Читать книгу Robert Capa und Hemingways Geschichte - Heinz-Joachim Simon - Страница 8
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André stockte der Atem. Der Polizist sah zu ihnen herüber. Gleich würde er zu seiner Trillerpfeife greifen. Deszö befahl André zu warten und schlenderte zu dem Polizisten, stellte neben ihm seinen Koffer ab und zog ein Päckchen Zigaretten heraus und bat den stämmigen Polizisten um Feuer und bot ihm eine Zigarette an. Beide rauchten und unterhielten sich über das gute Wetter.
„Hoffentlich bleibt es so“, sagte Dezsö.
„Na, ich glaube, wir kriegen noch ein Gewitter. Sie wollen verreisen?“, fragte der Polizist und deutete auf den Koffer.
„Ja. Mein Sohn begleitet mich zum Bahnhof. Ich will nach Wien. Meine Schwester heiratet. Zum dritten Mal übrigens. Und jedes Mal ist der Gemahl reicher.“
„Ja. Frauen können sich nach oben heiraten“, stimmte der Polizist schmunzelnd zu.
„Ja. Helena ist ein kleines Luder. Sie weiß, wie man die Schönheit einsetzt.“
„Ja, die Frauen. Die Frauen!“, stöhnte der Polizist. Er schien mit ihnen seine Schwierigkeiten zu haben.
„Und was führt Sie in die Varoshâz?“
„Ach. Wir holen den jungen Friedmann ab. Soll ein Kommunist sein. Kennen Sie die Friedmanns?“
„Ja. Natürlich: Jeder im Viertel kennt die Friedmanns. Aber Kommunisten? Nein. Das sind keine Kommunisten. Der Junge ist wohl ein bisschen wild, nicht so ein braver wie mein Szandor dort. Ich habe ihm eingebläut, sich nicht mit dem André Friedmann einzulassen. Aber Kommunisten sind das nicht.“
„Na, das werden wir schon herausbekommen.“
„Sicher. Auf unsere Budapester Polizei ist Verlass. Doch nun muss ich gehen. Sonst verpassen wir noch den Zug. Einen schönen Tag wünsch ich.“
Dezsö lüftete höflich die Melone. Der Polizist tippte an seinen Tschako, und Dezsö winkte André ihm zu folgen. Es war Mittagszeit, und die Geschäfte schlossen, und die Verkäuferinnen belebten die Straßen, eilten zum Mittagessen nach Hause oder zu einem Imbiss in die Cafés. Schon bald waren sie im Gewühl der Parisi Udvar Passage untergetaucht. André war von der Kaltblütigkeit des Vaters nicht überrascht. So war Dezsö nun einmal. Ein frecher Hund, der kein Risiko scheute. Meistens ging es bei ihm gut aus. Bei einem respektablen Aussehen versagt dir niemand seine Achtung, pflegte er zu sagen. André drehte sich mehrmals um, ob sie jemand beobachtete oder ihnen folgte.
Der Vater mahnte ihn, damit aufzuhören.
„Benimm dich unauffällig. Du siehst aus wie ein Eierdieb, der Angst vor den Verfolgern hat.“
„Ich habe keine Angst!“, widersprach André energisch.
„Nein. Das hast du von mir!“, sagte der Vater selbstgefällig und schwang seinen Stock, als befänden sie sich auf dem Weg zu einem der Cafés an der Donau, wo seine Kumpane bereits auf ihn warteten, um mit dem Kartenspiel zu beginnen.
„Man darf niemals Angst haben“, sagte er gewichtig. „Angst macht dich zum Verlierer. Man unterwirft sich. Ein Friedmann ist ein Mann. Er kann Mist bauen, aber er steht dafür ein. Er hat Stil und Würde. Merk dir das. Sei niemals ein Schisser, ein kleiner bürgerlicher Schisser. Pfeif drauf, was andere von dir denken. Lass dich nicht herumstoßen. Lebe nach deinen Ansprüchen und tue niemals etwas nur deswegen, weil es alle tun. Wir Friedmanns sind etwas Besonderes.“
Als sie am Bahnhof waren, setzte Dezsö den Koffer ab und biss sich auf die Lippen. Sie gewahrten vor dem Bahnhofseingang viele Polizisten. Jeder, der in den Bahnhof wollte, wurde nach dem Ausweis gefragt.
„Und was machen wir nun?“, fragte André ratlos.
