner draußen flogen erschrocken auf und suchten Schutz im Gestrüpp an der alten Umgrenzungsmauer aus Sandstein.
Die Kinder, Marianne, damals neun Jahre alt, und ihr zwei Jahre jüngerer Bruder Thomas, flüchteten sich in den Schutz des Dämmerlichtes im großen Flur. Sie kauerten in der Nische zwischen großem Eichenschrank und kalter Wand. Die beiden hielten sich, eng umschlungen, aneinander fest. Ihr kleiner Bruder sagte mit brüchiger Stimme und Tränen in den Augen: »Der Sturm bricht los. Rette sich wer kann.«
Es war beileibe nicht der erste Sturm dieser Art, wenn auch einer der heftigeren, und es sollte nicht der letzte gewesen sein. Marianne war im Laufe ihrer Jugend innerlich immer mehr zerrissen und zermürbt angesichts der ewigen Anfeindungen zwischen ihren Eltern, aber auch der Demütigungen von Seiten des Vaters.
Sie wollte raus aus allem, aber sie konnte einfach nicht und sie wollte ihren jüngeren Bruder nicht alleine und diesem andauernden Albtraum ausgesetzt zurücklassen.
Aber schließlich kam eine Zeit, über die sie später nur ungerne sprach, in der es auf dem Hof besonders schlimm zuging. Die Alkoholexzesse ihres Vaters erreichten ihren Höhepunkt und Ihre Mutter traf, nicht zuletzt auf Druck des Jugendamtes, die schmerzhafteste Entscheidung ihres Lebens. Sie gab Marianne, als diese dreizehn war, für letztlich drei Jahre in ein Kinderheim. Und dieser Aufenthalt hatte tiefe und beileibe nicht nur positive Spuren bei ihr hinterlassen, sondern zusätzlich und, paradoxerweise, ein quälend schlechtes Gewissen dem Bruder gegenüber.
Obwohl Thomas bei der Mutter blieb, die sich hatte scheiden lassen, vom Hof weggegangen war und ihren Sohn mehr schlecht als recht alleine erzog, war bei Marianne ein schlechtes Gewissen zurückgeblieben, so als habe sie ihn alleine gelassen.
Was sie die Zeit im Heim allerdings ertragen ließ, war, dass sie ihre erste und große Liebe Markus kennenlernte. Diese Beziehung dauerte zwei Jahre und endete tragisch, prägte sie aber bis heute in vielerlei Hinsicht. Manches davon ließ sie ihr näheres Umfeld, wie auch später Karl, wissen, manches hingegen behielt sie eisern für sich.
Mit sechzehn jedenfalls stellte sie sich auf die eigenen Beine, machte nach ihrem Hauptschulabschluss eine Lehre zur Schneiderin und damit im wahrsten Sinne des Wortes auch einen Schnitt zu ihrer Vergangenheit.
Zwei eiserne Vorsätze, die Marianne die Zeit bis dahin moralisch und emotional überleben ließen, hatte sie gefasst. Niemals würde sie sich, so wie ihre Mutter, von einem Mann abhängig machen. Und nie würde sie, in einer ganz sicher besseren Zukunft, vor den eigenen Kindern streiten, komme, was da wolle. Sie schwor sich mehr als einmal, später das pure Kontrastprogramm zu ihrer Vergangenheit zu leben. Dieses würde sie mit Selbstschussanlagen und Nato-Draht zu sichern wissen und dann wie auf einem weißen Blatt Papier ein neues Leben anfangen.
Am heutigen späten Sonntagvormittag, Sarah und David haben sich zum Spielen zurückgezogen und vorsichtshalber schon auf Durchzug gestellt, droht also Sturm im Familienparadies.
Nachdem sie bereits morgens um sechs Uhr mit Mann, Kindern und knirschenden Zähnen in die Frühmesse musste, will Karl jetzt, um elf, schon wieder zur Kirche. Und, wie könnte es anders sein, insistiert er, alle müssten nochmal mit.
