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FÜNF

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Die so genannte Alleevilla war ein enttäuschend schmuckloses Gebäude aus der Gründerzeit mit abweisend heruntergelassenen Rollläden und von einem langweiligen, weitläufigen Rasen umgeben. Lea war schon hundertmal daran vorbeigejoggt, ohne zu wissen, um was es sich handelte. Kein Hinweisschild ließ Rückschlüsse zu, dass hier millionenschwere Kunstschätze schlummerten. Noch nicht einmal ein Zaun grenzte das Areal ab, lediglich kleine Täfelchen mit der Aufschrift »privat« waren auf dem Rasen verteilt und wurden auf wundersame Weise von jedermann beachtet, sogar von den vielen Hunden, die hier ohne Leine ausgeführt wurden.

»Das ist ja vielleicht hässlich«, entfuhr es Lea, als sie mit Franz um das Gebäude ging. »Hier würde ich niemals wohnen wollen, nicht mal für noch so viel Geld.«

»Hier wohnt auch niemand. Hier hat Mennicke nur seine Gemäldesammlung ausgestellt. Früher, während der Rennwoche, haben mich meine Eltern immer hierher geschleppt. Mann, war das langweilig, all diese alten Schinken. Aber meine Eltern waren jedes Mal hingerissen, wenn sie vor einem echten Dürer, Rembrandt oder Holbein standen.«

»Mannomann, solche Schätze in diesem Kasten? Ohne Zaun? Kaum zu glauben.«

Franz grinste und mache eine Kopfbewegung zur Seite. »Garantiert besser gesichert als die Kronjuwelen der Queen. Schau mal da hinten, zwischen den Bäumen, siehst du die Betonmasten mit den Kameras? Und dort? Und dort?« Er zeigte in jede Himmelsrichtung. »Oder da, das kleine Kästchen neben der Eingangstür? Ich wette, man hat uns längst im Visier.«

»Was passiert eigentlich mit der Sammlung, jetzt, wo Mennicke tot ist?«

»Keine Ahnung. Die Stadt kriegt sie jedenfalls garantiert nicht. Wir müssten herausbekommen, wer Mennickes Erben sind.«

Lea nickte. »Das brennt mir die ganze Zeit schon unter den Nägeln. Wer hätte denn eher ein Komplott gegen einen reichen alten, aber sehr lebendigen Mann zu planen als jemand, der sich davon Geld versprach, also die Erben? Aber im Archiv habe ich nichts gefunden. Er war der einzige Nachkomme, und auch er und seine Frau hatten offenbar keine Kinder. Vielleicht gibt es Nichten und Neffen auf der Seite der Frau, das müssen wir noch recherchieren. Ich hab vorhin schon meine Quelle im Notariat angezapft, aber zu Mennicke wollte sie partout nichts sagen, im Gegenteil, die klappte zu wie eine Auster.«

Franz zog ein verknittertes Tabakpäckchen aus der Hosentasche. »Stört’s dich sehr?«

Lea schüttelte tapfer den Kopf, obwohl sie ihm den Tabak am liebsten aus der Hand gerissen hätte. Sie versuchte wegzusehen, während Franz sich mit geschickten Fingern eine Zigarette rollte. Als er sie anzündete und einen tiefen Zug inhalierte, brach ihr der Schweiß aus.

Um sich abzulenken, ging Lea über die breite Kiesauffahrt zur Villa und klingelte. Kein Namensschild, kein Laut. Sie klingelte noch einmal. Nichts. Allmählich machte sie sich Sorgen um den Aufmacher, den sie den Kollegen für morgen versprochen hatte. Wenn wenigstens ein Sicherheitsdienst erscheinen würde! Das Gebäude und der große Rasen waren tadellos gepflegt. Es musste sich jemand intensiv darum kümmern. Aber es war niemand zu sehen. Am liebsten hätte sie vor Enttäuschung mit der Faust gegen die massive Eichentür gehämmert. Sie musste zugeben, dass die Alleevilla keinen Erfolg versprach. Was jetzt?

