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NEUN

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Lea kam einen Tag früher als geplant zurück.

Als sie mit Blick auf die Festung Marienberg den Hügel von der Autobahn hinunter ins Würzburger Tal gefahren war, hatte sie zunächst eine Woge von unbeschreiblichem Glück erfasst: Hier war sie zu Hause, hier hatte sie Freunde, Orte voller Erinnerungen und jemanden, der sich auf sie freute.

Justus hatte sie schon an der Ecke der Eichendorffstraße zur Randersackererstraße erwartet. Er hatte ihr einen Parkplatz vorm Haus reserviert, hatte oben in der Wohnung Kerzen angezündet, den Balkon romantisch gedeckt und – was für ein Liebesbeweis – ganz spontan Pizza kommen lassen, da er den Tisch im »Backöfele«, den er für nach dem Opernbesuch reserviert hatte, abbestellt hatte.

Käse und Brot hatte er sowieso immer da – und so wurde es ein Abend, wie sie ihn früher oft verbracht hatten, ehe Justus nach der langen ersten Verliebtheit in seine Rolle des kleinkarierten Professors zurückgefallen war.

Justus hatte sogar seine Gewohnheit über den Haufen geworfen, Punkt Mitternacht ins Bett zu gehen. Stattdessen hatten sie auf dem Balkon gesessen, in die Sterne gesehen, gelacht, eine zweite Flasche Wein geöffnet und heftig über ihren Mordfall und seine neuen Studenten diskutiert. Sie waren ins Bett gegangen, als die ersten Amseln anschlugen.

»Bleib hier«, hatte Justus beim späten Frühstück gebeten, und sie hatte ihn liebevoll auf die wirren grauen Locken geküsst, die sie so liebte.

»Aber ich bleib doch noch bis morgen Mittag«, hatte sie gemurmelt.

»Für immer«, hatte er erwidert. »Bleib hier. Gib deinen dummen Job endlich auf, der dir schlaflose Nächte bereitet. Für was machst du das denn? Die Bezahlung ist längst nicht so üppig wie der Standard, den ich dir bieten könnte.«

»Aber der Fall. Ich habe dir doch erklärt ...«

»Der Fall, der Fall, den löst die Polizei auch ohne dich. Aber ich, ich verhungere und verdurste ohne dich und ohne deine Liebe und deine Nähe zu spüren. Lea, bitte ...«

»Wir wollten nicht schon wieder darüber reden.«

»Doch, es ist mir ernst. Das ist mir heute Nacht bewusst geworden. Das ist kein Leben, du in Baden-Baden, ich hier. Wie oft haben wir uns im letzten Jahr gesehen? Fünfmal? Sechsmal? Das ist mir zu wenig. Ich will das so nicht.«

»Aber ich brauche das. Justus, bitte, hab Geduld. Gib mir Zeit.«

»Ein Jahr hattest du gesagt, und jetzt? Kein Ende abzusehen. Ich mach das nicht mehr mit.«

Lea wurde es eiskalt. Wohin steuerte das Gespräch, um Gottes willen? »Hör auf, Justus, du machst ja alles kaputt.«

»Ist es das nicht schon?«, brach es aus ihm heraus. »Komm zurück, Lea, oder ...«

Nein, sie würde sich nicht hinreißen lassen, jetzt mit dieser dummen Gegenfrage »Oder was« alles aufs Spiel zu setzen.

»Komm«, sagte sie, »lass uns eine Runde am Main drehen. Danach geht es uns wieder besser.«

Aber so war es nicht gewesen. Sie hatten die Wand zwischen sich nicht mehr einreißen können, und so war sie nach ihrem Spaziergang bedrückt in ihr Auto gestiegen und losgefahren.

Justus stand vor der prachtvollen Jugendstilvilla, in der er die obersten zwei Stockwerke bewohnte, und winkte ihr nach, ernst und traurig, wie sie sich selbst fühlte. Nein, das war nicht das Ende. Sie mussten noch einmal vernünftig miteinander reden. Vielleicht sollte sie ihm doch gestehen, dass sie einen Roman schreiben wollte. Vielleicht sollte sie ihn auch ausführlicher einbinden in ihre Ermittlungen zum Mordfall Paradies, damit er verstand, warum dieser Fall sie so umtrieb. Weshalb hatte sie ihm gestern eigentlich nicht gesagt, welch ein Schuldgefühl sie wegen Trixis Tod mit sich herumschleppte? Wahrscheinlich, weil sie die wunderbare Stimmung nicht verderben wollte. Und was hatte sie jetzt davon?

