Читать книгу Robert Capa und Hemingways Geschichte - Heinz-Joachim Simon - Страница 7
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Sie schlugen ihn. Sein Gesicht war dunkel, und sie schlugen ihn. Junge Männer mit rasierten Köpfen und hohen schwarzen Schnürstiefeln schlugen den Mann zu Boden. Ich tat nichts und ging weiter. Ich hörte seine Schreie. Aber ich ging weiter. Mir hatten sie nichts getan.
Doch das Bild des Mannes am Boden ist seitdem in mir. Längst weiß ich, ihre Schläge galten auch mir. Haben wir nichts daraus gelernt? Gar nichts daraus gelernt? Es passierte doch schon einmal …
Es waren Tage der Gewalt. Es geschah in Berlin und in Paris und Wien und auch in Budapest. Das Böse begann bereits 1931 Europa in Besitz zu nehmen. Er war noch ein Junge, sah aber bereits aus wie ein Mann, und sie schlugen ihn mit Wut und Verachtung und Berechnung. Und er, André, lachte. Auch deswegen schlugen sie ihn. Der Polizeioffizier sah dabei zu, saß breitbeinig auf einem Stuhl in der Wachstube des Präsidiums und sah zu und pfiff dabei einen deutschen Schlager. Das Lied vom Kleinen grünen Kaktus. Mit gespitztem Mund nickte er seinen Männern zu. Ihn amüsierte der Frechdachs mit den mutwilligen Augen und dem unbändigen Haarschopf. Sie wollten nichts von ihm. Sie wollten nur strafen.
So war das damals im Budapest des Horthy. André war auf einer Demonstration gewesen, und sie hatten ihn aus dem Marschzug herausgegriffen. Er war auf fast allen Demonstrationen des letzten Jahres gewesen. Niemand hatte ihn dazu angehalten. Er war nicht einmal ein Kommunist, wie sie ihn schimpften. Er war ein Jude, aber das war ihm nur am Passahfest bewusst. Aber er wusste, was Recht und Unrecht war. Damals wusste man dies. Sie lebten nicht in Buda, sondern im weniger mondänen Pest, in dem sich auch leben ließ, obwohl man Angst und Elend und Zorn sehen konnte. Er war in dem Alter, in dem man nicht einsieht, dass die einen in Armut leben und die anderen in Buda in weißen Villen, die Licht verströmten und aus denen in lauen Sommernächten Musik und das perlende Lachen elegant gekleideter Frauen zu hören war.
Er marschierte hinter roten Fahnen her, aber er ging auch gern nach Buda hinaus und betrachtete sehnsuchtsvoll die weißen Villen mit den chromblitzenden Automobilen davor, aus denen Menschen stiegen, die ihm so anders erschienen als die in Pest. Sie zeigten eine Anmut und eine Leichtigkeit des Lebens, die niemand in seiner Straße kannte. Er neidete es ihnen nicht. Neid war ihm zeit seines Lebens fremd. Aber in seinen jungen Jahren sah er nicht ein, warum nicht alle so leben konnten. Das war sein ganzer Kommunismus, und er war siebzehn Jahre alt. Ein Alter, in dem sich die Weichen eines Lebens entscheiden.
Er sah also älter aus, als er war, und in Pest, in der Vorashâzstraße war er der Anführer einer Jugendbande, die manchen Unfug trieb, doch deren größte Missetat bestand darin, die Kaufleute in der Parisi Udvar Passage um einige Flaschen Tokajer oder einige Päckchen Zigaretten zu erleichtern. Man schrieb ihnen auch eingeworfene Fensterscheiben und besudelte Wände zu, die zum Widerstand gegen den Kapitalismus aufriefen, was nicht in jedem Fall zutraf. Die Mädchen der Besayhö–Familie, die neben dem Modeatelier der Mutter wohnten, sahen in ihm einen Helden, obwohl sie doch einem Adelsgeschlecht angehörten und er, André, nur der Sohn des Modeschneiders Friedmann war, der als notorischer Spieler und ‚Bruder Leichtfuß’ galt, dessen Modeatelier jedoch durch die Tatkraft der Mutter selbst für die Budapester Gesellschaft ein Begriff war, denn die Frauen der Honoratioren Budapests bestellten ihre Kleider im Modeatelier Friedmann in der Varoshâzstraße 10.
André haftete schon damals diese Aura des Besonderen an. Es war noch verpuppt, aber später sprach man davon, dass er an Kiplings Lord Jim oder Fitzgeralds Gatsby erinnerte, und manche Freunde in seiner Pariser Zeit verglichen ihn mit der Eleganz und dem Esprit eines Byron. So etwas war schon zu erahnen, selbst wenn er noch in kurzen Hosen mit dem verwegenen Lächeln eines D’Artagnan durch Pest stolzierte und sich von den Besayhö–Mädchen bewundern ließ. Er war sich seines Wertes bewusst. Schon damals ging er davon aus, dass er Großes erreichen würde, wenn er auch nicht hätte sagen können, was dies war. Selbst mit seinem ewig zerzausten ungebärdigen Haar und dem schmutzigen Gesicht waren die Besayhö–Mädchen davon überzeugt, dass er etwas zu werden versprach wie die Ritter in den Romanen von Sir Walter Scott. Ein Ivanhoe.