Umsonst standen die dort nicht. Er klopfte seine Jacke ab. Der Pass war in der linken inneren Seitentasche. Er würde ihn vorzeigen müssen, und die Polizisten würden wissen, dass er gesucht wurde. Er saß in der Falle. Er kam nicht einmal mehr aus Budapest heraus.
Auf dem Platz vor dem Bahnhof stand ein Clown mit drei Hunden, die sich nach einer Melodie drehten, die der Mann mit der roten Pappnase einer Violine entlockte.
„Merk dir das: Es gibt immer einen Weg!“, sagte Dezsö. „Warte hier!“
Der Vater ging zu dem Clown hinüber. André sah ihn auf den Mann einreden und auch, dass er diesem etwas zusteckte. Der Clown nickte vergnügt, setzte die Violine ab, verbeugte sich und stieß einen Pfiff aus. Die Hunde hörten auf zu tanzen und jagten kläffend über den Platz, sprangen die Passanten vor den Polizisten an, und nun entstand ein großes Durcheinander. Die Polizisten zogen ihre Schlagstöcke und versuchten, die Hunde zu vertreiben, vergaßen ihre Kontrollen und liefen hinter den Hunden her, die das Ganze als Spiel betrachteten und geschickt den Schlägen auswichen. Schon bald hatten sie die Polizeibeamten von dem Eingang des Bahnhofs fortgelockt.
Dezsö lachte und winkte André zu.
Sie gingen ungehindert in den Bahnhof hinein. Die Polizisten jagten noch immer vergeblich die Hunde. Der Clown war verschwunden.
Sie liefen zum Schalter, sein Vater löste die Fahrkarte und führte ihn auf den Bahnsteig. Der Zug war noch nicht da, und sie setzten sich auf eine Bank.
„Hoffentlich kommen sie nicht auch hierher, um zu kontrollieren“, sorgte sich André.
„Auch dann wird uns schon etwas einfallen. Man kann sich immer etwas einfallen lassen, Junge. Du hast doch meinen Kopf. Wir Friedmanns haben nie vor Schwierigkeiten den Schwanz eingezogen. Niemals.“
André hätte sagen können, dass dabei nicht allzu viel bei herausgekommen war. Aber er respektierte den Vater. Er liebte ihn gerade wegen seines Leichtsinns und Optimismus.
Dezsö Friedmann gab ihm noch eine Reihe guter Ratschläge, die darauf hinausliefen, dass es nichts gab, was ein Friedmann nicht überwinden konnte und einige davon waren für das Leben, das er später führen sollte, ganz hilfreich.
„Nimm keine Arbeit, die dir nicht Spaß macht. Mache nichts, was dir die Laune verdirbt. Und wenn du es gefunden hast, dann mach es mit ganzem Einsatz. Aber was du tust, darf dir niemals als Arbeit erscheinen. Ein Friedmann sucht keinen Broterwerb, sondern muss das, was in ihm ist, herauslassen. Glaube an dein Glück!“
Solche Ratschläge hätten für einen Siebzehnjährigen verderblich sein können. Denn schließlich hatte Dezsö Friedmann in sich nur die Fähigkeit gefunden, immer guter Dinge zu sein und beim Kartenspiel die Verwegenheit zu zeigen, die ihn so manches Mal mit einem guten Gewinn den Spieltisch verlassen ließ. Jedenfalls galt dies lange Zeit.
Glücklicherweise brauchte sein Vater an diesem Tag seinen Einfallsreichtum nicht zum zweiten Mal demonstrieren.
Als der Zug einlief, begleitete ihn Dezsö bis zu seinem Waggon. Er ging mit ihm in das Abteil und stemmte den Koffer in den Gepäckhalter. Er nahm den Sohn in die Arme und hielt ihn lange fest, und nun sah André, dass er, der elegante, meist fidele Dezsö Friedmann, Tränen in den Augen hatte.