»Franz, weißt du, wo Mennicke gewohnt hat, bevor er ins Imperial kam?«

»Klar. Im Mennicke-Schlösschen. In der Kaiser-Wilhelm-Straße.« Franz zeigte Richtung Kurhaus. »Der Schuppen müsste leer stehen, seit Mennicke ins Pflegeheim kam. Komisch eigentlich, dass er sich nicht zu Hause hat pflegen lassen. Geld genug hatte er jedenfalls.«

Als sie wenig später vor dem Anwesen standen, konnten sie sich vorstellen, warum Mennicke es vorgezogen hatte, seine letzten Tage in einer netten kleinen Wohnung im Imperial zu verbringen.

An diesem riesigen Gebäude war seit Jahrzehnten nichts mehr getan worden, es war ein dringender Sanierungsfall. Doch trotz oder gerade wegen seines abfallenden rosafarbenen Putzes, der nicht mehr weißen Säulen, der bröckelnden kleinen Balkone und morschen dunkelgrünen Holzläden erinnerte es Lea an die prachtvollen maroden Paläste Venedigs. Was aber in der Lagunenstadt romantisch morbide wirkte, sah hier in der noblen Umgebung der Kaiser-Wilhelm-Straße aus wie ein Schandfleck.

Das Anwesen, das leicht erhöht auf einem Hügel stand, war erheblich größer als das Mietshaus in der Quettigstraße, in dem sie mit fünfzehn weiteren Parteien wohnte, und es wirkte trotz seiner verspielten Bauelemente kalt, abweisend und viel zu groß für eine einzelne Person. Wahrscheinlich hatten es Mennickes Vorfahren als Sitz einer künftigen Dynastie gebaut. Auch das Grundstück, auf dem es thronte, war erheblich überdimensioniert, der Rasen erstaunlich ungepflegt. Mennicke hatte auf eine Bepflanzung mit wertvollen Gehölzen, wie man sie auf den umliegenden Nachbargrundstücken sah, gänzlich verzichtet. Lieblos und nackt sah die Fläche aus; statt alter Bäume gab es nur an allen Ecken mächtige Betonmasten mit Überwachungskameras wie unten in der Lichtentaler Allee, die jeden Winkel unter Kontrolle hätten haben können, wenn sie in Betrieb gewesen wären.

Was Lea aber viel mehr interessierte, war die riesige Tafel in der Einfahrt mit einer Zeichnung des Anwesens, wie es nach einer Totalsanierung aussehen könnte. »Exklusive Eigentumsetagen im Mennicke-Schlösschen, Alleinvertrieb direkt vom Eigentümer, Immobilien Nowak. Grundrisswünsche noch erfüllbar. Umbaubeginn 1. April 2004, Fertigstellung noch in diesem Jahr.« Darüber war ein Banner geklebt: »Schon drei Wohnungen verkauft«.

Weiter hinten, unterhalb der imposanten Eingangstreppe, die von zwei Bronzelöwen bewacht wurde, standen mehrere Container, die mit Bauschutt gefüllt waren. Auf der Baustelle arbeitete niemand mehr. Es war schon nach fünf.

Franz hob die Kamera und fotografierte Haus und Bautafel.

Lea war zufrieden. »Da haben wir doch was. Das reicht für einen Aufmacher, und es bringt uns dem Komplott einen Schritt näher.«

»Wieso?«

»Sieh doch nur: Umbaubeginn 1. April. Mennicke ist am 28. März gestorben. Somit müsste Mennicke seinen Familienstammsitz schon zu Lebzeiten verscherbelt haben. Das glaube ich aber nicht. Das hatte er doch gar nicht nötig. Außerdem: Macht das jemand mit einundneunzig, dem es offenbar seit Jahren schon zu viel war, das Gebäude wenigstens notdürftig in Stand zu halten? Na?«

Franz scharrte ungeduldig mit dem Fuß. »Natürlich nicht. Worauf willst du hinaus?«

