Читать книгу Crime Collection III - Heinz von Wilk - Страница 18

ZEHN

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Kriminalhauptkommissar Gottlieb rieb sich die Müdigkeit aus den Augen. Es war schon nach zweiundzwanzig Uhr. Seine Leute sahen ebenfalls müde und unkonzentriert aus. Am besten, sie machten Schluss für heute und trafen sich morgen wieder. Morgen war Sonntag. Ob er ihnen wenigstens den Vormittag frei geben sollte? Immerhin waren sie in dieser Woche voller intensiver Ermittlungen einen entscheidenden Schritt weitergekommen.

Vom ersten Augenblick der Vernehmung in Leipzig hatte er Uli Völker misstraut. Der Mann wirkte fahrig, gab ausweichende Antworten. Aber zu beweisen war ihm an jenem Tag nichts gewesen. Dabei hatte Gottlieb sich alle Mühe gegeben und sogar zu einem recht unsauberen Trick gegriffen. Nach mehreren Stunden Vernehmung hatte er dem Mann plötzlich ein Foto von Trixis Leiche gezeigt. Uli Völker hatte es angestiert, als würde er den Verstand verlieren. Er hatte zu zittern begonnen, und seine Halsschlagader hatte heftig angefangen zu pochen. Gleich gesteht er, hatte Gottlieb gedacht. Doch dann war einer der Leipziger Kollegen ins Zimmer geplatzt und hatte die Atmosphäre zerstört.

»Es weist also eine ganze Menge auf unseren Mann hin«, fasste er nun noch einmal abschließend zusammen. »Dank des Zeitdiagramms, das Hanno für uns aus den Lebensläufen von Trixi und Uli Völker sowie Mennicke erstellt hat, steht einwandfrei fest, dass Uli Völker, obwohl er es mir gegenüber abgestritten hat, Mennicke gekannt hat. Alle drei waren zur selben Zeit am selben Ort, nämlich im Sommer 1994 im damaligen Hotel Merkur, dem heutigen Intercontinental, in Leipzig. Uli Völker war dort Nachtportier, Trixi Völker Zimmermädchen und Mennicke für vier Wochen Gast. Warum leugnet Völker, Mennicke zu kennen? Das wäre Punkt eins unseres Verdachts.«

Gottlieb hielt kurz inne und nickte Hanno Appelt noch einmal anerkennend zu. Der saß aufrecht auf seinem Stuhl und glühte vor Stolz, während Sonja Schöller ihm den Arm tätschelte.

»Zweitens: das Motiv. Uli Völker hat die Scheidung eingereicht und erst danach vom Tod Mennickes erfahren. Er muss angenommen haben, dass Trixi etwas von dem allein stehenden Mann erben würde. Dieses Geld wäre ins eheliche Vermögen geflossen. Der Zugewinn wird bis Eingangsdatum des Scheidungsantrags berechnet. Das hatte er bereits verspielt. Aber erst ab Rechtskraft der Scheidung würde er auch jeglichen Erbanspruch verlieren. Würde sie also früher sterben, wäre er ein reicher Mann. Das durfte er jedenfalls annehmen. Dass seine Frau in Wirklichkeit leer ausgegangen war und dass sie ein Testament zu seinen Gunsten aufgesetzt hatte, konnte er nicht ahnen. Also ein Motiv wie aus dem Bilderbuch: Habgier.«

Zerstreut zündete sich Gottlieb eine Zigarette an, und Lukas Decker stand prompt auf und öffnete das Fenster. Gottlieb wartete, bis Decker wieder saß, dann fuhr er fort: »Drittens: das Alibi. Das ist im Moment noch unser Schwachpunkt. Aber ich vertraue auf unsere Kollegen in Leipzig. Sie sollen jeden Einzelnen dieser Schluckspechte aus dem Killiwilly noch einmal vernehmen. Vielleicht hat Uli Völker mit einem von ihnen in dessen Geburtstag hineingefeiert, vielleicht hat jemand mit ihm über einen Arztbesuch geredet, den er am 7. Mai festmachen kann, vielleicht gibt es sonst Gründe, warum sie behaupten, dass Uli Völker genau an jenem Abend in der Kneipe gewesen ist. Aber ansonsten hört sich ihre Behauptung, Uli Völker sei wie jeden Tag unter ihnen gewesen, entschieden zu pauschal an. Denn wenn wir nachweisen können, dass er auch nur einmal fehlte, dann sind alle diese Aussagen nicht mehr viel wert.«

»Aber es gibt auch Argumente gegen seine Täterschaft«, meldete sich Lukas Decker zu Wort.