„Zieh aus wie Alexander und erobere dir ein Reich!“, sagte er pathetisch. „Mach es besser als …“
André erfuhr nicht, wen er übertreffen sollte. Aber vielleicht hatte Dezsö Friedmann in diesem Augenblick das Gefühl, dass sein Leben doch nicht so großartig war, wie es ihm immer vorkam. Er drückte den Sohn noch einmal an sich und stürzte aus dem Abteil. André ging zum Fenster und zog es herunter und lehnte sich weit hinaus. Er sah seinen Vater zum Ausgang gehen. Eine schmale schwarze Gestalt. Der Stock schwang in seiner Hand, als würde er sich zu seinem Lieblingscafé aufmachen. André war sich sicher, dass ihn die Mutter erst am nächsten Morgen wiedersehen würde und wünschte dem Vater in dieser Nacht gute Karten. Er seufzte und setzte sich und zog Martin Eden von Jack London heraus. Ein Geschenk von Eva. Bevor sie nach Berlin gegangen war, hatte sie ihm dieses Buch geschenkt. Er hatte es schon mehrmals gelesen und er würde dies noch oft tun. Es enthielt alles, was er suchte. Ein Leben wie Martin Eden alias Jack London, das wollte er führen.
An der Grenze zu Österreich geschah das, was er die ganze Zeit erwartet hatte. Er war nicht mehr allein im Abteil. Ein schwergewichtiger glatzköpfiger Mann mit rotem verschwitztem Gesicht und eine genau so schwergewichtige Frau mit strenger Altweibermiene unter der Haube hatten ihm gegenüber Platz genommen. Außerdem war noch ein etwas zu eleganter hagerer und stark parfümierter Mann mit einer grauen Fliege zugestiegen, dem der Anzug um seinen Körper schlotterte und der eine Goldkette am Handgelenk trug. An der Tür saß ein junges Mädchen mit einem frischen Gesicht und lustigem kleinen Hut auf dem Kopf, das André freundliche Blicke zuwarf, die er gern erwiderte. Sie erinnerte ihn an Eva, die er in Berlin wiederzusehen hoffte, woraus, wie er überzeugt war, mehr entstehen würde. Doch erst musste er nach Wien, wie es ihm die Mutter geraten hatte, um dort bei der Großtante einige Tage zu verbringen. Ob dabei ein Obolus für ihn herausspringen würde, war ihm nicht wichtig. Er kannte die Tante nicht, aber es hieß von ihr, dass sie sehr reich sei. Sie hatte einen Möbelfabrikanten geheiratet, dessen Erzeugnisse nicht nur in Österreich, sondern sogar in Budapest in den Geschäften zu finden waren. Billige Möbel, die aufgrund ihres Preises in jedem Geschäft das Angebot nach unten abrundeten. Er versprach sich nicht viel von diesem Besuch, aber er hatte der Mutter in ihrem Schmerz nicht widersprechen wollen. Eigentlich war es eine ärgerliche Unterbrechung seiner Reise nach Berlin, der Zauberstadt der Deutschen.
Wie gut, dass er Deutsch gelernt hatte. Deutsch war die Sprache der Gebildeten in Ungarn. Die Mutter hielt viel auf die Deutschen. Sie mögen noch so am Boden sein, sie kommen immer wieder hoch. Sie haben den Krieg verloren und sind doch wieder das erste Volk Europas. Dort kann man es, wenn man tüchtig ist, zu etwas bringen. Der Vater mochte die Deutschen nicht. Er hielt es mit den Franzosen und nannte sie das einzige Volk, das zu leben versteht. Nun, André wollte nicht wie die Deutschen sein, aber wenn er etwas von ihnen lernen konnte, würde er sich nicht dumm anstellen. Und ihren Heine fand er sogar sehr gut.
Er hatte also die Polizisten, die in das Abteil drängten, erwartet und wusste, dass hier die erste Mutprobe auf ihn zukam. Als die Beamten barsch die Papiere verlangten, schlug sein Herz zwar schneller, aber dies war eine Reaktion, die man ihm nicht ansah. Er dachte daran, was ihm der Vater gesagt hatte. Er war André Friedmann, und wenn es gefährlich wurde, konnte einem immer noch etwas einfallen.
Der hagere, etwas zu elegante Herr hatte rote Flecken im Gesicht, als er dem Beamten seine Papiere reichte. André merkte, dass dabei seine Hände zitterten. Der Polizist blätterte erst gleichmütig in den Papieren und merkte plötzlich auf. Der verschlafene Ausdruck verschwand schlagartig aus seinem Gesicht. Er kniff die Augen zusammen und sagte barsch, dass der hagere Mann mitkommen solle.
