Читать книгу Vom klugen Umgang mit Gefühlen - Heinz-Peter Röhr - Страница 8
Wie kommt es zu Kontrollverlusten?
ОглавлениеStellen wir uns folgende Szene vor: Zwei Männer stehen an der Theke und trinken ihr Feierabendbier. Herr A. ist mit dem Tag, so wie er gelaufen ist, zufrieden. Er trinkt sein Bier aus und geht nach Hause. Herr B. spült erst einmal seinen Ärger hinunter. Er ist unzufrieden und langsam spürt er, dass der Alkohol seine Wirkung tut. Er fühlt sich erleichtert und bestellt ein weiteres Bier, um die Wirkung zu steigern.
Von außen ist der entscheidende Unterschied kaum zu erkennen. Tatsache ist jedoch, dass Herr B. Alkohol als Problemlöser missbraucht.
Das klassische Merkmal der Suchtkrankheit ist der Kontrollverlust. Ein Suchtmittel wie etwa Alkohol sollte emotionale Probleme lösen: Ärger, Unzufriedenheit, Angst, Trauer, Frustration etc. beseitigen. Das Problem beginnt mit der »Dosissteigerung«, das bedeutet, dass immer mehr Suchtmittel benötigt wird, um eine euphorisierende Wirkung zu erreichen.
Suchtkranken ist es schließlich nicht mehr möglich, eine Erleichterung zu erzielen, egal wie viel sie konsumieren. Exzessiver Konsum führt bestenfalls zur völligen Betäubung. Die Entzugserscheinungen zwingen zum weiteren Missbrauch der Droge. Die körperliche und psychische Abhängigkeit dominiert den Alltag. Dieses Wissen kann Suchtkranken helfen, abstinent zu bleiben. Wenn es sowieso keine positive Wirkung mehr geben kann, lohnt es sich nicht, wieder anzufangen.
Endorphine sind Botenstoffe, die ähnlich wie Opiate für positive Gefühle sorgen. Das emotionale Gehirn hat Rezeptoren, die für Endorphine empfänglich sind. Diese körpereigenen Drogen kann man z. B. durch Sport, etwa Joggen, erzeugen. Dies ist für die Gesundheit sehr positiv. Wer regelmäßig Sport treibt, sorgt für körperliches Wohlbefinden. Untersuchungen zeigen, dass Sport ein wirksames Mittel gegen Depression ist und auch das Immunsystem gestärkt wird. Problematisch wird dies jedoch, wenn versucht wird, mithilfe von Joggen emotionale Probleme zu bearbeiten. Es ist in Ordnung, wenn man sich mal den »Frust von der Seele rennt«. Wird dies jedoch zum dauerhaften Problemlöser, reduziert sich allmählich die Wirkung der körpereigenen Droge, sodass man immer mehr investieren muss, damit die Wirkung eintritt. Der Kontrollverlust (man kann mit dem Joggen nicht mehr aufhören) zeigt wieder, dass mit falschen Mitteln versucht wurde, ein tieferes Problem zu lösen. Fast immer lässt sich dies auf ein gestörtes Selbstwertgefühl zurückführen.
Ein anderes Beispiel:
Händewaschen kann die Angst vor Infektionen oder Schmutz beruhigen und spielt aktuell gerade in Zeiten von Corona eine wichtige Rolle bei prophylaktischen Hygienemaßnahmen. Wenn die Angst vor einer möglichen Infektion jedoch bald wieder da ist, muss man erneut die Hände waschen. Ständiges Händewaschen führt zu einer Zwangsstörung mit typischen Kontrollverlusten. Patienten mit Waschzwang müssen ihre Hände täglich viele Male waschen.
Emotional stabile Menschen nehmen sinnvolle Maßnahmen zum Schutz vor Infektionen in Anspruch, etwa Händewaschen. Emotional instabile Menschen entwickeln leicht übertriebene Ängste, z. B. vor Infektionen. Das häufige Händewaschen ist jedoch das falsche Beruhigungsmittel. Perfektionismus fördert letztlich die Ängste, da man nie gut genug ist und es keine absolute Sicherheit geben kann. Da Beruhigung nicht wirklich funktioniert, werden die Beruhigungsversuche intensiviert. Letztlich muss der Beruhigungsversuch scheitern. Jetzt hat der Mensch zwei Probleme. Die übertriebene Angst vor Infektionen, die durch häufiges Händewaschen stärker wird, und den Kontrollverlust über das Händewaschen. Diesbezüglich werden Selbstvorwürfe und Schuldgefühle entwickelt. In diesem Teufelskreis wird die emotionale Stabilität weiter geschwächt.
Der Ursprung war die übertriebene Angst vor Infektionen. Für eine Behandlung wäre hier anzusetzen. Für Betroffene ist es zunächst extrem schwer, auf ihr Beruhigungsmittel »Händewaschen« zu verzichten, da sich unweigerlich starke Ängste einstellen.
Hinter einem Waschzwang steht auch nicht selten der Versuch, Schuldgefühle zu bewältigen. Der uralte Spruch »Die Hände in Unschuld waschen« zeigt die Beziehung zwischen Schuld und sich reinwaschen. Objektiv gesehen ist jedoch klar, dass man Schuldgefühle nicht abwaschen kann. Sich beschmutzt fühlen, etwa nach sexuellem Missbrauch, kann ebenfalls zu einem Waschzwang führen, denn auch hier ist es nicht möglich, das Geschehene abzuwaschen.
Zu erkennen sind die Versuche, mit falschen Mitteln der Angst vor Infektion oder Beschmutzung Herr zu werden. Die Therapie geht den umgekehrten Weg. Betroffene werden mit Schmutz und Dreck an den Händen konfrontiert und spüren bald, dass die Angst schwindet, wenn man sich bewusst mit ihr konfrontiert.
Im Vorfeld von Kontrollverlusten geht es um ein Verhalten oder um Gefühle, die eine Beruhigung, Erleichterung oder Stimulierung erzeugen sollen. An vielen Beispielen lässt sich zeigen, dass ein typisches »Missbrauchsverhalten« stattgefunden hat. Damit ist gemeint, dass Betroffene versuchen, unangenehmen Gefühlen mit untauglichen Mitteln aus dem Wege zu gehen. Da dies nicht zum gewünschten Erfolg führt, wird der Einsatz gesteigert. Über Konditionierung wird die Wahrscheinlichkeit weiterer Kontrollverluste programmiert. Meist genügen dann bestimmte Auslöser, die den Selbstläufer initiieren.