Und nun schlugen ihn die Polizisten. Sie hatten ihn in die Wachstube gestoßen. Einer von vielen. Grobe Hände drückten seinen Kopf herunter und hielten seine Hände fest, und Faustschläge prasselten auf ihn ein. So taten sie es bei allen. Aber diese lachten nicht und er, André Friedmann, trotzte den Schmerzen und lachte mit blutigem Gesicht. Der Polizeioffizier in der prall sitzenden Uniform und einem feisten selbstzufriedenen Gesicht feuerte seine Männer an, härter zuzuschlagen. Sie hörten es gern.
Als er aufwachte, befand sich André in einer Zelle. Benommen rappelte er sich hoch. Der Kopf tat ihm weh, der Kiefer und die Rippen und der Schritt. Oh ja, sie hatten sich redlich Mühe gegeben. Er unterdrückte die Tränen. Zeig es ihnen nicht, forderte er sich auf. Du bist André Friedmann. Kümmere dich um das Wesentliche. Wie kommst du hier raus? Es war eine große Zelle. Neben ihm lagen andere, auch kaum älter als er. Einige waren aus seiner Straße. Unter ihnen Szandor, den sie Duck nannten, wegen seiner untersetzten Gestalt und seinem watschelnden Gang. Szandor war mehr als ein Kamerad. Er war sein erster Gefolgsmann, ein Freund, verlässlich und treu, zudem stark wie ein Ringer. Von Natur aus gutmütig, setzte er seine Kräfte nur ein, wenn er gereizt wurde oder der von ihm verehrte Anführer es verlangte.
„Na Kumpel, wie geht’s dir?“, fragte André und versuchte das Lächeln, das in dem Filmen aus Amerika sein Held Douglas Fairbanks lächelte.
Diesmal gelang es ihm nicht besonders gut. Der Kiefer schmerzte. Seine Stimme hörte sich an wie das Krächzen der Raben über der Festung Buda.
„So, wie du aussiehst, fühle ich mich!“, stöhnte Duck und verdrehte die Augen. „Was werden die mit uns machen?“
„Was sollen sie noch mit uns machen? Die Prügel haben sie uns doch schon verabreicht. Sie werden uns laufen lassen.“
„Die Frage ist nur: wann.“
„Mach dir keine Sorgen. Sie werden sich kaum unnütze Esser ins Haus holen. Für die sind wir doch nicht wichtig.“
„Es gibt Gerüchte, dass Verhaftete verschwunden sind. Einfach verschwunden.“
„Das waren Parteimitglieder. Funktionäre. Wir sind noch nicht einmal Mitglieder bei den Jungen Pionieren. Nein, wir sind zu unwichtig für sie!“, widersprach André.
Er sah zum Fenster über ihnen, durch das das erste Licht des Morgens in die Zelle fiel. Eine ganze Nacht waren sie nun im Polizeigefängnis von Budapest. Langsam fielen Sonnenstrahlen in die Zelle. Aber dies verbesserte nicht den Anblick. Sie waren acht Jugendliche und sie sahen alle nicht besonders gesund aus. Die Wände glänzten feucht. Es war kalt in der Zelle.
„Wir sollten abhauen“, sagte André und reckte sich.
„Hier kommen wir nicht raus“, widersprach Duck mutlos.
„Nein. So meine ich es nicht. Wir sollten aus Ungarn abhauen. Hier wird nichts aus uns.“
„Und wo willst du hin?“
„Nach Deutschland.“
„Auch da gibt es Faschisten. Vielleicht Schlimmere als bei uns.“
„Wo gibt es keine Faschisten?“
„In Amerika.“
„Ich weiß nicht. Da sind die Neger die Juden!“, widersprach André nachdenklich.
Gewiss, Amerika war eine Alternative. Aber er hatte Jack London gelesen und Sinclair Lewis. Alles schien dort auch nicht in Ordnung zu sein.
Er war ein großer Leser und Stammgast in der Öffentlichen Bibliothek des Belváros–Viertels. Zuerst hatte ihn die Geschichte der Griechen begeistert, und er kannte sich aus mit den Heldentaten eines Achilleus oder Odysseus. Lange Zeit war das Haus mit den vornehmen weißen Säulen, das der Varoshâz–Straße 10 gegenüberlag, die Burg des Priamos gewesen, sein Troja. Später hatten ihn dann Dumas, Hugo und Zola in den Bann geschlagen, und schließlich war er bei den Amerikanern gelandet, und er kannte einiges von Jack London, Sinclair Lewis und sogar von Fitzgerald und Hemingway. Die Romane waren für ihn Leben. Es passierte wirklich. In seinem Kopf. Immer wieder. Tagträume, die ihn dazu verführten, Wagnisse einzugehen, über die die Mutter die Hände über dem Kopf zusammenschlug. Man gab in der Familie Friedmann nicht allzu viel auf Romane. Das Leben war ohnehin schwer genug.
Im Zellengang waren Schritte zu hören. Alle strafften sich. Die Angst vor weiteren Schlägen stand ihnen im Gesicht.
„Sie holen uns!“, flüsterte Duck panisch.
Zwei Polizisten standen vor der Zelle. Aber ihre Knüppel hingen noch an ihren Gürteln. Sie schlossen die Zelle auf.
„Wer von euch Pack ist André Friedmann?“, schrie der Rotbäckige der beiden Polizisten.
André wusste nur zu gut, dass sein gemütliches Gesicht täuschte.
Er trat vor. Duck stieß einen warnenden Laut aus. André zuckte mit den Schultern.
„Das bin ich!“, sagte er und versuchte, selbstbewusst dreinzublicken. Er durfte diesen Männern gegenüber keine Angst zeigen.
„Auch noch der Unverschämteste der Bande!“, knurrte der Polizist, dessen Stiernacken Drohung genug war.
„Komm mit, Judenschwein!“, sagte der Rotbäckige.