»Wir müssen herausbekommen, wem das Schlösschen jetzt gehört.«

»Da steht es doch: Eigentümer: Immo-Nowak.«

»Seit wann gehört es ihm? Hat er es geerbt oder – was ich für wahrscheinlicher halte – vom Erben gekauft? Wann hat er mit den Umbauplänen angefangen? So etwas stampft man doch nicht drei Tage nach dem Ableben des vorherigen Eigentümers aus dem Boden. Da stimmt doch was nicht.«

»Du meinst, der Erbe, wer auch immer das ist, hat vorher schon mit Immo-Nowak gemeinsame Sache gemacht, nur bis zum Tod von Mennicke gewartet und den Kasten verscherbelt, noch bevor Mennicke unter der Erde war?« Franz war elektrisiert.

»So ungefähr«, bestätigte Lea. »Du musst so schnell wie möglich ins Archiv. Es muss doch eine Bauausschuss-Sitzung gehen, in der dieses Projekt öffentlich erörtert worden ist. Vielleicht ist dort der Name des Erben bekannt gegeben worden. Ansonsten müssen wir jemanden im Grundbuchamt finden, der uns weiterhilft. Außerdem brauche ich alle Informationen über diesen Nowak.« Sie kam nicht dazu, ihre Gedanken weiterzuspinnen, denn in diesem Moment tauchten im Hauseingang zwei Gestalten auf, ein unübersehbarer Rübezahl und ein ausgemergelter Jungspund: Gottlieb und sein Kollege Lukas Decker.

»Drück ab«, raunte Lea, »drück ab, um Gottes willen, das ist die Sensation.«

Die Kamera klickte, während Gottlieb heranschlurfte, müde und grau, als habe er mehrere Nächte hintereinander nicht geschlafen und seit Tagen nichts Anständiges mehr gegessen. Eine gefährliche Mischung. Müde, hungrige Männer waren unberechenbar.

Lea hielt die Luft an. Nur das Klicken der Kamera war zu hören.

»Was machen Sie da?«, blökte Gottlieb.

»Nichts Verbotenes. Die Straße ist öffentlicher Grund, Mennicke war eine Person der Zeitgeschichte. Wir machen nur unsere Arbeit.«

»Sie schnüffeln herum, meinen Sie.«

Gegen so viel schlechte Laune half nur Offensive, Höflichkeit war Zeitverschwendung.

»Wenn Sie hier ermitteln, Herr Kriminalhauptkommissar, dann ging bei Mennickes Tod offenbar doch nicht alles mit rechten Dingen zu, oder? Haben Sie neue Erkenntnisse zur Todesursache? Oder gibt es Unregelmäßigkeiten beim Erbe?«

»Keine neuen Erkenntnisse. Im Übrigen laufen unsere Ermittlungen nach allen Seiten, nicht zuletzt wegen Ihrer nebulösen Andeutungen, Frau Weidenbach.«

Gottlieb blieb vor ihr stehen und schnaufte. »Da ich Sie gerade sehe. Wenn Sie noch einmal irgendjemandem sagen, dass Sie in einer Mordsache ermitteln, dann sagen Sie bitte auch, für wen Sie das tun.«

Aha, er war also auch im Pflegeheim gewesen.

»Sie trampeln in Ihrem Übereifer alles kaputt, Frau Weidenbach. Die Leute sind so verunsichert, dass sie nicht mal mehr der Polizei etwas mitteilen wollen. Sie behindern unsere Arbeit. Hören Sie auf damit.«

»Solange Sie keine Informationen rausrücken, kann ich nicht anders, als auf eigene Faust zu recherchieren. Das ist mein Job.«

»Ihr Job ist, über unsere Ergebnisse zu berichten, nicht aber, selbst zu ermitteln. Was interessiert Sie denn nur so ungemein an diesem Fall?«

Sie würde ihm bestimmt nicht auf die Nase binden, dass sie sich schuldig an Trixi Völkers Tod fühlte und es als Trixis Vermächtnis ansah, diesem Komplott auf die Spur zu kommen. Deshalb versuchte sie auszuweichen. »Es gibt so viele Ungereimtheiten, da kann ich nicht tatenlos warten, bis die Polizei in Abstimmung mit der Staatsanwaltschaft ein dürres Memo ausgibt.«