»Richtig. Das stärkste ist sein Alibi und damit verbunden die Frage, ob und wie und wann Uli Völker überhaupt in Baden-Baden war. Fangen wir mit dem Wie an. Er hat keinen Führerschein mehr, also konnte er sich kein Mietauto nehmen. Sein bester Freund, Piet Wannewitz, besitzt ebenfalls kein Auto. Andere Freunde scheint er nicht zu haben. Bleibt der Zug. Die Zugfahrt beträgt fünf bis sieben Stunden einfach. Um noch in der Nacht wieder im Killiwilly aufzutauchen, hätte er in Baden-Baden den Zug um 18 Uhr 43 nehmen müssen. Da hat Trixi Völker aber noch gelebt. Sie hat, wie wir wissen, gegen neunzehn Uhr mit Lea Weidenbach telefoniert. Der nächste Zug geht um zweiundzwanzig Uhr sechsundvierzig und ist erst am anderen Morgen um Viertel vor sieben in Leipzig. Den konnte er aber nicht genommen haben, wenn man seinen Zechkumpanen glaubt.«

»Die Leiche wurde erst nach Mitternacht am Paradies abgelegt. Und zwar mit einem Auto, so viel konnten wir aus den höchst unbrauchbaren Spuren herauslesen«, mischte sich Appelt wieder ein.

»Genau, Hanno. Wenn also Völker der Täter war, dann hatte er sich sehr wohl ein Auto besorgt. Wie? Von wem? Ist in der Nacht bei uns oder in Leipzig eines gestohlen gemeldet worden? Lukas, das hast du ermittelt.«

Decker schüttelte den Kopf. »Nichts erfahren, was passen könnte«, antwortete er knapp und unterdrückte ein Gähnen.

Für Gottlieb das Zeichen, Schluss zu machen, doch dann fiel ihm noch etwas ein. »Was ist eigentlich mit dem Fingerabdruck in Trixi Völkers Bad? Sollte das Ergebnis nicht heute Nachmittag endlich kommen?«

Decker richtete sich noch einmal mühsam auf. »Stammt von einer männlichen Person, wie du vermutet hast. Leider niemand aus der Kartei.«

»Habt ihr ihn mit Völkers Abdruck verglichen, den ich ihm letzte Woche in Leipzig abgenommen habe?«

Decker blätterte angestrengt in seinen Unterlagen und wurde rot. »Äh – ich glaube nicht ...«

Gottlieb merkte, wie ihm das Blut in den Kopf schoss. Genau das waren diese Schlampereien, gegen die er seit Beginn seiner Laufbahn ankämpfte. »Verdammt noch mal. Das sollen die Kollegen nachholen. Sofort! Völker kommt morgen nach Baden-Baden, um sich um die Wohnung seiner Frau zu kümmern. Bis dahin sollten wir genügend Fakten zusammenhaben, um ihn festzunageln und den Ermittlungsrichter zu überzeugen, einen Haftbefehl auszustellen. Na gut, wir sind alle hundemüde. Wir sehen uns morgen wieder, vierzehn Uhr. Aber bis dahin will ich, dass wir alles beisammen haben!«

*

Gottlieb war so überdreht, dass er bereits um sieben Uhr aufwachte und nicht mehr einschlafen konnte. Hatte er die richtigen Schlussfolgerungen gezogen? War der Ehemann wirklich der Täter? Das war eigentlich fast klischeehaft einfach. Gut, eine Menge Indizien sprach gegen ihn. Aber hatten sie wirklich nichts übersehen? Hatten sie sich zu früh auf ihn festgelegt und waren dadurch für andere Indizien blind geworden?

Gottlieb trieb es aus dem Bett. Nicht nur seine Sorgen, sondern auch die Hitze machten es ihm unerträglich, in der Wohnung zu bleiben. Die Morgensonne knallte schon seit Stunden auf die Dachliegefenster. Die Luft stand. Neidisch dachte Gottlieb an seinen fiktiven Kollegen Wallander in Schweden. Hatte der jemals über Hitze geklagt? Nein, meistens war es kalt und regnerisch, wenn er auf die Straße trat. Diese Dachwohnung hatte keine Rollläden und hatte sich im Laufe der Woche in einen Alptraum verwandelt. Auch nachts kühlte sie nicht aus. Höchste Zeit, dass der Fall aufgeklärt wurde und er sich ein paar Tage frei nehmen konnte, dachte er, während der Kaffee durchlief. Eine Rucksacktour, die kühle, frische Luft des Schwarzwalds genießen, ganz allein, nur er und die Natur.