André warf dem Freund einen entschuldigenden Blick zu und ging zur Tür. „Wir sehen uns morgen vor dem Corona–Café“, sagte er lässig zu Duck, und es klang so bestimmt, als spräche er diese Verabredung in der Varoshâz–Straße aus.
Die Polizisten stießen ihn durch den Gang und führten ihn in die Wachstube. Der pfeifende Polizeioffizier war nicht zu sehen. Sein Vater stand mit überkreuzten Beinen am Tresen, elegant wie immer, in schwarzem Anzug und schneeweißen Gamaschen. Die dunkle silbern bestickte Weste zeigte keinen Bauch, sondern die dicke goldene Kette der Taschenuhr. In der Hand hielt er die obligatorische Melone. Er stützte sich auf einen Spazierstock mit silbernem Knauf. Aufmunternd nickte er André zu. Im ganzen Belváros–Bezirk kannte man seinen Vater und bewunderte und belächelte ihn. André war stolz auf den Vater und liebte ihn, liebte seine Eleganz und seine Leichtfertigkeit. Zugegeben, man lästerte über seine vergeblichen Versuche, durch das Kartenspiel zu großem Geld zu kommen. Aber es schwang immer auch Bewunderung mit. Das ist ein Kerl, immer lustig, sagten die Männer im Viertel, und die Frauen widersprachen nicht.
„Da haben Sie Ihr Früchtchen!“ sagte der Polizist hinter dem Tresen, ein gelbes vertrocknet aussehendes Gesicht. „Sie müssen gute Verbindungen haben, dass wir den Burschen freilassen sollen“, fuhr er fort. „Wer sind Sie denn, dass das Büro des Polizeipräsidenten dies verfügt hat!“
Er blickte finster, aber es schwang durchaus Bewunderung und Vorsicht mit. Mit neidischen Augen betrachte er den eleganten Anzug. Er kannte nicht Dezsös Wahlspruch: Wer reich sein will, muss als erstes den Eindruck machen, reich zu sein. Dezsös hatte einige solcher Sprüche, die seinen Lebenswandel erklären sollten.
„Das Modeatelier Friedmann kennt man in ganz Budapest. Hier, meine Karte. Wenn Ihre verehrte Gattin einmal eine elegante Robe nach neuestem Pariser Chic braucht, sind Sie bei mir an der richtigen Adresse!“, sagte der Vater und warf die Karte wie ein Almosen auf den Tresen und strich sein Bärtchen hoch.
„Scheiße! Eines Tages werden wir euch Juden alle aus dem Land jagen!“, brummte der Stiernackige hinter André.
„Ungarn würde dabei seine Seele verlieren“, erwiderte der Vater ungerührt und verbeugte sich leicht und schwenkte den Hut und drückte ihn schief auf den Kopf, was ihm ein leicht verwegenes Aussehen gab, wie es sich für einen Mann von Welt gehörte. Er nahm den Sohn bei den Schultern und wollte ihn hinausführen.
„Halt! Er muss noch unterschreiben, dass er anständig behandelt wurde.“
„Das wurde ich nicht!“, trotzte André heftig und sah Zustimmung heischend zu seinem Vater hoch. „Schau mich doch nur an.“
„Das sind Kratzer, mein Sohn. Bis zur Hochzeit ist das wieder weg. Manchmal muss man nachgeben.“
„Man darf sich nichts gefallen lassen!“, widersprach André. „Du sagst doch immer, dass Recht auch Recht bleiben muss.“
„Sie haben es gehört“, wandte sich der Vater an den Mann hinter dem Tresen. „Sie sehen ja, wie der Junge aussieht.“
„Wer weiß, bei welcher Schlägerei er sich das geholt hat. Will das Jüngelchen etwa behaupten, dass wir das getan haben?“, mischte sich der Stiernackige ein und machte einen Schritt auf André zu.
„Genau das!“, erwiderte André mit gefurchter Stirn, und der Vater klopfte ihm mahnend auf die Schulter.
Der Stiernackige nestelte an dem Schlagstock an seiner Hüfte.
„Dir werde ich doch …!“
„Ach, lassen wir das Pack doch abziehen. Sie haben Verbindungen nach ganz oben. Warum sollen wir uns Ärger einhandeln!“, hielt der Polizist hinter dem Tresen seinen Kollegen zurück und machte eine Handbewegung, dass die Friedmanns verschwinden sollten.
„Man darf ihnen nicht nachgeben, Vater!“, sagte André draußen unzufrieden.
„Der biegsame Halm übersteht den Sturm. Manchmal ist nachgeben richtiger.“
„Wir Friedmanns haben doch Ehre und Anstand. War ein Friedmann nicht ein Freund Bakunins und starb für Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit?“
„Ja, der Vetter starb dafür. Und was hat er davon? Er war dumm, der Vetter, wollte ein Stamm sein und zerbrach im Sturm. Wenn wir nicht biegsam sind, verpfuschen sie uns das Leben.“
„Es ist ungerecht.“
„Das ist es. Aber damit haben wir schon zu tun, seitdem der verfluchte Titus den Tempel in Jerusalem in Brand stecken ließ. Ich liebe deinen Mut, mein Sohn. Aber ich würde mich freuen, wenn du auch deinen Verstand gebrauchen würdest. Was meinst du, wozu du ein Köpfchen hast? Um den Besayhö–Mädchen schöne Augen zu machen?“
„War es schwer, mich freizubekommen?“, fragte er schnell, um den Vater auf andere Gedanken zu bringen.
