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Die Konditionierung eines Kontrollverlusts
ОглавлениеKonditionierung ist der Fachbegriff dafür, dass das Gehirn lernt, wie auf Knopfdruck bestimmte Reaktionen zu zeigen. Das berühmteste Beispiel war der Pawlow’sche Hund. Dem russischen Verhaltensforscher Iwan Pawlow war es gelungen, zu beweisen, dass ein bestimmter Reiz, in dem Fall ein Glockenton, zu Speichelfluss bei einem Hund führte, da dieser Ton immer in Verbindung mit der Futterausgabe erfolgte. Der Glockenton löste schon nach kurzer Zeit den Speichelfluss auch dann aus, wenn noch kein Futter angeboten wurde. Das war der Beweis, dass das Gehirn auf bestimmte Reize reagiert, weil es sich erinnert. In der Fachsprache wird dieser Vorgang Konditionierung genannt. Darunter ist ein Lernvorgang zu verstehen, der automatisch abläuft, wenn bestimmte Reize eintreten. Auch hier ist ein gewisser Kontrollverlust zu beobachten, manchmal genügen kleine »Auslöser«, um das Gehirn zu starken Reaktionen zu animieren, deren man sich kaum erwehren kann.
Bei den weiteren Überlegungen wird sich immer wieder ein Problem zeigen: untaugliche Problemlösungsstrategien. Wie es zu Kontrollverlusten kommt, findet nach einem typischen Muster statt. Ein Verhalten soll Erleichterung verschaffen, da sich der Erfolg nicht in genügender Weise einstellen will, glaubt man, durch ein Mehr vom Selben das Ziel doch noch zu erreichen.
Das berühmte »sich in etwas Hineinsteigern« bedeutet, sich den Gefühlen ganz zu überlassen und dabei den Verstand auszuschalten. Nach dem Motto: »Das ist mir jetzt völlig egal, ich will meine Wut, meinen Groll, meinen Hass jetzt ungebremst ausleben.« Man sucht die Erleichterung, die Befriedigung, die Genugtuung. Ein Kontrollverlust über Gefühle, Gedanken oder Verhaltensweisen hat fast immer etwas mit Missbrauch zu tun. Missbrauch in dem Sinne, dass ein Verhalten praktiziert wird, das zwar eine direkte Erleichterung bringt, aber keine Lösung. Da dieser Missbrauch nicht immer offensichtlich ist, wird er oft nicht im Zusammenhang mit dem Kontrollverlust gesehen. So wie man Alkohol oder Drogen konsumiert, um die Stimmung zu verbessern, lassen sich auch Gefühle und Verhaltensweisen instrumentalisieren, um Effekte zu erzielen. Das ist ein so häufiger Vorgang, dass man ihn als »normales« menschliches Verhalten bezeichnen kann. Viele Menschen trösten sich mit Schokolade, wenn sie sich einsam oder frustriert fühlen. Problematisch wird das Ganze erst, wenn es sich verselbstständigt, wenn es immer wieder zu Kontrollverlusten kommt, ein unwiderstehlicher Drang vorhanden ist, immer mehr Schokolade zu essen. Weitere typische Verhaltensweisen, über die die Kontrolle verloren gehen kann, sind beispielsweise Glücksspiel, Sport, Sex …
An diesem Beispiel wird deutlich, dass eine Konditionierung stattgefunden hat. Wie auf Knopfdruck entgleiten Gefühle und werden quasi zum Selbstläufer.
Wenn man fragt, warum es immer wieder zu Kontrollverlusten kommt, dann sind Teufelskreise zu beobachten. Wer unter einem Kontrollverlust oder unter den Folgen leidet, tendiert zur Selbstabwertung. Er macht sich Vorwürfe und redet negativ mit sich selbst. Warum bin ich wieder über das Ziel hinausgeschossen? Was denken jetzt andere über mich? Warum kann ich mich nicht beherrschen? Durch die Selbstabwertungen wird die Psyche labilisiert. Dies ist wiederum die Basis dafür, dass es neue Kontrollverluste geben wird. Der Vorsatz, dass es so etwas nicht mehr geben wird – nie mehr –, gehört in aller Regel auch dazu.
Erklärsysteme
Typischerweise gibt es nach dem oder schon während des Kontrollverlustes ein »Erklärsystem«, eine Rechtfertigung, eine Beweisführung, warum alles so kommen musste. Meist bestehend aus Ausreden, skurrilen Erklärungen und Schuldzuweisungen.
Menschen, die häufiger Kontrollverluste erleben, leiden fast immer an einer grundsätzlichen emotionalen Labilität. Ein nicht gelöster Konflikt, eine Kränkung, die nicht verarbeitet wurde, eine Zurückweisung, eine Störung der Selbstwertentwicklung. Wenn es zu einer dauerhaften Veränderung kommen soll, gilt es, sich mit den Wurzeln dieser Labilität zu beschäftigen, tiefer zu bohren und das Selbstwertgefühl in das Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken, genauer: Die Entwicklung des Selbstwertgefühls.