Nichts hielt ihn mehr in der Wohnung. Sogar der Kaffee erschien ihm hier zu heiß. Er beschloss, ihn mitzunehmen an den Rhein. Oben, im Schwarzwald, würde es zwar mit Sicherheit noch kühler sein, aber er scheute die weite Anfahrt. Außerdem war der Schwarzwald zum Wandern da. Zum ruhigen Nachdenken in nächster Nähe zum Dienstort gab es hingegen nichts Schöneres als seine Bank am Rhein.

Als er sie endlich erreicht hatte, ließ er sich mit einem erleichterten Seufzer nieder. Eine Verschnaufpause, mehr wollte er nicht. So wie er sie sich gestern Nachmittag kurz gestohlen hatte. Für eine süße Stunde keinen Stress, keinen Mordfall, keine Presse, nur Stille, klare Luft und wohltuende Einsamkeit.

Doch ehe er sich richtig entspannt hatte, war es mit der Muße schon vorbei. Ein Schatten fiel auf ihn. Ein weiblicher Schatten. Lea Weidenbach.

»Ich war mir nicht ganz sicher, ob ich mich geirrt hatte. Sie waren gestern Nachmittag auch hier, stimmt’s?«, flötete sie aufgekratzt.

Am liebsten hätte Gottlieb seine Sachen gepackt und wäre zur nächsten Bank gezogen. Die Welt war so groß. Warum konnte er nicht für eine Stunde seine Ruhe haben?

»Ab vierzehn Uhr können Sie mich im Dienst erreichen, wenn Sie eine Frage haben«, brummte er und hoffte, sie würde verstehen, dass sie störte.

»Darf ich?«, fragte sie stattdessen und setzte sich neben ihn. »Schön hier. Ab zwei erst? Hm? Ich dachte, ein Polizist ist immer im Dienst?«

»Wenn Sie hier und jetzt, rein zufällig, versteht sich, ins Wasser fielen, dann ja. Für Presseauskünfte gelten allerdings andere Regeln.«

Sie lachte. »Au weia. Könnte es sein, dass Sie ein Morgenmuffel sind? Dann muss ich mich entschuldigen.«

»Hm-m.«

Warum ging sie nicht einfach?

Doch sie lehnte sich zurück und schloss die Augen.

Was für eine aufdringliche Person.

Aber sie roch gut. Nach Zimt und Wald. Er schnupperte noch einmal vorsichtig. Ja, genau, nach frisch geschlagenem Holz im Herbstlaub.

Vorsichtig rückte er ein Stück von ihr weg. So war es besser. Jetzt war sie nicht mehr so nah, wenngleich ihr Geruch immer noch in seiner Nase hing.

»Was wollen Sie denn?«, brachte er mühsam hervor.

»Lassen Sie mich nur fünf Minuten sitzen. Ich störe Sie nicht«, sagte sie, und es lag ein wohliges Schnurren in ihrer Stimme, als würde sie nie mehr von seiner Seite oder von dieser Bank weichen wollen.

Ärgerlich biss er sich auf die Lippen.

Nach einer endlosen Zeit öffnete sie ein Auge und blinzelte ihm zu. »Sie beobachten mich ja. Bestimmt hoffen Sie inständig, dass ich wieder verschwinde, was? Ich kann Sie verstehen. Ich bin auch gerne allein. Ich hätte Sie niemals gestört, wenn es nicht wichtig wäre. Sie wissen, dass Ihr Handy ausgeschaltet ist?«

»Für eine kurze Stunde. Mein einziger Luxus im Leben.«

Wie auf Kommando begann sein Magen zu knurren. Die Weidenbach sah auf seinen Bauch, und er brauchte ihn zum ersten Mal nicht einzuziehen. Ein gutes Gefühl.

»Vier Kilo, kommt das hin?«

»Mindestens. Aber das wollen Sie doch nicht wissen. Also, was gibt es so Wichtiges?« Unwillkürlich suchte er nach seinen Zigaretten, bis ihm einfiel, dass er sie ganz bewusst im Auto gelassen hatte.