„So? Warum denn?“
„Reden Sie nicht! Kommen Sie mit. Keine Fisimatenten, wenn ich bitten darf.“
Der dürre Mann warf einen aufgeregten Blick in die Runde, bevor er zögernd mit den Grenzbeamten hinausging. Als plötzlich Lärm ertönte, sprangen sie auf und stürzten zum Gang und sahen den Reisegenossen mit wehendem Mantel draußen über den Bahnsteig rennen, verfolgt von den Polizisten. Kurz vor dem Ausgang des Bahnhofs fingen sie ihn wieder ein, und es kam noch einmal zu einem Handgemenge. Schließlich führten sie ihn ab.
„Ein Schieber!“, sagte der schwergewichtige Mann.
Seine Frau schnaubte hörbar.
„Ein Strizzi!“, sagte sie.
Alle drängten nun ins Abteil zurück und setzten sich.
„Dass man heute mit solchen Leuten im gleichen Abteil reisen muss.“
„Er tut mir leid“, sagte das Mädchen. „Was werden sie mit ihm tun?“
„Der wird eingebuchtet. Hat sicher eine Menge auf dem Kerbholz!“, sagte der Schwergewichtige und nickte selbstgewiss, als würde er die Strafakte des Hageren kennen.
„Der arme Mensch“, sagte das Mädchen mitleidig.
„Die Polizei wird schon wissen, warum sie ihn herausgeholt hat“, schnaubte die dicke Frau empört. „Das ganze Abteil riecht nach dem Kerl.“
„Riecht doch besser als Schweiß“, entgegnete das junge Mädchen, kräuselte ihre Nase und blinzelte André schelmisch zu.
Auf jeden Fall hat der Zwischenfall etwas Gutes: Sie haben nicht deine Papiere kontrolliert, dachte André, als sich der Zug wieder in Bewegung setzte.
Die österreichischen Zollbeamten machten nicht viele Umstände und blätterten nur oberflächlich die Papiere durch.
André sah aus dem Fenster. Das also war das Land, dem einst Ungarn angehört hatte. Es sah nicht viel anders aus. Na ja, es ist ja auch erst der Anfang, dachte er. Dann dachte er an Duck und hatte ein schlechtes Gewissen. Er war zurückgeblieben, und ihn würden sie verurteilen. Niemals wieder würden sie sich vor dem Café Corona treffen. Aber wenn sie ihn schließlich entließen, würde er sicher das Atelier Friedmann aufsuchen und nach ihm fragen, und der Vater würde ihm Bescheid geben. Vielleicht würde Duck nachkommen. Ungarn hielt für sie keine Zukunft bereit. Irgendwo musste ein Land sein, in dem sie unbehelligt leben konnten. Er hoffte auf Deutschland. Zurückgelehnt, mit suchenden Augen sah er auf die Landschaft und sah sie doch nicht, sah sich als erfolgreichen Journalisten in Cafés sitzen, in denen auch Kisch zu sitzen und bei einem Mokka über die Weltläufte zu parlieren pflegte. Er saß mit den Großen Deutschlands zusammen, und sein Wort hatte Gewicht. Die Männer im Café lüfteten den Hut, wenn sie ihn sahen, und die Frauen in weißen Kleidern und großen Hüten lächelten ihm zu.
André, du bist auf dem Weg, sagte er sich. Eines Tages würden sie auch in Budapest seinen Namen kennen, und die Mächtigen der Welt würden ihn zu sich einladen, und er würde in ihren Palästen ein und aus gehen, weil sie sein Urteil begehrten. Und irgendwo wartete eine Prinzessin auf ihn, und auch sie in einem weißen Kleid mit einer Perlenkette um den Hals, und sie nahm seine Hand, und sie gingen durch einen Park und schwangen sich auf die Pferde und jagten über die endlos grünen Wiesen und sprangen über weiße Gatter, und hinter ihnen leuchteten weiß und verheißend die Säulen eines Herrenhauses. Um dieses Leben ging es. Er merkte nicht einmal, dass das Mädchen, von dem er träumte, das Gesicht des Mädchens im Abteil hatte. Träume waren für ihn in dieser Zeit stets verfügbar und trösteten ihn über das hinweg, was noch nicht war.
„Besuchen Sie Ihre Verwandten in Wien?“, riss ihn das Mädchen aus seinen Tagträumen.
„Ja. Aber ich will anschließend nach Berlin.“
„Zu den Deutschen?“, fragte der Schwergewichtige und wischte sich die schweißnasse Stirn. „Ein gefährliches Land.“
„Und was wollen Sie dort tun?“, fragte das Mädchen.
André hätte gern ihre Hand genommen und von seinen Träumen berichtet.