Gegenüber, auf der anderen Seite des Flusses, hing die Morgensonne über dem Burgpalast. Auf dem Wasser lag noch der Nebel. Es würde ein schöner Tag werden.
„Was wird mit den anderen geschehen?“, setzte er mit etwas schlechtem Gewissen hinzu und dachte an Duck, mit dem er sich vor dem Corona–Café verabredet hatte, und der keinen Vater hatte wie er, André Friedmann.
„Was wird schon geschehen? Sie werden ein paar Tage durchgeprügelt werden.“
„Können wir gar nichts für sie tun?“
„Gar nichts. Es war schwierig genug, dich freizubekommen. Mutter hat mit der Gattin des Polizeipräsidenten telefonieren müssen, die eine gute Kundin bei uns ist. Sie musste ihr ein Abendkleid aus blauer Seide versprechen. Reine Verschwendung bei der Kuh. Aber es hat genutzt. Doch du musst noch heute das Land verlassen, mein Junge.“
Der Vater seufzte und schwang dabei den Stock, als habe er es eilig, ins nächste Café zu kommen, um dort eine neue Partie Kartenspiel nicht zu versäumen. Er schien nicht mehr böse auf ihn zu sein. Er war selten böse auf ihn und seine beiden Brüder. Vater machte ihnen nie Vorwürfe. Die jungen Füllen wollen sich austoben, pflegte er zu sagen, wenn die Mutter ihm vorwarf, den Jungen alles durchgehen zu lassen.
André schreckte es nicht, das Land verlassen zu müssen. Es war ihm ohnehin schon seit geraumer Zeit durch den Kopf gegangen. Es passierte jetzt nur früher, als er es geplant hatte. Nur, dass er Duck nicht wiedersehen würde, das tat weh. Ihn dort im Polizeirevier zu wissen, war ein bedrückender Gedanke.
Die Mutter war nicht so langmütig wie der Vater. Kaum hatten sie das Atelier in der Varoshâz Nummer 10 betreten, sprang sie hinter ihrem Pult auf und verabreichte ihm eine kräftige Ohrfeige. Dann riss sie ihn in die Arme.
„Mein Gott, wie der Junge aussieht! Sie haben meinen André geschlagen.“
„Es ist nichts, Mutter!“, wehrte André verlegen ab, wand sich aus ihren Armen und sah zu den Näherinnen hinüber, die in langen Reihen an den Singernähmaschinen saßen und kichernd zusahen.
„Schmock, musst du dich immer wieder in Schwierigkeiten bringen! Kannst du nicht einmal auf den Ruf deiner Familie Rücksicht nehmen! Diesen Leichtsinn hat er von dir, Dezsö. Er ist genau so ein Filou wie du!“, wandte sie sich nun mit funkelnden Augen an ihren Mann.
Der Vater schnippte ein imaginäres Staubteilchen von seiner Melone, zupfte die Blume an seinem Revers zurecht und zwinkerte André zu.
„Julia, wir wollen doch nicht hier vor ….“
Doch sein Protest geschah nur der Form halber. Er wusste, dass sie sich nicht aufhalten ließ und nicht eher aufhören würde, bis sie ihren Zorn losgeworden war.
„Ach was, jeder im Viertel weiß doch, was ich mir mit dir aufgeladen habe!“, legte die Mutter los, und die Näherinnen beugten sich über die Nähmaschinen, angestrengt bemüht, nicht in lautes Lachen auszubrechen.
„Warst du schon bei den Textilfabriken Groskoj wegen der neuen Stoffe? Du hast es versprochen! Du hast es mir dreimal versprochen“, ging sie zum Angriff über.
Sie reichte ihrem Mann zwar nur bis zur Schulter, und doch wirkte sie nicht klein oder gar zerbrechlich. Selbst einem viel größeren und viel kräftigeren Mann hätte sie sich ebenbürtig gefühlt. Sie war ein Energiebündel, dem nur selten die Kräfte erlahmten. Julia Friedmann war an die Vierzig. Ihre Hüften waren durch die Geburt dreier Buben breiter geworden, aber sie war noch immer eine schöne Frau mit dichtem schwarzen Haar und glutvollen Augen, beides hatte sie neben der langen Nase an ihren Ältesten, an André, weitervererbt.
„Ich werde Groskoj schon noch aufsuchen. Noch heute Nachmittag“, versprach Deszö Friedmann gelassen.
„Ich wusste es! Du warst nicht bei ihm. Oh, ich wusste es! Hast du das Geld noch, das du ihm geben solltest, oder ist es bereits über den Spieltisch gegangen? Ich kenne dich, du Teufel! Reich könnten wir sein. Ein Automobil könnten wir haben, ein kleines Haus vor der Stadt … Aber wohin geht das Geld? Was treibt mein Gemahl? Er ernährt alle Spieler dieser Stadt. Jawohl, alle können es hören. Der schnieke Herr verspielt das Erbe seiner Kinder! Hunger werden sie eines Tages leiden. Im Armenhaus werden wir enden.“
„Nun übertreib doch nicht immer so, Frau!“, wehrte der elegante Dezsö Friedmann ab, setzte seine Melone auf und rückte den Hut zurecht, verfolgt von den bewundernd raunenden Näherinnen.
Deszö strich sich selbstgefällig über das Bärtchen.
„Du hast also das Geld noch?“, fragte Julia Friedmann herausfordernd, und ihre schönen Augen zogen sich zu einem Strich zusammen. Die Hände in die Hüften gestützt verlangte sie Antwort.