So blieb ihm nichts anderes übrig, als der Weidenbach wort- und rauchlos bei einer ganz und gar verworrenen Geschichte zuzuhören.

Als sie fertig war, wusste er nicht, was er antworten sollte.

»Fassen wir zusammen«, begann er aus Gewohnheit. »Sie beziehungsweise Ihre Hilfsdetektivin haben herausgefunden, dass Immo-Nowak, Steuerberater Wiesinger und vielleicht auch noch ein Antiquitätenhändler den Bewohnern der Seniorenresidenz Imperial mit Rat und Tat zur Seite stehen, wenn sie gebraucht werden. Sie vertreten ferner die Ansicht, Wiesinger sei spielsüchtig. Daraus folgern Sie, dass sich Wiesinger, in ständiger Geldnot, an seinen Mandanten im Imperial, vielleicht auch mit Hilfe seiner beiden – sagen wir – Gefährten auf unseriöse Weise bereichert. So weit korrekt?«

Die Weidenbach nickte. Ihre Augen glänzten immer noch erwartungsvoll. Wollte sie, dass er sie lobte? Dass er aufsprang und Wiesinger und Konsorten verhaftete? Wieder war er froh, dass sie offenbar noch nicht wusste, dass Wiesinger tatsächlich Alleinerbe Mennickes war. Nicht auszudenken, was sie daraus konstruieren würde!

»Selbst wenn Sie Recht hätten, was hat das mit dem Mordfall im Paradies zu tun?«

»Verstehen Sie denn nicht? Wiesinger und Nowak und dieser ominöse Antiquitätenhändler vielleicht auch, zumindest aber Wiesinger und Nowak haben Mennicke noch zu Lebzeiten ausgeplündert.«

»Halt, halt, langsam. Wie kommen Sie zu der Annahme?«

»Das Bauschild am Schlösschen. Von der Zeit her geht es nicht anders, als dass sie es Mennicke vor seinem Tod abgeluchst haben.«

Gottlieb hütete sich, auch nur eine Miene zu verziehen, um die Journalistin nicht auf diese Fährte zu locken. Wenn sie jemals erfuhr, was er wusste, würde sie nicht mehr zu halten sein. »Fangen Sie nicht wieder mit Mennicke an. Es gibt keinen Fall Mennicke.«

»Meine Theorie ist, dass Trixi fest damit rechnete, dass Mennicke ihr etwas vererben würde. Nach seinem Tod merkte sie, dass sie leer ausging, und begann, Nachforschungen anzustellen. Dabei wurde sie dem Duo zu unbequem, und die beiden brachten sie um.« Sie sah wohl seinen entsetzten Blick und verbesserte sich sofort, wenn auch etwas lahm: »Oder vielleicht ließen sie sie auch umbringen.«

»Frau Weidenbach, ich bitte Sie! Äußern Sie so etwas nie wieder, vor allem nicht gegenüber einem Organ der Strafverfolgung, sonst sind Sie wegen Verleumdung dran.«

»Aber sie hätten ein Motiv für den Mord gehabt, das müssen Sie zugeben!«

Gottlieb beschloss, keinen Ton mehr zu dieser Schauergeschichte zu sagen, und verschränkte seine Arme.

»Können Sie nicht wenigstens ihre Alibis überprüfen?«

Das hatte er natürlich längst getan, das verstand sich beim Alleinerben Mennickes von selbst. Wiesinger, und das stand zweifelsfrei fest, konnte ein echtes Testament mit einer original Unterschrift Mennickes vorweisen, und er hatte ein wasserdichtes Alibi. Er war am Tatabend mit der ganzen Belegschaft seiner Kanzlei in der Trattoria »Gondola« zu einem Betriebsessen gewesen. Wirt Stefano konnte sich ganz genau an die Truppe erinnern, auch dass sein Freund Jan Wiesinger das Lokal als Letzter verlassen hatte, nachdem sie beide noch einen »Absacker« getrunken hatten. Und Nowak war zusammen mit neun Mitgliedern des IHK-Vorstands im Festspielhaus gewesen, bei der Verleihung des Herbert-von-Karajan-Musikpreises an die Berliner Philharmoniker. Ministerpräsident Erwin Teufel hatte den Preis verliehen, Sir Simon Rattle hatte dirigiert, zweitausendfünfhundert Menschen hatten in dem seit Wochen ausverkauften Haus Mahler und Bruckner gelauscht. Etliche Zeugen hatten ausgesagt, dass er in der Pause unmöglich hätte verschwinden können, um schnell einen Mord zu verüben, und nach der Veranstaltung hatte die Gruppe den Abend geschlossen bis weit nach Mitternacht in einer Nachtbar ausklingen lassen.