Sie ist schon so weit, Sarah zu motivieren, mitzugehen, damit Ruhe einkehrt. Denn Marianne beobachtet, zunehmend skeptisch, dass Sarah dem ganzen Brimborium sogar etwas abzugewinnen scheint. Dieser Glanz in den Augen ihrer Tochter, wenn sie zum Heiligen Abendmahl schreiten, gefällt ihr gar nicht. Marianne beobachtet das scharf aus den Augenwinkeln. In ihrer Jugend trug sie, nicht ohne Stolz, den Spitznamen Adlerauge. Aber schaut sie ihre Tochter heute in diesen Situationen direkt an, blickt Sarah augenblicklich mürrisch drein. Dieses kleine, falsche Biest, denkt Marianne dann für sich. Falls Sarah sich einbilden sollte, die eigene Mutter merke das nicht, dann hat die sich aber geschnitten!
Aber jetzt wäre es ihr sogar recht, Sarah ginge mit ihrem Vater. Von einem Mal mehr wird sie schon nicht, wie Karl, zu einer verlorenen Seele werden, beruhigt Marianne ihre aufwallenden Ambivalenzen.
Aber sie hat die Rechnung ohne Karl gemacht.
»Marianne«, erwidert er eindringlich, fast flehentlich, »so kannst du doch den Herrn nicht abspeisen!«
»Abspeisen? Sag mal, wer hat dir denn ins Gehirn gesch …«, will sie gerade Fahrt aufnehmen.
»Marianne, du lässt dich schon wieder gehen!«, fällt Karl ihr ins Wort und setzt nach: »Und wie oft habe ich dir zu erklären versucht, dass von der Konstellation her asymmetrisch besuchte Messen innerhalb eines Tages schon der verheerende Anfang vom Ende sein können. Also alle oder keiner!« Karl reckt Marianne herausfordernd sein Kinn entgegen.
»Ja dann eben jetzt keiner! Du machst dich doch eh nur wichtig!« »Ich halt's nicht aus. Herr, gib mir die Geduld mit diesem im Geiste unverständigen, aber nicht eigentlich bösartigen Weib, auf das auch sie auf den rechten Weg …«
»Karl«, braust Marianne, erstmals heftiger, auf, »rede nicht wieder so, als ob ich geistig minderbemittelt bin und du der Retter der Welt wärst!« Ein letztes Mal versucht sie, sich zusammenzureißen und an die Vernunft ihres Mannes zu appellieren: »Also, wenn die Welt tatsächlich untergehen würde, weil irgendwelche streng gläubigen Menschen irgendwo auf der Welt, du bist ja nicht der Einzige, asymmetrisch die Messen besuchen, wäre der beschissene Erdball schon Millionen Male explodiert oder implodiert oder was auch immer!«
Karl hält einen Moment inne und fast wirkt es, als gebe es einen mutigen Aufstand der Rationalität in seinem Frontalhirn, bis seine Pupillen sich wieder schlagartig weiten. Mit verklärtselbstgewissem Blick schaut er ins Nirgendwo, an Marianne vorbei.
»Karl, du treibst nicht nur mich in den Wahnsinn, du bist es doch selbst! Du machst mir Angst!«
Zeternd steht sie vor Karl, der wiederum so ruhig bleibt, wie das dicke Zopfmuster auf der dunkelgrauen Strickjacke, die er nur zu den Messen anzieht.
