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Was passiert im Gehirn bei einem Kontrollverlust?
ОглавлениеWie oft und wie intensiv jemand die Kontrolle über seine Gefühle verliert, ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Es gibt sie, Individuen, die eigentlich nie die Kontrolle über ihre Gefühle verlieren. Was auch geschieht, sie bleiben ruhig und überlegt. Das kann sogar andere zum verstärkten Ärger führen, wenn sie es nicht ertragen können, dass jemand trotz der offensichtlich aufregenden Situation teilnahmslos bleibt. Wenig oder keine Gefühlsregung zu zeigen, stört fast immer die soziale Kommunikation, die auch über den Austausch von Gefühlen stattfindet. Wer in einem Gespräch nicht »mitschwingt«, Gefühle unterdrückt oder nicht erkennen lässt, wird schnell langweilig. Das Gegenüber hat das Gefühl, keinen Kontakt zu haben, da etwas Entscheidendes fehlt. Wer hingegen in südeuropäischen Ländern Menschen beobachtet, die freundschaftlich miteinander in Kontakt sind, erkennt leicht, dass nicht nur das gesprochene Wort eine Bedeutung hat. Mindestens gleichwertig, wenn nicht bedeutender sind Gestik, Mimik und Intonation. Für kühle Nordländer erscheint alles übertrieben, überschwänglich und besonders gefühlsbetont. Mit Sicherheit spüren einige auch Neid, wenn sie so viel Temperament erleben.
Viel mehr als den meisten bewusst ist, können Kontrollverluste das Leben negativ beeinträchtigen. So wie es Menschen gibt, die fast nie die Kontrolle über ihre Gefühle verlieren, gibt es andere, die sehr häufig hierdurch in schwierige Situationen geraten.
Frau G. ist leicht kränkbar, jede noch so geringe Kritik an ihrer Person bringt sie in emotionale Schwierigkeiten. Wie auf Knopfdruck verändern sich Denken und Fühlen. Sie geht in den »Verteidigungsmodus« und sucht nach Argumenten, um die Kritik zurückzuweisen. Was jetzt besonders auffällt, sind Übertreibungen, die im Denken von Frau G. zu beobachten sind. Sie glaubt, völlig wertlos zu sein, so als würde sie als Person absolut zurückgewiesen. Sie steigert sich in immer stärkere Wut hinein und wird die negativen Gefühle erst nach längerer Zeit wieder los. Die ständige Angst vor Kritik führt zu Zurückhaltung und übertriebener Vorsicht in zwischenmenschlichen Kontakten.
Natürlich kann Frau G. nicht immer und spontan ihren Ärger zeigen, etwa wenn Personen anwesend sind, die ihr besonders wichtig sind oder denen sie sich unterlegen fühlt. In diesem Fall schluckt sie ihren Ärger, der im Anschluss an die Szene viele Stunden, eventuell Tage anhalten kann.
Im Falle einer Kritik an ihrer Person übernimmt das emotionale Gehirn von Frau G. quasi die Regie. Das ist zwangsläufig der Fall, da es sich hier um einen automatischen Mechanismus handelt. Der gesamte Vorgang unterliegt nicht der willentlichen Kontrolle. Die Amygdala reagiert, da sie die Situation – Kritik zu erfahren – als bedrohlich für die Person empfindet. So erleben unendlich viele Menschen ihre Realität.
»Ich bin nicht wütend!« – So ruft Herr K. und glaubt das wirklich. Alle, die ihn beobachten, stellen jedoch eine deutliche Erregung fest. So sehr Herr K. bemüht ist, seinen Ärger nicht zu zeigen, gibt es offensichtlich in seinem Inneren etwas, das stärker ist. Der Ort, an dem starke Gefühle angesiedelt sind, ist das sogenannte Limbische System. Zentral sind hier die Amygdala und die darum herum liegenden Nervenbahnen und Schaltkreise zu nennen. Sie machen das emotionale Gehirn des Menschen aus. Manchmal hat uns das Limbische System im Griff, etwa bei starker Freude, in der Verliebtheit oder wenn wir sonst wie Rauschhaftes erleben. Aber auch bei starkem Ärger oder Hass. Mit etwas Abstand betrachtet würde man erkennen, dass in diesen Situationen das logische Denken in den Hintergrund tritt. Man ist beispielsweise für Argumente nicht zugänglich. Eventuell ist auch ein zeitlicher Abstand wichtig, damit der Blick für die gesamte Situation realistischer wird. Vor einer wichtigen Entscheidung erst eine Nacht zu schlafen ist in vielen Fällen eine weise Maßnahme.
Im Falle des Kontrollverlustes ist jedenfalls der Neokortex als rationale Instanz ziemlich ausgeschaltet. Im Limbischen System findet sozusagen eine Überschwemmung statt und unsere Gefühle haben uns im Griff. Amygdala Highjacking nennt der bekannte amerikanische Autor David Goleman diesen Zustand3. Hier hat Radikales stattgefunden. Highjacking bedeutet Entführung, völlige Inbesitznahme, Kidnapping. Damit wollte er einen Zustand beschreiben, der bei einem emotionalen Kontrollverlust entsteht. Wenn sich alles nur noch in der Amygdala abspielt, sind andere Hirnregionen quasi ausgeschaltet. Realistisches Nachdenken und Überlegen sind nicht möglich. Je mehr sich ein Mensch z. B. in seine Ärgergefühle hineinsteigert, umso weniger ist es ihm möglich, objektiv zu bleiben, und andere, etwa konträre Argumente, zu sehen bzw. zu akzeptieren. Wer mit starken Ärgergefühlen konfrontiert ist, tut immer gut daran, eine Zeit verstreichen zu lassen, bis die erste Wut vorüber ist, damit eine nüchterne Betrachtung der Begebenheit möglich wird. Dies zu wissen ist von zentraler Bedeutung, wenn es darum geht, den Kontrollverlust zu erforschen und gegebenenfalls zu vermeiden. Wenn es einmal passiert ist, kann man nur sehr schwer den Kontakt zum Neokortex herstellen und rationales Denken in den Vordergrund bringen. Der Kontrollverlust ist ja gerade ein Selbstläufer, der nur schwer zu stoppen ist. Wer ihn vermeiden will, sollte gar nicht erst anfangen, sich in seine Gefühle hineinzusteigern. Das ist mitunter leichter gesagt als getan.