Man konnte Gottlieb ansehen, dass er sich zu seinem Lächeln zwang. Es fiel müde aus. »Was wollen Sie denn so unbedingt wissen?«

»Wer ist Mennickes Erbe? Was hatte Trixi Völker mit ihm zu tun? Hat ihr Tod etwas damit zu tun, dass sie Beweise für ein Komplott gegen Mennicke sammelte? Wieso wird Mennickes Familiensitz verscherbelt?«

Gottlieb hielt beide Hände hoch. »Stopp. Genug, Verehrteste. Tut mir Leid, es bleibt dabei: Kein Kommentar.«

Er zündete sich eine Zigarette an und ließ die Schachtel herumgehen. Sein dürrer Kollege winkte ab, aber Franz griff zu. Dann wedelte Gottlieb mit der Schachtel unter ihrer Nase. Das war gemein. Was würde er sagen, wenn sie jetzt vor seinen Augen einen Hamburger auswickeln und hineinbeißen würde?

Sie trat einen Schritt zurück. »Immer noch nicht, danke. Nur noch eine Frage: Warum sind Sie hier, wenn bei Mennickes Tod doch alles mit rechten Dingen zugegangen ist?«

»Frau Weidenbach!« Seine Stimme klang höchst ärgerlich. »Ein letztes Mal: Kein Kommentar.«

»Das schreibe ich so. Hört sich interessant und geheimnisvoll an.«

»Das wäre Verdrehung der Tatsachen. Das schreiben Sie nicht, oder es wird Konsequenzen haben.«

»Sie können mir nicht vorschreiben, was ich zu tun habe. Komm, Franz, das reicht für heute. Die Kriminalpolizei im Mennicke-Schlösschen. Wenn das keine Story ist.«

Sie drehte sich um, aber Gottlieb war schneller. Er versperrte ihr den Weg. »Ich warne Sie«, sagte er leise, »keine haltlosen Spekulationen mehr. Sie kommen in Teufels Küche.«

*

Nachdenklich sah er ihr nach. Fast bedauerte er, sie so grob behandelt zu haben. Aber er musste es tun, es war die einzige, wenn auch verschwindend geringe Chance, sie vor einer Dummheit zu bewahren.

Natürlich hätte er ihr sagen können, dass Steuerberater Jan Wiesinger alles geerbt hatte, vollkommen legal, per letztem Willen, auch wenn er keine Zeit verschwendet hatte, Inventar und Immobilien zu versilbern beziehungsweise zu vergolden. Aber das hätte sie nur zu völlig falschen Rückschlüssen verleitet. Es sah doch ganz danach aus, als lechze sie nach einer Verschwörung, die sie aufdecken konnte, und um dies zu konstruieren, setzte sie Puzzleteile so zusammen, dass sie in ihre Geschichte passten. Und das war falsch.

Richtig war, dass Mennicke an Altersschwäche gestorben war. Richtig war, dass er seinen Steuerberater zum Alleinerben benannt hatte. Richtig war, dass dieser nichts mit dem Tod des alten Mannes zu tun gehabt hatte, genauso wenig wie mit dem Mord an Trixi Völker, denn für diese Zeit hatte er ein Alibi. Richtig war ferner, dass Trixi Völker, obwohl sie sich seit Januar 2003 täglich aufopfernd um Mennicke gekümmert hatte, leer ausgegangen war. Es war verständlich, dass Trixi Völker diese Tatsache nicht hatte wahrhaben wollen und dass sie sich vielleicht deshalb ein Komplott zusammenphantasiert hatte. Aber richtig war eben auch, dass der Mord an ihr nichts mit Mennickes Tod zu tun hatte.