»Aber ganz im Gegenteil, du musstest dir noch nie so wenig Sorgen um mich oder dich oder die Kinder machen wie heute! Ich möchte dir aus deiner Verblendung heraushelfen, damit auch du das Licht des Herrn schauen kannst! Denn siehe, wie man sogar in der Chaostheorie nachlesen kann, und so die Wissenschaft sich am Ende auch dem Glauben unterwirft, auch wenn sie es nie zugeben würde, kann der Flügelschlag eines Schmetterlings auf der einen Seite des überhaupt nicht beschissenen Erdballs, gepriesen sei die Schöpfung, einen vernichtenden Sturm auf der anderen Seite entfesseln! Und wenn das so ist, kann erst recht die sündige Verfehlung eines asymmetrischen Besuchs von Messen den Untergang der Welt herbeiführen, vor allem, wenn es um einen Ausgewählten geht! Das wirkt dann, wie soll ich es dir erklären, einem Verstärker gleich. Und mit Verstärkern kenne ich mich aus, wie du weißt. Und wenn der Auserwählte, von denen es sicher mehrere und ganz verschiedene gibt, nicht nur einem kleinen Transformatorhäuschen auf dem Land entspricht, sondern einem großen und zentralen Umspannwerk, und das habe ich mir ja nicht ausgesucht, dann hat ein Fehler bei ihm natürlich viel größere Auswirkungen und dann kann das ganze Netz zusammenbrechen, und am Ende die Ordnung der gesamten Zivilisation, nicht nur die materielle, auch die geistige! Jetzt leuchtet dir sicher ein, warum wir nochmal zur Messe müssen und es in Zukunft bitte nicht mehr jedes Mal zu diskutieren brauchen!«
Marianne wird jetzt nicht nur vom Inhalt der Gedanken ihres Mannes übel, es ist besonders diese singsangartige Melodie, die arrogante Betonung und die altmodische Sprachwahl, mit der Karl sich unnahbar macht, sich ihr entzieht und sie in Ohnmacht stürzen lässt. Da tun sich mit Macht die Abgründe ihrer Vergangenheit auf und auch sie hört die Stimme des Herrn, aber nicht die eines Gottes, sondern die ihres alten Herrn, ihres Vaters. Augenblicklich gerät ihr ganzer Körper in Aufruhr, rast der Puls, muss sie sich fast übergeben, schwitzt und bebt sie, während sie fassungslos ihren Mann anstarrt, der weiterhin milde vor sich hinlächelt.
Mit Macht kommt ein Impuls über sie, mehr einem Instinkt als einem vernünftigen Plan gleich, wie sie noch zu ihm durchdringen und ihren eigenen, unerträglichen Zustand beenden kann. Sie muss zur Brechstange puren, ungezügelten Zorns greifen!
»Du und dein beschissener Glaube machen mich noch völlig verrückt!«, platzt es aus ihr heraus.
»Aber Marianne, du weißt doch, wer laut wird hat Unrecht …«, beschwichtigt Karl vordergründig, weiß aber in der Tiefe seines passiv-aggressiven Herzens, dass er seine Frau so garantiert noch mehr in Rage bringt.
Was natürlich, wie sollte es anders sein, auch prompt passiert.
»Ich hasse es sowieso, wenn du so widerlich salbungsvoll daher quatschst! Überhaupt die ganze Zeit dieser total verlogene Scheiß mit Kirche und heiliger Messe! Und jetzt bist du zu allem Überfluss nicht nur ein Auserwählter, sondern eines der zentralen, spirituellen Umspannwerke im Universum? Was bist du als nächstes? Die rechte Hand Gottes? Gott selber?«
Aus „Sturm Marianne“ droht „Orkan Marianne“ zu werden. Und wenn der losbräche, das weiß auch Karl, würde alles, was sich ihm in den Weg stellte, auf die eine oder andere Art platt gemacht werden.
Dennoch verspürt er eine seltsame Versuchung, diese Naturgewalt auf der anderen Seite endgültig loszutreten.
»Du willst es einfach nicht verstehen, nein, du kannst es dir mit deinem Spatzenhirn auch nicht im Entferntesten vorstellen, welche Bedeutung das alles hat, welchen Einfluss meine Gebete haben! Im Gegenteil, anstatt froh und dankbar zu sein, an der Seite des Mannes leben zu dürfen, der maßgeblich alles mit im Lot hält, machst du mir Vorwürfe und willst nicht mal deinen geringen Anteil leisten, mit dem du mich unterstützen könntest.«
Karl hält dem jetzt laserstrahlartigen Blick seiner vor Zorn bebenden Frau gefasst und herausfordernd lächelnd stand.