Eines war sicher: Sie wollte die Beziehung nicht beenden. Sie hatte es sich so schön ausgemalt, in Baden-Baden frei zu sein, aber im Hintergrund eine verlässliche Festung zu haben, zu der sie jederzeit zurückkehren konnte, wenn sie Geborgenheit brauchte. Niemals hatte sie sich vorgestellt, dass Justus irgendwann nicht mehr mitspielen würde.

Die Rückfahrt verging viel zu schnell. Samstags gab es außer in der Ferienzeit kaum Staus auf der A 6, und so war es gerade erst fünf Uhr, ein herrlicher Nachmittag, als sie die Ausfahrt sah. In ihre stille Wohnung wollte sie auf keinen Fall zurückkehren, nicht mit ihrem vollen Kopf und dieser drückenden Traurigkeit. Ihr Blick fiel auf das Ausfahrtschild, das nach Iffezheim und Paris zeigte. Ah, Paris, wie wäre es, wenn sie einfach weiterführe, frei, ohne jede Verpflichtung ...

Wenn das Leben doch nur so einfach wäre!

Aber sie folgte dem Schild tatsächlich, wenn auch nur bis zur Staustufe in Iffezheim. Dort parkte sie und zog ihre alten Joggingschuhe an, die immer im Auto lagen. Ein leichter Dauerlauf auf dem Rheindamm würde sie wieder zur Vernunft bringen. Laufen half immer, wenn sich ihre Gedanken überschlugen.

Langsam und ruhig trabte sie los. Es war herrlich. Es war zwar immer noch heiß, aber die Sonne hatte an Kraft etwas verloren und verwandelte sich in flüssiges Gold, das durch die hohen Bäume auf der französischen Seite auf den mächtigen Strom floss. Hinter sich hörte sie einen Kuckuck rufen und zählte unwillkürlich mit. Abseits sah sie jemanden auf einer Bank sitzen, der ihr bekannt vorkam. Gottlieb? Aber das konnte nicht sein. Gottlieb war ein viel zu rationaler Mensch, um seine Zeit damit zu vergeuden, in den Fluss zu starren und dem Wind in den Pappeln zuzuhören. Für ihn als Polizist konnte es kein Wochenende geben, solange der Mordfall nicht gelöst war.

Als sie nach über einer Stunde zurückkam, war die Bank leer, und sie fragte sich, ob sie sich diese Erscheinung nicht einfach nur eingebildet hatte.

Sie kam nicht dazu, allzu lange darüber nachzugrübeln, denn auf dem Parkplatz vor ihrem Haus kam ihr Frau Campenhausen aufgeregt entgegen.

»Gut, dass Sie kommen. Ich habe etwas herausgefunden, das Sie interessieren wird.«

Lea blieb stehen und sah die kleine alte Dame fragend an. Doch die schüttelte den Kopf und zupfte an der Schleife ihrer feinen weißen Seidenbluse. »Nicht hier. Ziehen Sie sich um, etwas Schickes. Ich lade Sie ins Casino ein. Tun Sie mir den Gefallen? Es hängt mit meiner Entdeckung zusammen.«

Lea hatte überhaupt keine Lust, sich schön zu machen und in die Spielbank zu gehen. Sie war verschwitzt und sehnte sich nach einem ruhigen Abend, an dem sie ihre Gedanken ordnen wollte. Aber konnte irgendjemand auf der Welt Frau Campenhausen widerstehen?

Seufzend gab sie nach.

Sie war erst einmal, gleich nach dem Umzug, in der Spielbank gewesen, an einem der seltenen Abende, an denen Justus sie in Baden-Baden besucht hatte. Sie hatten zu Hause eine Flasche Champagner geöffnet und sich kichernd in Schale geworfen. Als sie schließlich die Räume des Casinos betreten hatten, waren sie schon viel zu albern und ineinander vernarrt gewesen, um ihre Umwelt noch bewusst und kritisch wahrzunehmen. Die Welt war auf sie beide zusammengeschrumpft, nichts anderes war von Bedeutung. Verliebt hatten sie ihre Jetons auf das Datum ihres Kennenlernens geworfen, den 12.8. vor zehn Jahren, waren dann aber unglaublich erleichtert gewesen, als ihre Einsätze verspielt waren und sie endlich zurück in die Wohnung konnten. Dort waren sie regelrecht übereinander hergefallen und hatten eine leidenschaftliche Nacht verbracht, als hätte die Atmosphäre von Geld und Luxus und Anonymität ihre Gefühle gänzlich zum Überkochen gebracht.