Gottlieb schüttelte den Kopf, als er Lea und ihrem Volontär nachsah. Die Weidenbach war wirklich gut, aber in diesem Fall hatte sie sich vollkommen verrannt. Sie hatte den Ausgangspunkt aus den Augen verloren, aus welchen Gründen auch immer. Bestimmt würde sie sich morgen wieder blamieren, indem sie wilde Spekulationen anstellte, warum er sich im Mennicke-Schlösschen aufgehalten hatte. Dass er, wenn auch vergeblich, nur Mennickes ehemalige Zugehfrau Gerti Büdding gesucht hatte, um sie zu Trixi Völker zu befragen, konnte er ihr schlecht verraten. Sie hätte sich sofort eingemischt und versucht, ihm zuvorzukommen. Wie das enden konnte, hatte er bei seinen Befragungen im Imperial gesehen.

Gottlieb zuckte zusammen, weil ihm die Zigarette fast die Finger verbrannt hätte. Er warf sie zu Boden und zertrat sie gründlich.

»Komm mit, Lukas, wir versuchen es bei der Büdding zu Hause. Vielleicht ist sie inzwischen dort.«

*

Marie-Luise Campenhausen stand am Küchenfenster und wartete darauf, dass ihre Lieblingsmieterin nach Hause kam. Es war schon nach acht, und bestimmt machte die fleißige Journalistin Überstunden. Marie-Luise beneidete die junge Frau um ihren spannenden Beruf. So hautnah an einem Kriminalfall wie der Leiche im Paradies mitarbeiten zu können, das war doch sehr aufregend! Bestimmt hatte Lea auch heute Abend wieder Spannendes zu berichten.

Sie konnte es kaum erwarten, den rot-weißen Mini auf den Parkplatz einbiegen zu sehen. Nicht dass sie etwa reine Neugier plagte, beileibe nicht. Es war eher ein berufsmäßiges Interesse, denn Marie-Luise Campenhausen war leidenschaftliche Krimileserin und somit eine intime Kennerin von Leas Metier. Sie liebte vor allem die Bücher von Raymond Chandler, George Simenon, Patricia Highsmith, Dick Francis, Donna Leon, bis hin zu Patricia Cornwall, Ingrid Noll und ihrer geliebten Elisabeth George.

Sie hatte einen Bibeliskäs gerichtet, denn sie war sich sicher, dass Lea zu so einem leichten, angemachten Quark mit frischem Vollkornbrot nicht nein sagen würde. Dazu noch einen Schluck Wein – perfekt. Marie-Luise freute sich, wenn sie Lea verwöhnen konnte. Sie mochte die aufgeweckte, hübsche junge Frau seit dem ersten Tag ihrer Bekanntschaft. Allerdings war ihre Mieterin in letzter Zeit sehr schmal geworden, so als würde sie sich nicht vernünftig ernähren.

Marie-Luise schüttelte leicht den Kopf. Eine derartige Nachlässigkeit würde sie sich niemals gestatten. Auch wenn es schwer fiel, kochte sie jeden Tag für sich allein, in der Regel etwas Gesundes, Fettarmes. Nach wie vor hielt sie sich eisern an das Programm, das sie sich noch zu Lebzeiten ihres lieben Willi auferlegt hatte, damals, als sie zum ersten Mal einen kleinen Stich von Neid gespürt hatte, wenn sie die sorglosen jungen Menschen sah und sich bewusst wurde, wie viel Zeit diese noch vor sich hatten und wie wenig sie selbst. Seitdem las sie jede Woche ein Buch, vorzugsweise eben Krimis, spielte Bridge, um den Geist fit zu halten, ging jede Woche zum deutsch-französischen Gesprächszirkel, wo sie sich nicht einen einzigen deutschen Gedanken erlaubte. Winters wie sommers ging sie täglich eine Stunde im Stadtwald spazieren, egal ob es regnete oder sie eine Erkältung hatte, und samstags besuchte sie ebenso regelmäßig das Bertholdbad. Abends schrieb sie Tagebuch, das sie nicht eher schloss, bis ein positiver Gedanke aus ihrer Feder geflossen war. Ja, sie genoss das Leben, selbst jetzt, im zwanzigsten Jahr als Witwe.