„Ja doch. Was du immer denkst. Noch heute Nachmittag werde ich … Ach nein, heute Nachmittag geht es nicht. Aber morgen, morgen werde ich ganz bestimmt …“
„Ich habe es gewusst. Du willst zu deinen Kumpanen ins Café und wieder bis morgen früh Karten spielen. Was macht man nur mit einem solchen verantwortungslosen Mann? Ein Schandfleck der Gemeinde ist er. Und ich, eine Berkovitz, musste an einen solchen verantwortungslosen Gesellen geraten. Mein Vater hat mir abgeraten dich zu heiraten, meine Mutter hat mich gewarnt. Aber ich dumme Kuh muss auf diesen Dandy hereinfallen. Jawohl, Dandy und Nichtsnutz, Kaffeehausgänger, Spieler und Säufer.“
„Nun hör endlich auf, Frau!“, widersprach Dezsö nervös werdend. „Du weißt doch, was jetzt wichtiger ist als der Groskoj. Du weißt doch, dass André aus Budapest verschwinden muss.“
„Ich weiß. Ich weiß. Welch ein Unglück! Und alles wegen nichts und wieder nichts. Was haben wir Friedmanns mit den Kommunisten zu schaffen? Wir sind doch für Horthy und zahlen unsere Steuern, und nicht zu knapp, und jeder kennt unsere Creationen, jeder!“
Sie warf den Näherinnen einen schnellen Blick zu, und diese taten, als wären sie emsig bei der Arbeit, denn sie befürchteten, dass der Zorn Julia Friedmanns auf sie niedergehen würde.
„Na, Mutter, du musst jetzt nicht gleich die Nationalhymne singen“, winkte Dezsö ab.
Julia Friedmann stutzte und sah ihren Mann an, ihr Mund zuckte.
„Nichtsnutz! Spieler!“, fauchte sie. „Komm mit in die gute Stube!“
Sie lief ihnen voran aus dem Atelier in die angrenzende Stube, die mit ihrer bauchigen Kommode und dem glänzenden Eichenschrank mit kleinen Türmchen wohlhabendes Bürgertum ausstrahlte. Den Friedmanns ging es nicht so schlecht, wie die Mutter ständig jammerte, denn das Atelier lief gut, obwohl die Geschäfte nachgelassen hatten. Die Zeiten waren schlecht. Julia Friedmann war der festen Überzeugung, dass das Atelier noch mehr abwerfen würde, wenn ihr Mann, dieser Bonvivant, sich mehr darum kümmern und sich nicht in den Cafés herumtreiben würde, was nicht unberechtigt war, aber nicht ihre Tiraden rechtfertigte, dass sie vor einem Abgrund stünden und bald im Armenhaus Logis suchen müssten. Sie lebte in ständiger Angst, vor dem Ruin zu stehen, dass ihr Mann eines Morgens nach Hause kommen und mitteilen würde, dass er das Atelier verspielt hatte. Sie traute ihm dies und noch Schlimmeres zu. Dabei war er für das Geschäft nicht unwichtig. Er war ein Mann, der auf Frauen wirkte, und so manche Augen der Kundinnen leuchteten auf, wenn er, was nur leider selten vorkam, durchs Atelier schritt und sein Bärtchen zupfte und der Kundin ein Kompliment über ihr Aussehen machte. Doch meistens war er aushäusig. Angeblich in Geschäften unterwegs. Aber diese bestanden aus langen Aufenthalten in den Cafés und aus nächtlichem Kartenspiel, sodass er meist erst morgens und in der Regel angeheitert wieder auftauchte. Erst am frühen Nachmittag pflegte er aufzustehen, sich sorgfältig und mit umsichtiger Berechnung, um die Wirkung anzuziehen. Ein kurzer Gang durch das Atelier, ein paar aufmunternde launige Sprüche zu den Näherinnen, und schon verließ er mit eiligen Schritten, den Spazierstock schwingend, das Haus. Selbst die stetigen Vorwürfe seiner Frau, ihre ständigen Tiraden konnten ihm nicht die gute Laune austreiben, geschweige denn ihn von seinem Lebenswandel abbringen.
Auch jetzt, in der kleinen Wohnstube, prallten ihre Vorwürfe an ihm ab, und er zwinkerte verschwörerisch dem Sohn zu, als die Mutter händeringend ihr Unglück beklagte.
„Haben wir nicht genug Sorgen? Und jetzt auch das noch! Mein Ältester, mein Augapfel, wird mir vom Herzen gerissen. Statt ihm einzubläuen, dass man sich nicht mit der Politik einlässt, dass gerade wir von Israel nicht auffallen dürfen, lässt du ihn herumstromern und hast nichts anderes im Sinn, als ein liederliches Leben zu führen. Was wird aus dem Jungen? Ich hatte gehofft, dass er mir bald hier im Atelier zur Hand gehen würde. Die beiden anderen sind ja noch zu klein. Aber er hier, mein André, sollte mir die Stütze sein, die mir mein Mann nicht ist. Was wird aus ihm in der Fremde? Wovon soll er leben? Verkommen wird er uns. Ein Schlemihl wird er werden wie sein Vater. Ach, warum prüft uns der Herr so? Was habe ich getan, dass ich dies ertragen muss?“
„Jammere nicht, Weib. Such ihm endlich die Sachen zusammen. Er muss noch heute fort. Du kennst die Auflagen. Führ dich nicht wie ein chassidisches Klageweib auf.“
Dezsö Friedmann zog die Taschenuhr heraus und klappte den Deckel hoch und schüttelte bedenklich den Kopf.