Als sie jetzt mit Frau Campenhausen durch den Einlass ging, lächelte Lea in liebevoller Erinnerung an jene Nacht. So etwas hatte sich danach nicht mehr wiederholt. Es war, als wäre es ein vorgezogenes, fulminantes Finale ihrer Beziehung gewesen, was sie beide nicht hatten wahrhaben wollen und nun mit endlosen Da-capo-Forderungen geradezu ins Unerträgliche hinauszögerten.

Diesmal, an der Seite von Marie-Luise Campenhausen, sah Lea die Spielbank mit anderen Augen. Ihr fielen vor allem die zahlreichen Männer auf, die sich in einer ihr unbekannten Sprache unterhielten und sich mit ungepflegtem Haarschnitt, zerknitterten Anzügen und schmalen Lederschlipsen gegen den plüschigen Luxus der Belle Epoque abhoben.

Fasziniert folgte Lea einem von ihnen zum separaten Baccara-Raum. Während sie an der Absperrung bleiben musste, bahnte sich der äußerlich etwas heruntergekommene Mann seinen Weg zu seinem für ihn reservierten Platz am Tisch und zog achtlos ein Bündel Fünfhundert-Euro-Scheine aus der Hosentasche.

Da zupfte Marie-Luise Campenhausen sie am Arm. »Kommen Sie, ich zeige Ihnen jemanden«, flüsterte sie und zog Lea mit sich zu einem der zwei herrlich altmodischen Roulettetische, um den sich eine Menschentraube gebildet hatte. Schnell warf Lea zwei Jetons auf die Zwölf und die Acht und verfolgt gespannt die Kugel, die mit einem leisen Rattern über die Zahlen der sich drehenden Scheibe hüpfte.

Marie-Luise Campenhausen deutete mit dem Kopf an das untere Ende des Tischs.

»Der da mit der gelb-blauen Krawatte«, nuschelte sie zwischen den Zähnen.

»Was? Wer?« Sie wollte wissen, ob sie gewonnen hatte! Nur widerwillig folgte sie Frau Campenhausens Blick.

Der Gast am Ende des Tischs war vielleicht Mitte bis Ende fünfzig, hatte kurze, etwas zu schwarze Haare und war sonnengebräunt. Musste sie ihn kennen? Ein Schauspieler? Ein Musiker? Ein Spitzensportler? Er schien die anderen Leute und die Croupiers am Tisch zu kennen und machte gerade eine leise Bemerkung, über die die Umstehenden höflich lachten. Er sah weder auf, noch lachte er mit. Ohne die Scheibe aus den Augen zu lassen, zündete er sich eine Zigarette an und zog an ihr, um sie gleich danach neben einer gar nicht zu Ende gerauchten Zigarette abzulegen, deren graue Asche sich wie ein Wurm nach oben krümmte. »Was ist denn mit dem?«, flüsterte sie Frau Campenhausen zu, während sie aus den Augenwinkeln verfolgte, wie ihr Croupier die Jetons einkassierte. Die Kugel lag auf der Zwei.

»Das ist er.« Wieder war Frau Campenhausen kaum zu verstehen, zumal sie sich halb abgewandt hatte.

»Wer denn?«

»Wiesinger.«

Es dauerte nur eine Millisekunde, bis Lea wieder in der Gegenwart war. Das war ihr gesuchter Jan Wiesinger? Dieser Kettenraucher sollte der Mann sein, dessen bloßer Name Gerti Büdding und Schwester Monika zum Verstummen brachte?

Mit Schweißtropfen an den Schläfen schrieb er Zahlenkolonnen in sein Notizbuch und schichtete seine restlichen Jetons hin und her. Dann setzte er auf die Zwölf.

Marie-Luise stieß ihr wieder den Ellbogen in die Rippen. »Starren Sie nicht so.«

»Warum nicht, was ist denn los?«

»Er darf mich nicht sehen. Ich war gestern schon mal hier.«

»Gestern? Aber warum?«

Frau Campenhausen zog sie ein Stück beiseite. Lea postierte sich so, dass sie an Frau Campenhausen vorbei Wiesinger weiterhin im Auge behalten konnte. Er bekam nichts von seiner Umwelt mit, sondern war vollkommen auf den Roulettetisch fixiert.