„Mir eine Zukunft schaffen“, sagte er ernsthaft.
Das Mädchen legte bewundernd die Hand vor den Mund.
„Sie müssen sehr mutig sein.“
„In meiner Familie sind alle mutig“, sagte er stolz.
Er merkte nicht, wie töricht es klang.
Das Mädchen belohnte ihn mit einem Lächeln. Der Schwergewichtige schnaufte und rutschte unruhig auf seinem Sitz hin und her.
Es war warm im Abteil. André zog seine Jacke aus und hängte sie an den Haken neben dem Eingang.
„Was macht denn Ihr Vater?“, fragte der Schwergewichtige und spitzte mit böse funkelnden Augen den Mund.
„Er ist Schneidermeister. Jeder kennt in Budapest den Modesalon meiner Eltern.“
„Wie heißt denn der Salon?“, fragte die schwergewichtige Frau.
„Friedmann. Modesalon Friedmann.“
„Kenne ich nicht“, sagte die Frau achselzuckend.
„Bei uns kaufen die ersten Familien Budapests ein“, sagte André und sah anzüglich auf die Kleidung der Frau, worauf diese sofort rot anlief.
„Unverschämtheit!“, keuchte sie.
„Friedmann? Ein Jude“, stieß ihr Mann aus.
„Das hält die besten Familien Budapests nicht davon ab, die Kleider in unserem Salon schneidern zu lassen“, entgegnete André.
„Mir ist egal, ob jemand Jude oder Christ ist. Hauptsache, er ist ein anständiger Mensch“, stand ihm das Mädchen bei.
„Wir wissen doch, wie die Juden zu ihrem Geld kommen“, sagte die Frau gehässig.
„Auf die gleiche Art wie Sie, denke ich!“, sagte André hitzig. „Sie arbeiten fleißig.“
„Nun, man hört anderes. Sie sind das Unglück der Völker“, entgegnete der Dicke feindselig.
„Sie scheinen uns Juden gewaltig zu überschätzen.“
„Wieso?“, fragte der Schwergewichtige verblüfft und wischte sich die Glatze.
„Ein so kleines Volk soll das Unglück der ganzen Menschheit sein?“
André fand, dass er sich ganz gut schlug.
Das Mädchen sah ihn mit Augen an wie die Besayhö–Mädchen.
„Die Juden hetzten die Menschen immer wieder in den Krieg. Nirgendwo sind sie beliebt. Nirgendwo“, schnaufte der Dickleibige wütend. „Man muss nur Die Weisen von Zion lesen.“
„Das Buch ist eine Fälschung. Sie glauben doch nicht diesen Unsinn, den der zaristische Geheimdienst fabriziert hat?“,
„Sie sind ein dummer Junge. Was rede ich überhaupt mit Ihnen!“, fauchte der Dickleibige.
Als der Zug in Wien einlief, sprang der Dicke, noch bevor der Zug stand, auf und drängte zum Ausgang des Abteils, fiel beinahe ungeschickt auf Andrés Schoß, fing sich und stützte sich beim Kleiderhaken am Ausgang ab. Ohne Gruß verließ er mit seiner Frau das Abteil.
„Das war aber ein unangenehmer Reisegenosse“, sagte das Mädchen.
„Was wollen Sie in Wien?“, fragte André und zog seine Jacke an.
„Ich fange als Stubenmädchen im Hotel Imperial an.“
„Hört sich gut an.“
„Es ist das beste Haus in Wien.“
„Dann wünsche ich Ihnen viel Glück“, sagte André und gab ihr die Hand.
„Und ich hoffe, dass Sie ihr Glück machen“, sagte das Mädchen und hielt seine Hand länger als es notwendig war.
„Wir werden beide unser Glück machen!“, entgegnete André und errötete und das Mädchen nickte eifrig.
Es fiel ihnen beiden schwer, sich voneinander zu trennen. André hätte ihr gern eine Adresse in Berlin genannt, aber er war noch zu schüchtern, und im Übrigen hatte er noch keine Adresse in Berlin. Als sie aus dem Zug stiegen und sich auf dem Bahnsteig noch einmal ansahen, fühlten beide, dass etwas nicht gesagt worden war. Ein Moment, der hätte entscheidend sein können. Aber sie nutzten ihn nicht. Dann war der Moment unwiederbringlich dahin, und sie verschwand im Getümmel. Ihren Namen hatte er nicht erfahren.