»Glauben Sie mir, an Wiesinger und Nowak und Ihrer Verschwörungstheorie ist nichts, aber auch gar nichts dran!«, schärfte Gottlieb der Journalistin mit Nachdruck ein.

Die Weidenbach sprang hoch. »Sie irren sich, ganz bestimmt! Sie wollen nur nicht gegen angesehene Geschäftsleute ermitteln. Aber warten Sie ab, ich werde es Ihnen beweisen, früher als Ihnen lieb ist.« Damit rauschte sie von dannen.

Gottlieb sah ihr nach und erwartete fast, dass sie mit dem Fuß aufstampfte oder sonst eine Geste machte, um ihren Zorn über seine vermeintliche Ignoranz abzureagieren. Aber sie verfiel nur in leichtes Traben und stob einfach stur geradeaus.

Trotz ihrer Verschwörungs-Macke eine patente Person. Die halbe Dienststelle hatte Kopf gestanden, als sie vor knapp einem Jahr als Polizeireporterin nach Baden-Baden gekommen war. Ein paar Beamte hatten sogar versucht, sich mit ihr privat zu treffen, waren aber am nächsten Tag recht wortkarg gewesen und hatten nicht den Anschein erweckt, als hätten sie diese Frau im Sturm erobert. Von den Kollegen aus Würzburg war zu hören, dass sie seit zehn Jahren mit einem Germanistikprofessor liiert war. Ob das immer noch so war, konnte niemand genau sagen. Und da sie sich privat sehr zugeknöpft verhielt, ebbte die Aufregung um die flotte Schreiberin nach ein paar Wochen wieder ab.

Warum nur hatte sie sich auf Nowak, vor allem aber auf Wiesinger versteift? Und das, ohne zu wissen, dass er tatsächlich Mennickes Universalerbe war? Konnte sie mit ihrem Verdacht ansatzweise Recht haben? Spielsucht war tatsächlich gefährlich. Erst kürzlich hatte er einen Artikel in einer Fachzeitschrift gelesen, nach dem es in Deutschland Ende der neunziger Jahre bis zu hundertfünfzigtausend behandlungsbedürftige Spieler gab. Allein im Jahr 1998 stieg die Zahl der krankhaften Zocker um fast acht Prozent. Nach der Studie eines Psychologen hatten neunzig Prozent aller in Therapie befindlichen Spieler gestanden, mindestens eine Straftat begangen zu haben, um an das nötige Geld zu kommen. Jeder dritte Spieler war laut einer anderen Statistik bereits wegen Diebstahls, Betrugs und Unterschlagung vorbestraft.

Schwungvoll stand Gottlieb von seiner Bank auf und freute sich für einen kurzen Augenblick, wie leicht und aktiv er sich schon fühlte, dabei waren es erst drei Kilo weniger, nicht vier, wie er vorhin geschwindelt hatte.

Er nahm sich vor, seine Truppe trotz des starken Verdachts gegen Uli Völker noch einmal auf Wiesinger anzusetzen. Was die Weidenbach beobachtet hatte, musste noch einmal sorgfältig überprüft werden.

*

Lea war enttäuscht. Wieso lehnte Gottlieb jeden Verdacht gegen Wiesinger so kategorisch ab? Nur, weil sie den Tod von Mennicke mit ihm in Verbindung brachte und die Polizei sich weigerte, auch nur einen einzigen Gedanken an eine unnatürliche Todesart des Millionärs zu verschwenden?

Wenn Uli Völker, wie besprochen, am Nachmittag nach Baden-Baden kam und sie mit in die Wohnung nahm, würde sie vielleicht Klarheit bekommen. Sie war fest davon überzeugt, dass sie dort die nötigen Beweise finden würde. Wo hätte Trixi Völker sie sonst so schnell verschwinden lassen können? Da die Polizei nicht an die Komplott-Theorie glaubte, hatten die Ermittlungsbeamten die Hinterlassenschaften der Toten wahrscheinlich längst nicht so aufmerksam durchforstet, wie sie selbst es vorhatte. Sie konnte es kaum noch erwarten, bis Völker endlich kam.