Sie hatte ihren Willi wirklich geliebt, und das nicht nur, weil er ihr ein sorgenfreies Leben geboten hatte. Er war klug gewesen, gütig, witzig, aber auch er hatte wie sie selbst niemals die Contenance verloren. Leider hatten sie keine Kinder bekommen, aber sie liebte ihre Neffen, Nichten und deren Kinder, als seien es ihre eigenen. Nach Willis Tod war sie nach Florida gegangen, wo sie ein Haus hatten und wo sie versuchte, dem Golfsport endlich etwas abzugewinnen. Aber das Leben dort war ihr zwischen all den selbstzufriedenen betagten Nachbarn schnell langweilig geworden. Was waren Golfspielen, Barbecue und Shopping Mall schon gegen Schwarzwaldluft, stilvolle Abende im Casino und spannende Nachmittage auf der Pferderennbahn? Es gab für sie keinen schöneren, interessanteren und aufregenderen Ort auf der Welt als Baden-Baden.

Und nun hoffte sie, dass Lea es ihr ermöglichte, Einblicke in die Hintergründe eines realen Kriminalfalls zu bekommen. Sie konnte es kaum erwarten, die Journalistin abzupassen.

Um halb neun bog der Mini endlich um die Ecke. Lea hatte tatsächlich noch nichts gegessen und nahm ihr Angebot zu einem Vesper gern an.

Schnell tischte Marie-Luise den Quark und das Brot sowie einen leichten Grauburgunder aus der Ortenau auf.

»Das ist genau das Richtige«, seufzte Lea aus tiefstem Herzen. Sie hatte sich aufs Sofa neben Mienchen gesetzt und streichelte das arme Tier, bis es vor Vergnügen brummte. »Sieht gar nicht so schlimm aus, oder?«

Marie-Luise war ihr dankbar für das Stichwort und berichtete, was der Tierarzt gesagt hatte.

»Nächste Woche darf der Verband runter«, schloss sie. »Jetzt aber zu Ihnen. Erzählen Sie, was gibt es Neues in unserem Mordfall?« Sie hoffte, dass es nicht unhöflich begierig klang, und versuchte unauffällig, wieder eine normale Sitzposition einzunehmen, nachdem sie vor lauter Aufregung ganz nach vorn an die Stuhlkante gerutscht war. Das gehörte sich nicht. Sie sollte wirklich etwas mehr Haltung wahren.

Aber als Lea geendet hatte, konnte sie ihre Enttäuschung kaum unterdrücken. »Ist das alles?«, rutschte es ihr heraus.

Lea hob die Schultern. »Ziemlich dürftig, was? Aber so scheint es nur auf den ersten Blick. Dieser Nowak steckt in der Sache drin, das garantiere ich Ihnen. Ich habe in meinem Artikel für morgen ein paar Andeutungen fallen lassen, die ihn aufschrecken werden. Aus dem Internet habe ich schon erfahren, dass er den letzten Umbau vom Imperial vorgenommen hat. Ob es daher die Verbindung zu Mennicke gibt? Zu gründlichen Nachforschungen war heute keine Zeit, das muss ich morgen nachholen. Aber vielleicht erübrigt sich das auch, wenn Nowak morgen mit seinem Anwalt zu Reinthaler rauscht.«

»Kommen Sie da nicht in Schwierigkeiten?«

»Keine Sorge, Frau Campenhausen. Ich habe alles wasserdicht formuliert. War ja auch zu schön, dass Gottlieb und Decker ausgerechnet in dem Moment aus dem Schlösschen kamen, als wir dort fotografierten. Das ist eine richtig gute Geschichte, jedenfalls auf die Schnelle.«

Marie-Luise schob die Unterlippe vor. »Vielleicht brauchen Sie ein paar Informationen unter der Hand. Ich bin hier aufgewachsen, ich habe jede Menge guter Kontakte.«

Ihre Mieterin beugte sich vor. »Sie können tatsächlich etwas für mich in Erfahrung bringen: ob Mennicke irgendwelche Verwandten hatte. Ich suche dringend seinen Erben und komme nicht weiter.«