André nahm seinen Koffer auf und wurde plötzlich von zwei Uniformierten umringt. Hinter ihnen stand der Dickleibige.
„Das ist er! Das ist der Dieb. Er hat mir meine Brieftasche gestohlen.“
Die Polizisten ergriffen André und führten ihn, feindselig beäugt von den Reisenden, über den Bahnsteig in ein kleines armselig aussehendes Büro mit angeschlagenen staubigen Möbeln und verblichenen Vorhängen. Ein Polizeioffizier mit einer blau geäderten Nase nahm ihn in Empfang.
„Er ist ein Jude. Immer wieder diese Juden!“, keifte der Dickleibige.
„Ich wusste gleich, dass er ein Dieb ist!“, unterstützte ihn seine Frau.
„Wollen wir uns mal die Taschen ansehen“, sagte der Polizeioffizier, griff in Andrés Joppe und zog eine Brieftasche heraus.
„Das ist sie!“, rief der Dicke.
„Na also“, knurrte der Beamte kopfschüttelnd und stieß seine Polizeimütze in den Nacken. „So jung und schon so verdorben.“
„Das ist nicht meine Brieftasche. Ich kenne sie nicht. Ich weiß nicht, wie sie in meine Jacke gekommen ist“, verteidigte sich André aufgeregt.
Der Polizist klappte die Brieftasche auf und entnahm ihr die Ausweispapiere.
„Ja. Es ist Ihre Brieftasche“, sagte er, nachdem er das Bild im Ausweis betrachtet hatte.
„Was denn sonst“, schnaufte der Dickleibige. „Was werden Sie mit dem Jüdlein machen?“
„Wir schicken ihn zurück nach Ungarn. Diebe haben wir genug in Wien.“
„Wird er nicht verurteilt und ins Gefängnis gesteckt?“
„Ach was. Das kostet nur Geld. Nein, wir werden doch nicht noch mehr Zeit mit solchem Pack verplempern. Er fährt mit dem nächsten Zug zurück. Die Zollbeamten werden ihn an der Grenze den ungarischen Behörden übergeben, zusammen mit den Papieren, dass er auf österreichischem Staatsgebiet als Dieb festgenommen wurde.“
„Ich habe die Brieftasche nicht gestohlen!“, verteidigte sich André erneut mit hochrotem Kopf. Als Dieb abgestempelt zu werden, war ihm schier unerträglich. Er konnte sich vorstellen, wie gern ihn daraufhin Horthys Polizei einsperren würde. Aber größer noch war die Scham darüber, was die Eltern denken könnten.
„Warum tun Sie das?“, rief er verzweifelt dem Dickleibigen zu. „Sie haben die Brieftasche in meine Jacke gesteckt. Ich erinnere mich nun. Als Sie beim Hinausgehen gegen die Tür fielen, haben Sie mir die Brieftasche in die Jackentasche geschoben. So muss es gewesen sein. Warum? Ich habe Ihnen doch nichts getan.“
„So ein frecher Bengel!“, staunte der Polizeibeamte.
„So sind sie, die Juden. Diebisch und frech. Man sollte sie alle aus dem Land jagen!“, keifte die Frau.
„Man sollte sie totschlagen. Dieser Hitler hat schon recht. Man sollte sie wie Bazillen behandeln“, rief der Dickleibige, nahm die Brieftasche und steckte sie ein.
„Na, diesen Juden haben wir jetzt wenigstens eine Zeit lang aus dem Verkehr gezogen“, stimmte der Polizist zu.
„Die besten Familien Budapests werden es sich überlegen, ob man bei einem Schneider arbeiten lässt, dessen Sohn ein Dieb ist“, sagte die Frau triumphierend.
Beim Hinausgehen beugte sich der Dickleibige noch einmal zu André und flüsterte feixend:
„Siehst du, Jüdlein, deine Frechheit kommt dich teuer zu stehen.“
Gackernd verließ das Pärchen das Büro.
Der Polizeioffizier sah den beiden unzufrieden nach.