In der Zwischenzeit nahm sie die spontane Einladung von Frau Campenhausen zu einem Mittagessen an. Es gab eingemachtes Kalbfleisch und Spätzle, eigentlich nicht ganz Leas Geschmack, aber es tat gut, umsorgt zu werden. Endlich konnte sie mit Frau Campenhausen auch über das Gebäude in der Kronprinzenstraße reden. Die alte Dame wusste genau, welches Haus sie meinte, konnte sich aber nicht entsinnen, wem es früher gehört hatte. Sie versprach aber, sich umzuhören.

Am späten Nachmittag rief Völker bei Lea an, aber es dauerte eine Weile, bis sie verstand, welches Problem er hatte. Er befand sich in der Wohnung der Hausmeisterin. Diese wollte ihm den Wohnungsschlüssel nicht aushändigen. Die Wohnung sei versiegelt, und sie dürfe die Plakette nicht entfernen, hatte sie Völker ausgerichtet. Das dürfe ausschließlich Hauptkommissar Gottlieb tun.

Dann nuschelte Völker noch etwas Unverständliches und legte auf. Sofort war Lea alarmiert. Hatte er getrunken? Ein alkoholisierter Uli Völker würde bei ihrer Wohnungsdurchsuchung erheblich stören.

Auf dem Weg in die Briegelackerstraße redete sie sich ein, dass sie ihm sicher unrecht getan hatte mit ihrer Einschätzung. Wahrscheinlich war Völker nur wegen des Schlüssels durcheinander gewesen, ansonsten aber nüchtern und zur Zusammenarbeit bereit. Als sie jedoch bei Frau Hefendehl klingelte und er für die Frau die Tür öffnete, merkte sie gleich, dass sie sich vorhin nicht geirrt hatte. Er hatte ein rotes Gesicht und stand ihr mit einem törichten Lächeln gegenüber.

»Kommen Sie rein«, lallte er und machte eine ausladende Handbewegung. Dann ging er voran, ließ sich in einen Sessel plumpsen und redete unzusammenhängendes Zeug von treuen Freunden, überfüllten Zügen und badischem Bier. Lea merkte, wie Wut in ihr hochkroch.

Frau Hefendehl saß ihm wie eine Kröte auf dem Sofa gegenüber, die kurzen dicken Arme vor dem mächtigen Busen verschränkt. Auch jemand, den Lea am liebsten geschüttelt hätte. Alles war mit der Polizei abgesprochen, Völker durfte sehr wohl in die Wohnung. Warum machte die Frau jetzt solche Schwierigkeiten?

»Haben Sie mit Kommissar Gottlieb telefoniert?«, fragte Lea und gab sich keine Mühe, freundlich zu klingen.

»Er ist in einer Dienstbesprechung. Man wird es ihm ausrichten, sobald er fertig ist.«

Himmel, wenn der Kommissar mit seiner Soko tagte, dann würde das vielleicht noch Stunden dauern. Lea platzte schier vor Ungeduld. Hier würde sie auf keinen Fall warten. Diese Wohnung machte sie kribbelig, der schwankende Völker obendrein.

»Ich warte so lange draußen«, sagte sie und machte kehrt.

Völker rappelte sich halb hoch. »In der Kneipe an der Ecke? Einverstanden.«

»Nein, in meinem Auto.«

Damit war sie weg. Im Wagen kramte sie ihr Handy aus dem Rucksack. Der Akku war mal wieder fast leer. Aber er würde für ein paar kurze Anrufe halten. Sie tippte Gottliebs Handynummer ein und schilderte ihm das Schlüsselproblem.

»Verdammt noch mal, ich habe wirklich andere Sorgen«, hörte sie ihn am anderen Ende schimpfen. Dann machte er eine Pause. »Vielleicht gar nicht so dumm. Ich bin in einer halben Stunde da.«

Er hielt Wort. Als er aus dem Wagen stieg, kam er allerdings sofort auf sie zu. »Ich glaube nicht, dass es hier etwas für die Presse zu berichten gibt, Frau Weidenbach«, sagte er unwirsch.