„Wenn er den Abendzug noch erreichen will, muss er sich sputen. Der Junge braucht ein paar gute Sachen, damit er eine gute Figur machen kann. Kleider machen Leute, merk dir das, mein Junge. Sorge immer dafür, dass du gut angezogen bist.“
„Ja. Ein Strizzi soll er werden!“, kreischte Julia Friedmann. „Soll werden wie sein Vater. Nein, er braucht gutes Schuhwerk, dicke Socken und eine Joppe, die den Regen und die Kälte abhält. Auch ein paar gute Knickerbocker braucht der Junge, und natürlich ein bisschen Geld. Was für eine Schande. Noch nie wurde ein Friedmann des Landes verwiesen. Dabei ist er doch noch ein Kind. Wohin soll er überhaupt gehen?“
„Nach Berlin!“, sagte André entschieden. „In so einer Stadt gibt es genug Möglichkeiten. Berlin ist der aufregendste Platz in Europa.“
„Nach Berlin? Ein Babylon ist dieses Berlin. Oh, mein Ältester wird mir verkommen.“
„Er hat genug von dir und mir abbekommen. Ein Friedmann verkommt nicht. Und nun mach schon. Ich hole den Koffer“, sagte der Vater und ging ins elterliche Schlafzimmer, wo auf dem Schrank der ramponierte Lederkoffer lag, den der Vater immer benutzte, wenn er sich wegen Stoffbestellungen nach Wien aufmachte, was nur eine Seite seiner Absichten war.
„Wovon wirst du leben, mein Söhnchen?“, fragte die Mutter und drückte André an sich.
„Ich werde schon zurechtkommen.“
„Viel ist es nicht, was wir dir mitgeben können“, sagte die Mutter und ging an die Kommode und nahm den Deckel des Porzellanschälchens mit dem Engel ab, holte eine Rolle Geldscheine heraus, entfernte den Gummiring und zog ein paar Scheine ab und seufzte.
„Nein. Viel ist es nicht“, wiederholte sie. „Was wirst du in Berlin tun?“
„Studieren, Mutter. Die Deutschen haben gute Universitäten.“
„Was denn? Womit willst du denn dein Brot verdienen?“
„Ich will Journalist werden.“
„Journalist? Ein Schreiberling will er werden. Hast du gehört, Dezsö? Brotlose Kunst will er machen. Die Zeit wird er sich wie du in Kaffeehäusern vertreiben.“
„Rede nicht, wovon du nichts verstehst. Wenn er das werden will, dann lass es ihn werden. Es ist sein Leben“, sagte der Vater, der den Koffer auf den Tisch legte.
„Er soll erst nach Wien gehen. Zur Großtante. Sie ist gut verheiratet und führt ein herrschaftliches Haus. Sie wird ihn nicht im Stich lassen.“
„Hör auf, Mutter. Wir haben doch mit den Berkovitz keinen Kontakt mehr. Ich habe die seit unserer Hochzeit nicht mehr gesehen.“
„Blut ist dicker als Wasser. Sie wird sich schon der Verwandtschaft erinnern. Er hat dann erst einmal eine Anlaufstelle. Und vielleicht gibt sie ihm für das Studium etwas Geld mit.“
„Mutter, ich habe nicht vor, dort zu betteln!“, sagte André vorwurfsvoll.
„Mein Ältester. Wenn du studieren willst, wirst du jeden Pfennig brauchen. Wir werden dir jeden Monat einen kleinen Betrag schicken. Aber es wird nicht viel sein. Leider. Du weißt doch, wie die Zeiten sind. Und der Mensch, der dich gezeugt hat, dieser Strizzi, verschleudert das wenige, das wir haben.“
„Hör auf, Weib!“, mahnte Dezsö Friedmann.
Sie warf ihrem Mann einen vorwurfsvollen Blick zu, eilte sich schnäuzend ins Schlafzimmer und kam bald mit Hemden und Socken und anderen Kleidungsstücken zurück und legte sie in den Koffer.
„Wasch dich, mein Junge!“, herrschte sie André an. „Wie siehst du überhaupt aus. Dreckig und blutig wie ein polnischer Schieber. Hast du noch Schmerzen?“
„Nein, Mutter, keine Schmerzen“, erwiderte André ergeben.
„Bis zur Hochzeit …!“, rief der Vater.
„Du mit deiner Hochzeit“, erwiderte die Mutter und warf die Arme hoch. „Was sind die Männer doch dumm und leichtfertig und unnütz. Jawohl, unnütz. Was redest du von Hochzeit?“
Der Vater zog die Brieftasche und seufzte.
„Ich werde ihm das Geld für den Groskoj geben. Der Textilgroßhändler kann warten.“
„Untersteh dich! Ich habe ihm schon Geld gegeben“, sagte die Mutter entschieden und wandte sich wieder dem Koffer zu.
„Was für Geld?“, fragte Dezszö Friedmann verblüfft.
„Das geht dich nichts an!“, sagte die Mutter barsch und wandte sich wieder dem Kofferpacken zu. Der Vater lachte.
„Aus der Engelsdose etwa?“
Die Mutter fuhr herum und bekam ihren Falkenblick.
„Was geht dich das Geld in der Engelsdose an? Es ist mein Geld.“
„Es ist unser Geld“, erwiderte Dezsö ungerührt. „Aber keine Angst. Ich beraube nicht deine Schatzschatullen. Ich gebe ihm trotzdem das Geld für den Groskoj. Er wird nicht gleich Arbeit finden in der fremden Stadt.“
„Und wovon willst du den Tuchhändler bezahlen?“
„Mach dir darüber keine Gedanken.“
„Keine Gedanken machen? Ich mache mir ständig Gedanken darüber, wie wir uns durchbringen. Was studiert man denn, wenn man Zeitungsschreiber werden will?“, wandte sie sich misstrauisch an André, der Hemd und Hose ausgezogen hatte und nun in Unterhosen und mit nacktem Oberkörper vor den Eltern stand.