Und wieder ist es diese kühle Arroganz ihres Mannes, die jetzt auch die letzte Fessel ihrer guten Vorsätze sprengt. Lautstark bricht aus ihr heraus, was sie um der Kinder Willen bis vor zehn Sekunden noch zurückzuhalten versucht hatte: »Du willst mir, die ich wahrlich viel im Leben durchgemacht habe an Verlogenheit, erzählen, ich soll auf das hören und das glauben, was diese Schmierlappen im Namen Gottes von ihren goldenen Kanzeln verkünden? Im Namen eines Gottes, der mir noch nie geholfen hat und der noch nie irgendwem geholfen hat? Und falls er jemals, jemals, versucht haben sollte zu helfen, hatte er eine sehr merkwürdige Art, das zu zeigen, dein toller Gott. Nee Karl, es tut mir furchtbar leid, aber die Kirche ist in meinen Augen kein Stück besser als alle anderen Sekten auch und ihre größte Stärke ist es, Menschen wie dich nach Strich und Faden zu verarschen! Mit Erfolg, das muss man ihnen lassen, aber vor allem, weil Menschen wie du verarscht werden wollen. Ihr seid wie treudoofe Junkies, die jeden Sonntag in die Kirche rennen, um sich den nächsten Schuss von ihrem Dealer zu erbetteln. Mehr nicht!«
Marianne presst ihre letzten Worte laut und verachtend mit heiserer Stimme und sichtlich geschwollenem Hals mehr heraus, als dass sie noch geordnet spräche. Körperlich ist sie auf Hochspannung, wippt in ihren Hausschuhen unmerklich auf den Fußballen, wie ein erregter Olympiasprinter, der den Startschuss nicht abwarten kann.
Mit tiefer Genugtuung nimmt sie wahr, dass es jetzt die Gesichtszüge des vor ihr sitzenden Karls sind, die für einen entscheidenden Moment entgleisen. Sie weiß, dass sie ihn ins Mark getroffen hat, wie selten zuvor. Vor ihrem geistigen Auge, in ihrer überbordenden Fantasiewelt, die sie mit niemandem je geteilt hat, bläst ein Reiter das Jagdhorn und verkündet nach blutiger und schweißtreibender Hetzjagd, der äußerst wehrhafte Keiler sei erlegt.
Als sie jedoch die erhobene Lanze auf das sterbende, schlammverkrustete und am Boden liegende Tier richtet, bäumt sich dieses blitzschnell vor den entsetzten Augen der umstehenden Jägerschaft auf. Es rast wütend direkt auf Reiterin Marianne los, hat nichts mehr zu verlieren. Ihre geworfene Lanze streift aber noch schmerzhaft schlitzend seinen Hinterschinken.
»Karl, du hältst dich für so toll und überlegen, dabei bist du das ärmste Würstchen, das ich …«, aber der Keiler hakt im Sprung einen unteren Stoßzahn, der besonders gekrümmt aus seinem geifernden Maul ragt, hinter ihre ungeschützte Achillessehne. Diese dehnt sich zwar gefährlich und das umliegende Gewebe reißt in alle Richtungen, hält aber, so dass die fassungslose und vor Schmerz besinnungslos zu werden drohende Reiterin, den Gesetzen der Masse gehorchend, vom Pferd gerissen wird und hart aufschlägt.
»Marianne, du bist und bleibst die gnadenlos und unbeschreiblich dumme Bäuerin, die du immer warst und jeder weiß es, außer dir bornierter Kuh, da du sogar zu dumm bist, um deine himmelschreiende Dummheit zu erkennen!«
Doch die Hand der Reiterin krallt sich entschlossen im Wegschleifen um eine Baumwurzel und ihre Achillessehne reißt mit einem knallartigen Geräusch. Der zur Lichtung strebende Keiler, dort will er seine Todfeindin lustvoll zerfetzen, überschlägt sich und bleibt schreckstarr einen Moment liegen.
»Karl, ich mag ja durchaus eine Spätzünderin sein, dafür bin ich aber im Gegensatz zu dir nicht dem Wahnsinn verfallen und erkenne die billigen Lügen deiner dämlichen Pfaffen, hinter deren Rockschößen du verblendet herrennst, weil du ansonsten kein Rückgrat hast, du charakterloser…«
Der Keiler berappelt sich ein letztes Mal und rast in einem Wirbel aus Tannennadeln und Erdbrocken auf die scheinbar hilflos auf dem Rücken liegende Reiterin zu, will sie gleich hier und jetzt erledigen, ist schon bei und fast über ihr.