»Ich warte auch nicht auf eine Pressekonferenz. Völker hat mir erlaubt, einen Blick in die Wohnung zu werfen. Vielleicht finde ich etwas, das Ihre Kollegen übersehen haben.«

»Sie geben nicht auf, was? Was suchen Sie dort? Fingerabdrücke von Wiesinger?« Einen Augenblick sah er so aus, als sei er über seine Worte erschrocken. Dann fing er sich wieder. »Hören Sie, Sie bleiben vorerst draußen. Ich habe etwas mit Völker zu bereden, und zwar unter vier Augen. Er ist bei Frau Hefendehl, sagten Sie?«

Damit ließ er sie stehen und klingelte an der Haustür. Lea drückte sich an ihm vorbei in den Hausflur, doch Gottlieb hielt sie fest. Sein Gesicht sah von nahem grau und todmüde aus. Aber von seiner Bestimmtheit hatte er nichts verloren. »Frau Weidenbach, gehen Sie nach Hause und überlassen Sie uns den Fall. Sie werden oben nichts finden. Wir haben ganze Arbeit geleistet.«

»Das werden wir ja sehen.«

Frau Hefendehl öffnete. Er ließ Lea los, noch eine Spur grauer geworden. »Dann viel Spaß. Und jetzt warten Sie bitte hier draußen, Sie bitte auch, Frau Hefendehl, wenn Sie nichts dagegen haben. Ich habe ganz kurz mit Herrn Völker unter vier Augen zu reden. Danke.« Damit trat er in die Wohnung und zog die Tür zu.

»Ich habe meinen Jungen angerufen. Der ist gleich unten und begleitet Sie alle nach oben. Sie wissen ja, die Treppen.«

»Psst.«

Lea legte ihr Ohr ans Holz und versuchte, den Redeschwall der Hausmeisterin auszublenden und zu erfahren, was da drinnen vor sich ging. Aber sie hatte kein Glück damit. Frau Hefendehl ließ sich nicht stoppen.

»Na hören Sie, meinen Sie, es würde dem Kriminalhauptkommissar gefallen, wenn er wüsste, dass Sie ihn belauschen?«

»Seien Sie doch bitte still!«

Zu spät. Nicht ein Wort hatte Lea mitbekommen. Sie konnte nur noch einen Satz zurück machen, bevor Gottlieb die Tür aufriss und sie misstrauisch ansah.

»Wo ist der Schlüssel?«, blaffte er Frau Hefendehl an.

»Mein Sohn ...«

»Bin schon da, Mutti«, rief Hefendehl junior in dem Moment vom letzten Treppenabsatz herunter. Er eilte beflissen an ihnen vorbei zur Flurgarderobe und zog eine Schublade auf. Dann wählte er aus mehreren Schlüsseln einen Bund aus.

»Ich gehe voraus, wenn Sie gestatten«, rief er und lief los.

Gottlieb stürmte hinterher. Lea bemühte sich, Schritt zu halten, und wunderte sich, wie flink der Kommissar sein konnte, und das treppauf. Das hätte sie ihm nicht zugetraut bei seiner Figur und der Rauchwolke, die er hinter sich her zog. Gleichzeitig versuchte sie, Völker mitzuziehen, der auf einmal völlig nüchtern wirkte. Warum so plötzlich? Was war hinter der Tür vorgefallen? Sie würde es hoffentlich gleich erfahren, wenn der Kommissar weg war.

Gottlieb war schon an der Tür und riss das Siegel mit einer schnellen Bewegung und einem bösen Seitenblick zu Hefendehl weg. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, drehte er sich um und polterte die Treppe herunter, bis ihm Völker in die Quere kam. »Es bleibt bei unserer Verabredung, morgen um elf. Und es wäre gut, wenn Ihnen eine plausible Erklärung einfallen würde, wo dieses Stück sein könnte. Sie besaßen es, daran lässt das Foto keinen Zweifel. In Ihrer Wohnung ist es aber nicht, das hat, wie mir die Kollegen aus Leipzig vor einer Stunde mitgeteilt haben, gerade eine Durchsuchung ergeben. Eine richterlich angeordnete Hausdurchsuchung, Frau Weidenbach, um Ihnen gleich den Wind aus den Segeln zu nehmen.«

Dann war er so schnell weg, dass Lea keine Fragen stellen konnte. Fassungslos sah sie ihm nach, wie er zwei Stufen auf einmal nach unten nahm. »Hausdurchsuchung?«, echote sie dümmlich. »Herr Völker, was meint er damit?«

Doch Völker war mit einem ganz anderen Problem beschäftigt. Hefendehl hatte ihm mit einer theatralischen Handbewegung den Schlüsselbund in die Hand gedrückt, und nun stocherte er mit rotem Kopf im Schloss. Schließlich gab er auf und reichte den Bund an Lea weiter. Der zweite Schlüssel passte.