»Ach, das kann ich Ihnen aus dem Stegreif beantworten. Horst Mennicke war das einzige Kind des Kaffeeimporteurs Mennicke. Eine gute Partie, sozusagen. Wenn er auf einen der berühmten Bälle im Kurhaus kam, haben ihm die Mädels reihum schöne Augen gemacht. Mit mir hat er zweimal getanzt, als ich 1949 mein Debüt hatte. Ich weiß noch, er war sechsunddreißig, uralt für mich, und er hatte ganz feuchte, kalte Hände. Da war er für mich erledigt.« Marie-Luise kicherte verschmitzt. »Ich bin einfach auf die Toilette geflüchtet.«

Dann wurde sie wieder ernst. »Im Krieg ist er verschwunden gewesen. Man munkelte, sein Vater habe ihn auf eine Kaffeeplantage nach Südamerika geschafft. Das Nächste, das ich weiß: 1951 hat er seine Sekretärin geheiratet. Kinder hatten die beiden nicht.«

»Hatte seine Frau Geschwister? Nichten, Neffen?«

»Sie war Jüdin. Die einzige Überlebende ihrer Familie.«

»Oh.« Lea Weidenbach sah betroffen aus und suchte nach Worten. Am liebsten hätte Marie-Luise ihre Hand genommen und sie getröstet. Aber sie schwieg und fühlte sich ebenso beklommen.

»Kommen Sie, kommen Sie«, sagte sie schließlich unbeholfen und begann den Tisch abzuräumen. »Ich bin jedenfalls auf Ihren Artikel morgen und die Reaktion von diesem Nowak gespannt.«

*

Leas Artikel erschien am nächsten Tag nicht.

Dafür hatte Götz Reinthaler gesorgt. Er hatte den Bericht und die Fotos in letzter Minute, kurz vor dem Andruck, aus dem Blatt genommen und die Lücke mit einem Bericht über das bevorstehende Frühjahrsmeeting auf der Pferderennbahn gefüllt.

»Das können Sie mit mir nicht machen!«, schrie ihn seine Polizeireporterin am nächsten Morgen an.

»Beruhigen Sie sich, Lea. Diese Überschrift und dieses Foto – was meinen Sie, mit wie vielen Anwälten Nowak schon hier säße.«

Lea hörte gar nicht richtig zu, so ärgerlich war sie. Sie hatte am Morgen zuerst an einen Scherz der Kollegen geglaubt, als sie die Zeitung am Frühstückstisch aufgeschlagen und der Artikel, den sie eigenhändig ins Blatt gehoben hatte, gegen eine Übersicht über die Renntage ausgetauscht war. Sie hatte Frau Campenhausen gebeten, ihr ihre Zeitung zu zeigen, doch die sah genauso aus.

»Sie können meinen Artikel nicht einfach aus dem Blatt nehmen. Das ist nicht fair. Sie müssen mich vorher informieren. Und wenn Nowak mit zehn Anwälten gekommen wäre – schön für uns. Ich habe nichts Strafbares geschrieben, keine Verleumdung, keine voreilige Vorverurteilung. Nur ein paar Fakten und Fragen.«

»Keine beweisbaren Fakten.«

»Nicht beweisbar? Und was ist mit dem Schild? Und der Termin darauf? Kein Fakt? Baubeginn drei Tage nach Mennickes Tod, kein Beweis?«

»Schon wieder. Sie stellen immer nur Fragen, die etwas unterstellen. Das ist angreifbar.«

»Das ist legitim. Ich habe nur zurückgerechnet. Ich habe nicht geschrieben, dass Nowak Mennickes Mörder sein könnte. Aber dass Kriminalhauptkommissar Gottlieb aus diesem Haus kam, ist Fakt. Das darf ich sehr wohl schreiben. Ich bin für meine Artikel allein verantwortlich.«

»Normalerweise schon. Dafür werden Sie auch gut bezahlt. Aber gestern habe ich den Bericht kurz vor Andruck gelesen, und damit bin ich verantwortlich. Ich wollte Sie anrufen, aber Ihr Telefon war besetzt. Stundenlang. Hören Sie mal Ihr Handy ab, wie oft ich mit Ihrer Mailbox geredet habe. Ich dachte, Sie seien immer erreichbar. Das haben Sie jedenfalls mal versprochen.«