»Hätte dich dein ansonsten nutzloser, saufender Vater doch einfach im Tümpel hinter dem Hof ertränkt, als du noch nicht zu fett und maschinenartig warst, das hätte mir und der Welt einiges an Leid …«
Doch die Reiterin reißt ein gezacktes Jagdmesser aus seiner Scheide und rammt es dem sich mit Wucht auf sie wälzenden Keiler bis zum Schaft in die ungeschützte Flanke.
»Und hätte dich doch der ach so heilige Weihbischof direkt erwürgt, nachdem er dem unschuldigen süßen Ministranten Karl eh gerade das Maul gestopft hatte …«
»Marianne, wie verzweifelt musst du dämlichstes Wesen unter der Sonne eigentlich sein, um jetzt auch noch mit perfiden, gotteslästerlichen Behauptungen um die Ecke zu kommen?«, ringt Karl um Fassung, während ihm der kalte Schweiß ausbricht und sich plötzlich sein Hals zuschnürt.
»Lügen? Oder einfach nur die grausame Wahrheit, die der arme geschundene Karl immer wieder in seinen lebhaften Träumen rausposaunt, wenn er mal seine geschätzte Kontrolle so gänzlich verliert! Ich bin vielleicht nicht hochbegabt, aber hören kann ich immer noch ganz gut …!«
Während der Keiler versucht, seine Feindin mit seiner puren Körpermasse zu ersticken, hoffnungsfroh hört er ein erstes Krachen einer ihrer Rippen, dreht sie mit letzter Kraft das Messer in seiner Flanke. Wenn sie hier und jetzt sterben müsste, würde sie nicht alleine sterben.
Karl holt zum letzten Verzweiflungsschlag aus und ihm ist klar, dass selbiger sitzen muss, will er jetzt nicht endgültig untergehen: »Natürlich lügst du!«, schleudert er seiner Frau entgegen, erhebt sich aus dem Sessel und kommt der ihrerseits verdutzten Marianne ungewöhnlich nahe. Ehe sie sich versieht, greift er mit Daumen und Zeigefinger seiner zitternden rechten Hand nach einem Röllchen ihres Doppelkinns, kneift hinein und zieht daran. »Aber wie soll aus einem derart hässlichen Mund auch etwas so Reines und Schönes wie die Wahrheit kommen?«
»Du Arschloch!«, vergisst sich Marianne endgültig, holt mit ihrer Rechten aus.
Instinktiv kann Karl den Schlag noch abwehren, packt den Unterarm seiner Frau fest.
Die wird noch wütender und schlägt ihm stattdessen die geballte, aber schwächere Linke ins Gesicht. Die trifft irgendwo, schwungvoll genug, zwischen Jochbein und Oberkiefer. Karls Brille wirbelt durch die Luft.
Regungslosigkeit.
Das hätte er seiner Frau nicht zugetraut. Fassungslos streicht Karl, den Kopf hängen lassend, mit der Hand über die vor Schmerz brennende, rechte Gesichtshälfte.
»Aber Jesus sagt: `Wenn dich jemand auf die rechte Backe schlägt, dann halte auch die linke hin´ …!« Mit herausforderndem Blick wendet er sich wieder seiner Frau zu und reckt ihr die linke Gesichtshälfte entgegen.
Stille.
»Also – schlag zu!«
Marianne steht wie zur Salzsäule erstarrt da. Hat sie gerade wirklich ihren eigenen Mann geschlagen? Sie, die zuvor noch keinem Menschen Gewalt angetan hat? Zugleich ist es, nach dieser unglaublichen Beleidigung, eine richtige Befreiung und Genugtuung für sie.
Keiler und Reiterin, beide schwerstens verwundet, liegen knäuelartig ineinander verschränkt und niemand aus der hilflosen, nun hinzu geeilten Reiterschaft könnte beurteilen, ob da irgendwo unter Schlamm und Blut noch Leben ist.
Was Karl und Marianne, die sich jetzt schweigend und benommen voneinander abwenden, nicht mitbekommen haben: Ihre Kinder, Sarah und David, stehen still weinend im Flur. Durch den Spalt der nur angelehnten Tür zum Wohnzimmer haben sie, starr vor Schock, dieses Drama gesehen und gehört. Sie haben vielleicht nicht alles verstanden, aber in diesem Moment sind zwei kleine Welten untergegangen.