»Meine Bridgefreundin Anni hat ihn mir gestern gezeigt. Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich mich ein wenig umhören wollte. Und tatsächlich, Anni kennt ihn. Sehr gut sogar. Leider. Er ist eine Weile mit ihrer Nichte verlobt gewesen.«

»Ja und? Wieso leider?«

»Er hat ihr letztes Geld verspielt. Andauernd ist er sie um Geld angegangen, nur dieses eine Mal noch, damit er noch einmal gewinnen und ihr alles zurückzahlen könne. Annis Nichte ist immer wieder darauf hereingefallen. Sie hat ihn sogar ein paar Mal begleitet, weil er sagte, sie brächte ihm Glück. Tatsächlich hat er ihr weismachen wollen, er könne das Spiel beherrschen. Er habe es im Gefühl, welche Zahl kommt, sagte er ihr. Was für ein Humbug! Kennen Sie Dostojewski? Na, den muss man doch nur lesen, um Bescheid zu wissen. Aber heutzutage liest man so etwas ja nicht mehr in der Schule, oder?«

»Der Spieler« lag auf Leas Bücherstapel neben dem Bett, seitdem sie in Baden-Baden wohnte. Justus hatte ihn ihr zum Einzug geschenkt. Sie hatte das Buch tatsächlich in der Schule gelesen, erinnerte sich an den Inhalt jedoch nur noch grob. Aber sie wusste, dass er das Buch in Baden-Baden geschrieben hatte, weil er gerade sein letztes Geld verspielt hatte und das Honorar für den Roman dringend als Nachschub brauchte.

»Und als diese Nichte nichts mehr hatte, hat er sich von ihr getrennt und sich eine neue Braut gesucht?«, fragte Lea, ohne wirklich eine Antwort zu erwarten.

»Nein, nein, sie hat gedroht, sich an die Casino-Leitung zu wenden und die Leute auf seine Spielsucht aufmerksam zu machen.«

»Das war klug.« Lea fiel der Prozess ein, der vor ihrer Zeit in Baden-Baden für Aufsehen gesorgt hatte. Ein kleiner Sparkassenangestellter aus Offenburg hatte hier als Stammgast »Hansi« Millionen verzockt, die er zuvor bei seiner Bank veruntreut hatte. Immer noch kämpfte das Casino dagegen, von der Sparkasse in Regress genommen zu werden, denn sie hätten ihn viel eher als spielsüchtig erkennen und deshalb sperren müssen. Seitdem war man in Baden-Baden sehr genau. Umso mehr wunderte sich Lea, dass Wiesinger trotz seines recht auffälligen Gehabes geduldet war und er es offensichtlich bislang geschafft hatte, seine Sucht vor der Öffentlichkeit zu verheimlichen. Oder war dies die kleine Unregelmäßigkeit, die Reinthaler angedeutet hatte? »Hat die Nichte denn Erfolg mit ihrer Anzeige gehabt?«

»So weit ist es nicht gekommen. Wiesinger hat eine Therapie gemacht und hoch und heilig versprochen, nie mehr ein Casino zu betreten. Na ja, nach einem Jahr war auch noch der Bausparvertrag futsch, und Anni hat ihrer Nichte die Pistole auf die Brust gesetzt. Sie hat daraufhin die Verlobung gelöst. Er verspricht aber immer noch, das Geld schon bald zurückzuzahlen.«

Woher bekam Wiesinger jetzt das Geld zum Spielen? Offenbar reichten seine Einnahmen als Steuerberater nicht aus, wenn er schon seine Verlobte hatte anpumpen müssen. Und wie beschaffte er sich seit der Trennung das Geld? Das war doch eine sehr interessante Frage, die zum Thema Mennicke passte!

»Hören Sie auf so zu starren, das fällt auf«, zischte ihre Vermieterin ihr ins Ohr. »Ich habe noch etwas vor mit ihm.«

Jetzt schlug es dreizehn. »Frau Campenhausen, was in aller Welt ...«

»Schschscht! Nicht hier. Kommen Sie, wir gehen.«

Humpelnd schritt Frau Campenhausen voran.

»Was ist mit Ihrem Fuß? Haben Sie ihn verknackst?«

Lea wollte sie stützen, doch die alte Dame schüttelte ihren Arm ab. »Kein Aufsehen bitte.«

Da erst bemerkte Lea, dass Frau Campenhausen den zierlichen Gehstock, den sie die ganze Zeit über in der Hand gehalten hatte, nun auch benutzte. Energisch klopfte sie damit auf, während sie durch die romantischen Räume des Casinos hinkte.

Auf den Stufen des Kurhauses verlor sich ihr Humpeln wieder, und sie machte eine ungeduldige Handbewegung. »Nun kommen Sie schon, Frau Weidenbach! Zu Hause werde ich Ihnen alles genau erklären.«

Keine Frage, das hier war nicht mehr die Marie-Luise Campenhausen, die Lea kannte. Die alte Dame hatte sich vor ihren Augen in eine englische Lady verwandelt, der nur noch ein Hütchen und die Gefolgschaft von Mister Stringer fehlten.

Crime Collection III

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