„Zuerst Politik. Ich will wissen, wie aus braven Menschen Faschisten werden.“
„Politik?“, rief die Mutter entsetzt und warf die Arme hoch und sah anklagend zur stuckverzierten Decke. „Hör dir das an, Herr. Er wird im Armenhaus enden, mein Augapfel, mein Ältester.“
„Schreiben will ich!“, erwiderte André unbeirrt. Er hatte nur vage Vorstellungen davon, was der Beruf eines Journalisten bedeutete, er hatte viel von Kisch gehört, und Andrés Aufsätze waren von den Lehrern stets gelobt worden; seine Beiträge in der Schülerzeitung hatten ein hervorragendes Echo gehabt.
Die Lehrer sahen in ihm die Hoffnung für die schreibende Zunft. Auf jeden Fall wollte er gegen das anschreiben, was durch die Straßen Europas tobte und sich Faschisten oder Nationalsozialisten nannte, was fast auf das Gleiche herauskam. Das war etwas, wogegen man kämpfen musste, und er verband dies mit Vorstellungen vom weißen Ritter und Ivanhoe. Er würde die Älteste der Besayhö–Töchter auf sein Pferd nehmen und mit ihr in die Morgenröte reiten. Aber davon hätte er nicht einmal Duck etwas erzählt. Er war mit Eva, der Ältesten, einmal zelten gewesen und hatte sie im Boot auf dem See geküsst und ihr blondes Haar hatte sich an sein Gesicht gedrückt und zu den Sternen blickend hatten sie von ihrer Zukunft gesprochen. Sie wollte Fotografin werden. Sie war gleichaltrig und vor einem halben Jahr nach Berlin gegangen, um eine Fotografenlehre anzutreten. Auch deswegen fiel es ihm leicht, Budapest zu verlassen. Er würde sie bestimmt wiedersehen. Es war nun alles sehr plötzlich gekommen, aber im Grunde war es das, was er vorgehabt hatte. Er würde in die Welt ziehen und sein Glück versuchen. Er würde ein Kisch werden und vielleicht sogar ein Jack London und Abenteuer erleben und darüber schreiben.
Das Telefon klingelte. Die Friedmanns hatten bereits diese neue extravagante Errungenschaft. Natürlich war sie Dezsös Idee gewesen. Ein feiner Haushalt, so sagte er, käme nicht mehr ohne ein Telefon aus. Schon aus Geschäftsgründen. Die Mutter warf ihrem Mann einen warnenden Blick zu, als dieser zum Telefon gehen wollte, und eilte selbst an den Apparat und lauschte.
Auf ihrem Gesicht breiteten sich Schrecken und Angst und Zorn aus. Wütend warf sie den Hörer auf die Gabel.
„Da haben wir es! Es kommt noch schlimmer. Das war unsere Goldelse, die Frau des Polizeipräsidenten. Es ist eine Anweisung vom Ministerium fürs Innere gekommen. Allen Demonstranten soll der Prozess gemacht werden. Sie wollen ein Exempel statuieren und damit die Demonstrationen ein für alle Mal beenden. Sie werden auch unseren André holen. Es war alles umsonst. Und ich muss ihr obendrein noch das Kleid schneidern. Alles für die Katz. Was für ein Unglück. Der Sohn muss aus dem Elternhaus. Wie Simson in die Wüste zu den Löwen …“
„Dann wird er vielleicht ein Tucholsky in Deutschland“, sagte der Vater lachend und zwirbelte den Schnurrbart.
„Kannst du niemals ernst sein? Begreifst du denn nicht? Dein Sohn ist in Gefahr. Sie werden ihn ins Gefängnis werfen. Er wird ein Monte Christo sein und viele Jahre in einem Verlies schmachten.“
„Nun hör aber auf, Julia Friedmann!“, widersprach der Vater. „Du musst nicht aus allem ein Drama machen. So wie es ist, ist es schon schlimm genug. Junge, ab, marsch, wasch dich.“
André ging in das Badezimmer und wusch sich den Blutschorf ab. Er hörte in der Wohnstube noch immer seine Eltern zanken, so wie er es gewohnt war. Sie zankten meistens. Dabei haben sie sich einmal geliebt, dachte André. Ist das bei allen Paaren so? Wird aus Liebe Gleichgültigkeit und schließlich Ablehnung und Hass? Machte dies der Alltag aus den Menschen? Er würde das niemals zulassen. Er würde den Alltag nicht an sich heranlassen. Am besten, man heiratete nicht. Obwohl das mit Eva im Boot natürlich sehr schön gewesen war. Aber heiraten, das raubte einem Mann die Kraft und Würde. Er wollte ein Leben führen wie Jack London. Das war es. Er wollte dem Ruf der Wildnis folgen. So dachte er damals und ahnte nicht, dass er mehr Wildnis bekommen würde als die meisten Menschen.
„Beeil dich, Junge!“, hörte er die Mutter rufen.
Er spritzte sich in der Badewanne kurz ab und zog die frische Unterwäsche an, kämmte sich das nasse Haar und ging ins Wohnzimmer zurück.