Die meisten Menschen haben das Gefühl, dass sie immer die Kontrolle über ihr Verhalten, ihr Denken und Fühlen haben. Psychologische Experimente beweisen nachdrücklich das Gegenteil. Das subjektive Gefühl, selbstbestimmt zu leben, ist weitgehend eine Illusion, ob uns das passt oder nicht. Was wir denken, wie wir uns kleiden, was wir essen, wird von vielen Faktoren bestimmt. Wir leben in einer Zeit, in der bestimmte Denkmuster vorherrschen, die wir unbewusst übernehmen. (Zu jeder Zeit gab es typische Denkmuster; so auch jetzt.) Wie sehr beispielsweise Werbung manipuliert, weiß eigentlich jeder, allerdings hat dieses Wissen zum Vergnügen der Werbeindustrie keine große Wirkung, wir lassen uns weiter »einlullen«. Experten gehen davon aus, dass in den sozialen Medien schon jetzt die Manipulation extrem ist und zerstörerische Kräfte die Demokratie gefährden können.
Was im großen Stil in der Gesellschaft passiert, gelingt auch im persönlichen Bereich. So saß ich einmal mit einer Gruppe Patienten zum Kaffeetrinken in einem Restaurant. Plötzlich erklärte Frau H., eine spielsüchtige Patientin, dass sie nicht im Raum bleiben könne. Ein Glücksspielautomat in der Ecke mache typische Signale, die sie magisch anzögen. Es sei einfacher für sie, wenn sie den Raum verlasse.
Ich hatte das Geräusch bis dahin nicht bemerkt, jetzt wurde mir klar, dass der Automat tatsächlich in zeitlichen Abständen mit einer Melodie »Lockrufe« produzierte, für die ich keine »Antenne« hatte. Für Spielsüchtige sind diese Signale jedoch verheerend, da der Drang zum Spielen unwiderstehlich wird. Dieses Arrangement ist nicht die einzige hinterhältige Maßnahme der Spielindustrie, um Spielsüchtige zu verführen. Wenn Frau H. aus der Klemme kommen wollte, müsste sie lernen, dieses Signal zu hassen. Sie müsste augenblicklich realisieren, welches Elend sie durch ihre Spielsucht ertragen musste. Ihr Gehirn würde sie auf diese Weise »umprogrammieren«. Der erste Schritt, den Raum zu verlassen, war richtig; mit etwas Abstand zu einer neuen Haltung zu kommen, wäre die nächste Aufgabe. Hier lässt sich Grundsätzliches erkennen: Solange Frau H. sich diesem lockenden Signal ausgeliefert fühlt, ist sie in der Opferrolle. Die innere Überzeugung lautet: Das Signal ist stärker als ich. Sobald es ihr gelingt, das Signal zu hassen, ist sie in der »Täterrolle«. Die innere Überzeugung lautet: Ich gebe meine Selbstkontrolle nicht an primitive Verführungstechniken ab, ich bin frei, weil ich nicht mehr spiele. Ich hasse Spielautomaten, weil sie mein Leben vergiftet haben.
Bestimmte Auslöser können zum Kontrollverlust führen. Das gilt tragischerweise auch für Gedanken. Bei Frau H. ist es die Nähe zu einem Glücksspielautomaten, der einen starken Impuls auslöst. Es ist nicht schwierig, diese grundsätzlich zu meiden, indem man sich nicht in ihre Nähe begibt. Für Spielsüchtige während der ersten Phase ihrer Abstinenz ist diese Distanz eine ratsame Maßnahme.
Das Gehirn produziert permanent Gedanken, und man trägt es immer bei sich. Darum ist es eventuell viel schwieriger, von Gedanken, die zu Kontrollverlusten führen, abstinent zu werden, zumal es einen Magneten zu geben scheint, der diese Gedanken förmlich anzieht. Aber auch hier ist es ratsam, auf das Problem zuzugehen und genau zu erforschen, welche Auslöser dies sind, wie sie benannt werden können. Sie gehören auf den Prüfstand, damit sie einer realistischen Bewertung zugänglich werden. Aus Angst vor der Angst wollen Betroffene mit den entsprechenden Auslösern möglichst nicht in Berührung kommen. Damit ist das eigentliche Problem beschrieben. Aber gerade die Konfrontation und die Auseinandersetzung mit dem Auslöser nimmt das Drama und damit schon viel von der Angst. Ein realistischer Blick auf das Problem hilft, die Dinge anders und besser einzuordnen. Auch hier geht es darum, die Opferrolle zu verlassen und in die Täterrolle zu gelangen. Ohne dass es zu einem Umlernprozess im Gehirn kommt, ist Veränderung nicht denkbar.