„Hast du mit denen Ärger gehabt?“
„Ja. Sie haben mir vorgeworfen, dass Juden an allem schuld seien. Ich habe mir das nicht gefallen lassen. Man darf sich nichts gefallen lassen, hat mir mein Vater beigebracht.“
„So, so. Ihr Juden seid doch an allem schuld“, knurrte der Polizeioffizier und zupfte seine Nase. „Und deswegen hast du sie beklaut.“
„Nein. Er hat mir die Brieftasche heimlich zugesteckt.“
„Junge, das glaubt dir kein Mensch.“
„Ich bin unschuldig.“
„Alle sind unschuldig. Ich weiß. Vielleicht glauben dir die Ungarn. Ich kann mich damit nicht länger aufhalten. Du fährst mit dem nächsten Zug zurück nach Budapest.“
„Das ist ungerecht.“
„Ist es gerecht, dass die Juden die schönsten Häuser am Ring haben?“
Der Offizier lachte höhnisch und befahl André zu warten und ging hinaus.
André besah sich die kahle Wachstube und überlegte, wie er entkommen konnte. Durch das Fenster hatte er einen freien Blick auf den Bahnsteig. Der Polizeioffizier ging vor der Wachstube mit den Kollegen, die André hierher gebracht hatten, auf und ab. Er musste ihnen entkommen. Es gab nur zwei Türen. Die eine führte zu den Bahnsteigen, aber dort standen die Polizisten. Die zweite Tür mochte zur Toilette führen. Aber er wagte nicht, aufzustehen, um nachzuprüfen, ob er von dort entkommen konnte. Er nahm das Buch aus der Jacke und las, wie Martin Eden zu Reichtum und Ehren kam. Es beruhigte ihn. Obwohl er nur umso deutlicher fühlte, wie weit er von diesen Zielen entfernt war. Außerhalb Ungarns schien man die Juden noch mehr zu hassen als in der Heimat. Er besah sich den Kalender, der mit Fliegendreck beschmutzt war. Er zeigte eine Ansicht von Paris mit dem berühmten Eiffelturm. Ihm fielen dazu Zola ein, Balzac und Victor Hugo und wie dieser für den Juden Dreyfus eingetreten war. Es gab doch noch Länder, in denen man für Unschuldige eintrat. Er fühlte sich verfolgt wie Dreyfus. Auch er, André, war wie Dreyfus unschuldig. Aber für einen kleinen Dieb würde niemand eintreten. Aber das Unrecht war für ihn genau so schmerzlich und beschämend. Gibt es keine Gerechtigkeit auf Erden?, dachte er zornig. Er nahm sich vor, dafür einzutreten. Lieber Gott, betete er, wenn ich hier herauskomme, werde ich gegen das Unrecht kämpfen, wo immer es auftritt.
Der Polizeioffizier kam herein, ging zum Schreibtisch und füllte einige Formulare aus, die er André zuschob.
„Unterschreib hier!“, herrschte er ihn an und deutete mit seiner Hand auf eine Stelle am unteren Rand.
„Was ist das?“
„Lies es durch!“, knurrte der Polizist.
André überflog es kurz.
„Nein!“, erwiderte er entschlossen. „Das wäre ein Schuldeingeständnis.“
„Würde sich bei euch in Ungarn vielleicht strafmildernd auswirken. Du kannst ja hinschreiben, dass du es bereust.“
„Nein. Ich habe den Mann nicht bestohlen. Ich bin kein Dieb.“
„Na gut. Dann eben nicht. Ich schreibe hin, dass du uneinsichtig und verstockt bist und die Unterschrift verweigerst. Die Beweise sind eindeutig. Es wird dir nichts nützen.“
Er ging wieder hinaus und kam mit den beiden Kollegen wieder.
„Übergebt ihn der Bahnpolizei“, sagte er mit den Gedanken schon woanders und blätterte dabei in den Papieren auf dem Schreibtisch.
Die beiden Polizisten führten ihn hinaus. Er überlegte, ob er auf die Gleise springen und den nächsten Bahnsteig erreichen konnte. Aber das Gefälle zu den Gleisen war sehr stark, und außerdem wollte er seinen Koffer nicht verlieren, und mit diesem würde er nicht sehr schnell sein. Sie würden ihn einholen.
Der Zug lief ein, und sie führten ihn zu dem Waggon hinter der Lokomotive und übergaben ihn einem schnauzbärtigen Bahnpolizisten mit einem faltigen Gesicht und müden Augen und drückten ihm die Papiere in die Hand.
„Übergib den Jungen den ungarischen Zollbeamten. Hauptsache, wir sind den los. Sollen die sich doch mit ihrem Pack abgeben.“
„Was hat der Bengel denn angestellt?“
„Einen Reisenden beklaut.“
„Ach ja. Na, Junge, da steckst du schön in der Bredouille.“
Er schob André in ein Abteil und ging wieder hinaus und schloss ab. André hatte Hunger und nahm sich die letzten beiden Butterbrote vor, die ihm seine Mutter mitgegeben hatte.