„Sieht er nicht wie ein Kouros aus, mein Ältester!“, rief die Mutter andachtsvoll und schlug die Hände zusammen. „Oh ja, er ist mir gut gelungen.“
„Da habe ich wohl auch einen Anteil beigesteuert“, sagte der Vater schmunzelnd.
André hatte die Natur begünstigt. Er hatte den schmalen Kopf des Vaters mit einem ungebärdigen Haarschopf und herrisch kühne Augenbrauen und die braunen Augen der Mutter, die spöttisch, aber auch leidenschaftlich blicken konnten. Sein Brustkorb war breit und seine Taille schmal wie bei einem Zigeuner. Er war zwar nur mittelgroß, wirkte aber größer. Später würde er um die Hüften stärker werden, was aber seiner Ausstrahlung etwas Seriöses gab und das Zigeunerhafte seiner Augen milderte.
André zog sich an. Die Jacke war nicht elegant, aber dick, aus gutem wetterfestem Stoff. Eine richtige Seemannsjacke, hatte seine Mutter sie bei der Anschaffung gelobt. Da bekommst du nicht so schnell einen Schnupfen. Die Knickerbocker mochte er nicht, aber sie unterstrichen sein Erwachsensein.
„Komm, beeil dich!“, mahnte der Vater und nahm den Koffer auf.
Die Mutter legte ihm beide Hände auf die Schultern und sah ihn mit tränenden Augen an. Er wusste, was kommen würde, und es war ihm peinlich. Er hasste ihre sentimentalen Ausbrüche, die ständig die Familie in Atem hielten.
„Nun ziehst du in die Welt und musst selbst auf dich achtgeben. Denke immer daran, aus welcher Familie du stammst. Du bist ein Berkovitz. Unserer Familie entsprangen viele ehrenwerte Männer. Es waren Rabbis darunter, Doktoren und Anwälte. Gute Männer, die ihre Frauen achteten und nach Recht und Gesetz lebten.“
„Er ist wohl auch ein wenig ein Friedmann!“, protestierte der Vater.
„Das macht mir ja Sorge“, entgegnete die Mutter trocken und wischte sich die Augen. „Unsere Männer waren alle wie englische Gentlemen. Noble Männer. Die nichts übrig hatten für Spiel und Kinkerlitzchen und schlechte Frauen. Mach dich nicht unglücklich, André, indem du dich früh bindest. Mit deinem Gesicht wirst du es leicht bei den Frauen haben, und sie werden sich bald an dich hängen. Stürze kein Mädchen ins Unglück und sei gut zu den Menschen. Sei ehrlich. Lüge nie. Bleib immer ein Gentleman.“
„Jedenfalls lüge nicht, wenn es nicht nötig ist!“, korrigierte sie der Vater lachend. „Nun genug der Abschiedsreden, wir müssen los.“
Eines der Mädchen stürzte herein.
„Unten im Laden sind Polizisten. Sie fragen nach André!“, rief es aufgeregt.
„Er ist verloren. Was machen wir nun, Dezsö? Nun tu doch etwas!“, rief die Mutter und schlug die Hände über dem Kopf zusammen.
„Wir nehmen den Hinterausgang. Du sagst einfach, dass wir noch nicht eingetroffen sind“, sagte Dezsö Friedmann ungerührt, klappte den Koffer zu, ließ die Schlösser einschnappen und winkte dem Sohn zu.
„Mein Gott, was für ein Unglück!“, wiederholte die Mutter und schlang hastig einen dicken Schal um Andrés Hals. „Das wird dich warm halten. Achte auf dich, mein Sohn, und schreib mir sofort. Schreib mir regelmäßig. Muss ich dich nun hergeben, mein Augenstern.“
„Ja, du musst“, sagte der Vater grimmig und schob André aus der Stube.
Die Mutter eilte hinter ihnen her. Sie gingen durch die Küche, und der Vater öffnete das Fenster und stieg auf die offene Galerie, die den Hinterhof umsäumte, in der einen Hand den Koffer, in der anderen den Spazierstock. Er wirkte kein bisschen aufgeregt. Es schien fast so, als würde ihn auch dies alles amüsieren, als wäre es eine ihm angenehme Unterbrechung des täglichen Einerleis.
André stieg ihm nach.
„Pass auf dich auf, mein Großer. Nicht einmal von seinen Brüdern kann er sich verabschieden. Oh, was für ein Kummer!“
Sie lehnte sich aus dem Fenster und hielt André fest und umarmte ihn heftig und gab ihm nasse Küsse.
„Bleib ein guter Mensch, André.“
Er löste sich von ihr und strich ihr über das Gesicht, über die Augen, die so liebevoll blicken konnten.
„Leb wohl, Mamachen.“
André stieg schnell die Leiter herunter, und sein Vater stieß ihn vorwärts über den von Bäumen gesäumten Hof.
Sich nervös umblickend überquerten sie ihn und liefen zu dem Torweg, der auf die Varoshâz–Straße führte. Er verschwendete keinen Blick auf das gegenüberliegende Haus mit den weißen Säulen und den Statuen im Hinterhof, den Palast des Priamos, das Troja seiner Kinderträume. Er erlebte nun selbst einen Roman und würde Achilleus sein müssen und Odysseus. Er zweifelte nicht daran, dass Gefahren auf ihn warteten, aber er war davon überzeugt, dass er alle Abenteuer bestehen würde. Er war André Friedmann und auf dem gleichen Weg wie Jack London, und wenn er zurückkommen würde, dann als siegreicher Held. Vor dem Haus der Friedmanns stand ein kastenähnlicher Polizeiwagen, neben dem ein Polizist den Knüppel schwingend auf und ab ging.
Das Abenteuer begann.