»So«, sagte sie zufrieden und stieß die Tür auf, »und jetzt sollten Sie mir einiges erklären.«

Neugierig spähte sie ins Innere der Wohnung. Ein heller Flur mit weißer Garderobe, großem Spiegel und einem spießigen Trockengesteck auf der Ablage. Weiter hinten schien das Wohn- und Arbeitszimmer zu sein. Jedenfalls konnte sie Bücher und Aktenordner erkennen. Und rechts ging es in die Küche.

Ehe sie weiterpirschen konnte, stellte sich Völker ihr mit verlegener Miene in den Weg. »Entschuldigung, ich bin sehr müde.«

»Sie haben versprochen, dass ich mir die Wohnung ansehen darf. Außerdem sollten wir wohl dringend über Gottlieb reden. Was hat er gemeint –«

Völker hob die Hand und lehnte sich an die Wand. Er war mit einem Mal kreidebleich. »Mir ist schlecht. Ich will allein sein.«

»Aber –«

»Morgen. Morgen um zehn, von mir aus. Aber nicht jetzt.«

»Sagen Sie mir wenigstens, was Gottlieb –«

»Bitte. Es ist genug. Lassen Sie mich allein.«

Mit diesen Worten machte Völker ihr die Tür vor der Nase zu, ruhig, aber bestimmt. Auch die Tür nebenan schnappte leise ein.

Lea hätte am liebsten gegen Völkers Tür getreten, so wütend und enttäuscht war sie. Hoffentlich brachte er in der Wohnung nicht alles durcheinander. Hoffentlich vernichtete er nicht das, wonach sie suchen wollte. Es war wie verhext, sie kam einfach nicht ans Ziel.

Und dann diese ominösen Andeutungen von Gottlieb. Durchsuchung? Wo? In der Wohnung in Leipzig? Warum? Was suchten sie? Verdächtigte die Polizei Völker? Das war doch völliger Unsinn. Er war zur Tatzeit in Leipzig gewesen. Außerdem liebte er seine Frau, über den Tod hinaus.

Auf der Straße tippte sie sofort Gottliebs Handynummer ein, aber noch nicht einmal die Mailbox meldete sich. Vielleicht hatte er nur geblufft? Das war das Einzige, was ihr dazu einfiel.

Es war nicht auszuhalten. Aber sie musste sich wohl oder übel bis zum nächsten Morgen in Geduld üben.

Als sie nach Hause kam, wollte sie als erstes Frau Campenhausen fragen, ob sie etwas über das Haus in der Kronprinzenstraße herausgefunden hatte. Aber aus der Wohnung ihrer Vermieterin drangen aufgekratzte Frauenstimmen und fröhliches Gelächter. Das war bestimmt die Bridgerunde, da wollte sie nicht stören. Die alte Dame war wirklich um ihr ausgefülltes Leben zu beneiden.

Einen Augenblick schwankte Lea, ob sie einmal außerhalb ihrer Zeiten Justus anrufen sollte. Aber das würde ihn nur verwirren. Außerdem würde sie am liebsten nur über ihren Fall reden wollen.

Sie hatte auch keine Energie, sich an den Schreibtisch zu setzen und an ihrem Roman weiterzuarbeiten. Irgendwie hörte sich alles, was sie zu Papier brachte, hölzern an. Kein Wunder. Der knappe Zeitungsstil war ihr mit den Jahren in Fleisch und Blut übergegangen. Wie sollte sie jetzt Gedanken ihrer Hauptpersonen weiterspinnen oder Dialoge schreiben?

Manchmal dachte sie daran, Frau Campenhausen in ihr Experiment einzuweihen. Es täte bestimmt gut, mit ihr über ihre Zweifel aber auch über den Stoff zu reden. Andererseits war es ja ihre ganz geheime Leidenschaft und sollte dies auch bleiben, bis sie entweder Erfolg hatte oder das Projekt stillschweigend beerdigte, ohne dass auch nur eine Menschenseele jemals danach fragen würde.

Einen Augenblick stand sie in ihrer schönen, minimalistisch eingerichteten Wohnung und fühlte sich schrecklich einsam. Dann nahm sie ihre Boxhandschuhe vom Haken und ging ins Trainingszimmer, um sich den ganzen Frust und alle Selbstzweifel von Leib und Seele zu arbeiten.

Crime Collection III

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