Du steckst hier wirklich ganz schön in der Bredouille, sagte er sich, während er das Brot verspeiste. Der Zug fuhr an. In ein paar Stunden würde er wieder in Ungarn sein. Eine kurze Reise. Ihm wurde heiß, als er an den Empfang zu Hause dachte. Der Vater würde ihm glauben. Ganz gewiss. Ein Friedmann klaut nicht. Aber bei der Mutter war er sich dessen nicht so sicher. Sie würde alles auf das Blut der Friedmanns schieben. Ein Schlemihl ist er geworden, würde sie rufen, und natürlich, dass sie es geahnt hätte.
Der schnauzbärtige Bahnpolizist kam wieder herein und setzte sich und zündete sich eine Pfeife an.
„Nun erzähl mal, was hast du Lauser angestellt?“
„Nichts“, sagte André und sah den Schnauzbärtigen ruhig an und erzählte, wie es gewesen war.
„Er hat uns Juden beleidigt und ich habe mir dies nicht gefallen lassen, und er hat sich gerächt, indem er mir die Brieftasche in die Jacke gesteckt hat.“
„So war das?“
„Ja. So. Genau so. Mein Wort darauf. Ich bin ein Friedmann. Ich lüge nicht.“
„Tja, Jungchen, das wird dir nur niemand glauben.“
„Ich weiß. Weil ich ein Jude bin. Und außerdem habe ich an den Demonstrationen teilgenommen. Nun haben sie einen Grund, mich als übles Subjekt anzuklagen. Dieb und Jude und Kommunist zu sein, was Schlimmeres gibt es bei uns nicht.“
„Da hast du recht!“, sagte der Schnauzbärtige und paffte große Wolken.
„Du hast an den Demonstrationen teilgenommen? Bist du Kommunist?“
„Nein. Aber ich bin für die, die benachteiligt werden, die man nicht hochkommen und kein gutes Leben führen lässt. Ich bin auf Jack Londons Seite.“
„So? Auf Jack Londons Seite?“, sagte der Schnauzbärtige und nahm die Pfeife aus dem Mund. „Dann sind wir in der gleichen Partei.“
„Das hier ist ein tolles Buch“, sagte André und reichte ihm Martin Eden.
„Das kenne ich nicht“, gestand der Schnauzbärtige und blätterte darin.
„Ich kenne nur Lockruf des Goldes und Alaska Kid.“
„Die sind auch gut. Mir gefällt London am besten, weil er für die Armen und Entrechteten eintritt.“
„Du bist für die Armen und Entrechteten, aber nicht in der Partei?“
„Nein. Bin ich nicht.“
„Aber ich“, sagte der Schnauzbärtige.
„Sie sind doch Polizist.“
„Bahnpolizist“, korrigierte er schmunzelnd.
„Das ist etwas anderes?“
„Oh ja, du wirst es schon noch merken. Wenn ich bei der nächsten Station hinausgehe, solltest du mal prüfen, ob die Tür offen ist. Manchmal vergesse ich, sie abzuschließen.“
Er gab André das Buch zurück, räusperte sich und fuhr ihm über den Kopf.
„Mach es gut, mein Junge. Und mach so weiter. Eifere dem guten Jack London nach, dann wirst du vielleicht nicht reich und berühmt, aber du bist auf der richtigen Seite.“
Er kniff ein Auge zu und ging hinaus.
Nach einer Weile hielt der Zug. André sprang auf und tatsächlich – die Tür ließ sich öffnen. Er nahm den Koffer und drängte sich mit den Reisenden zum Ausgang und sprang auf den Bahnsteig. Er sah den Schnauzbärtigen am nächsten Waggon stehen und ihm zublinzeln. André wäre am liebsten zu ihm gegangen, um sich zu bedanken. Er unterließ es, weil es den Mann vielleicht in Ungelegenheiten gebracht hätte. Er lief durch die Bahnhofshalle auf die Straße.
Ich bin frei. Ich habe meine Bewährungsprobe bestanden. Vater hat recht. Es gibt für einen Friedmann immer einen Weg. Der Vater hatte ihm einiges mitgegeben. Befreit ging er die Straße entlang. Wohin sie auch führte, er wusste, er würde dort ankommen, wo er hinwollte.