Lea bemühte sich, ihre Fassung zu wahren. Sie hatte mit Justus telefoniert, bis ihr Ohr heiß geworden war. Es war wieder um ihre Beziehung gegangen, die ihm nicht mehr eng genug war. Er hatte auf dieser Aussprache am Telefon bestanden, »weil du dich so rar machst. Manchmal habe ich das Gefühl, du brauchst mich gar nicht mehr«, hatte er geklagt, völlig zu Recht. Und weil sie deswegen ein schlechtes Gewissen hatte, hatte sie über eine Stunde versucht, ihn zu beruhigen, und schließlich versprochen, ihn am Wochenende in Würzburg zu besuchen. Aber das brauchte Reinthaler nicht zu erfahren.

»Mit wem ich nachts telefoniere, ist meine Privatsache. Den Polizeifunk habe ich abgehört, zu mehr bin ich nicht verpflichtet, oder?«

Reinthaler zwinkerte nervös. Seine Finger fuhren unruhig über seine Pfeifensammlung, die er in Reih und Glied in einem langen Ständer aufbewahrte und aus der seit zwei oder drei Wochen ein Exemplar fehlte. Er wählte eine Pfeife mit weißem Mundstück. »Egal. Über Mennicke wird jedenfalls vorerst nichts mehr berichtet. Es gibt keinen Fall Mennicke, Lea. Sie verrennen sich in etwas, aus welchem Grund auch immer.«

»Aber Sie selbst haben mir Trixi Völkers Komplott-Geschichte ans Herz gelegt.«

»Vergessen Sie das. Wir haben einen Mordfall in der Stadt. Darüber wollen die Leute etwas lesen.«

»Aber die beiden Morde gehören zusammen!«

Reinthaler seufzte. »Es gibt keinen Mordfall Mennicke. Himmel, Lea, Sie hören sich vollkommen verbohrt an! Sie haben keinen einzigen Beweis geliefert, dass Mennicke nicht an Altersschwäche gestorben ist. Zurück auf den Boden der Tatsachen. Klemmen Sie sich hinter den Fall Trixi Völker. Punkt.« Ihr Chefredakteur sah sie scharf an. »Fragen Sie doch mal beim Arbeitsamt nach. Die Völker war zum Schluss dort gemeldet, hat mir ein Vögelchen gezwitschert. Vielleicht weiß die Sachbearbeiterin mehr.«

Meinte Reinthaler jetzt, sie wäre nicht selbst darauf gekommen, dort nachzufragen? »Ich habe Franz vorhin schon hingeschickt«, erwiderte sie nur knapp. »Hören Sie, es muss einen Zusammenhang geben. Trixi Völker hat Ihnen doch von einem Mordkomplott gegen ihren Onkel berichtet.«

»Nicht berichtet, nur angedeutet. Das Wort Komplott ist gefallen, das Wort Mord nicht.« Reinthaler blies seinen Rauch an die Decke, dann beugte er sich vor und schob ihr ein Blatt Papier zu. »Hier, das wird Sie auf andere Gedanken bringen.«

»Ein Dienstreiseantrag. Was soll ich damit?«

»Ausfüllen. Sie recherchieren doch gerne. Trixi Völker wird übermorgen, am Freitag, in Leipzig beerdigt. Auf dem Südfriedhof. Bleiben Sie ruhig einen Tag länger, wenn Sie das zum Nachforschen brauchen.«

Dann lächelte er ihr zu und griff zum Telefon.

Wie der Wind war Lea zur Tür draußen. Leipzig! Trixi Völker stammte aus Leipzig und hatte bis vor eineinhalb Jahren dort gelebt. Sie würde alle Hintergrundinformation über die Frau bekommen, die sie brauchte. Morgen. Aber heute hatte sie noch den ganzen Tag Zeit, um nach ihrer Methode vorzugehen und herauszufinden, was genau Trixi Völker mit Mennicke verbunden hatte.

Crime Collection III

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