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SECHS

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Maximilian Gottlieb konnte es kaum glauben, als er an seinem Schreibtisch saß und den Badischen Morgen aufschlug. Der Artikel, die Fotos, die Konsequenzen, die er sich in der Nacht ausgemalt hatte – nicht vorhanden! Ein Bericht über das bevorstehende Pferderennen statt wilder Spekulationen über den Tod des alten Mennicke und Verbindungen zum Baden-Badener Baulöwen und Immobilienmakler Arno Nowak.

Einerseits war er heilfroh darüber. Er hatte befürchtet, Oberstaatsanwalt Pahlke würde noch vor dem Frühstück verbiestert Erklärungen verlangen.

Andererseits passte dieser Rückzug nicht zur Weidenbach. Ob da jemand die Finger im Spiel gehabt hatte? Götz Reinthaler, der Hasenfuß, dem die Story zu heiß geworden war? Oder Nowak, der Verbindungen nach allen Seiten hatte?

Er fand es fast schade, dass man die Redakteurin daran gehindert hatte, ihre abenteuerlichen Querverbindungen zu veröffentlichen. Mit solch einem Bericht in Händen hätte er einen guten Anlass gehabt, Nowak etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. Der war ihm schon lange suspekt. Zu viel Geld, zu viel Macht. Da blieben nur wenige auf dem Pfad der Tugend. Natürlich gab es keine konkreten Verdachtsmomente gegen Nowak, aber so ganz ohne war das mit dem Plakat vor dem Mennicke-Schlösschen wirklich nicht, da musste er der Weidenbach Recht geben.

Gottlieb schenkte sich einen Becher Kaffee ein und teilte die Butterbrezel, die er am Leopoldsplatz in Peters Backstube geholt hatte, in zwei Hälften. Früher hätte er zum Frühstück zwei ganze Brezeln gegessen, jetzt musste dieser Krümel reichen. Vier Pfund hatte er schon weg, aber je lauter sein Magen knurrte, umso schlechter wurde seine Laune. Das merkte er sogar selbst. Noch ließ sich der Hunger mit erhöhtem Nikotinkonsum in Schach halten, aber lange würde das wohl nicht mehr gehen.

Er versorgte sich mit einer Ersatzschachtel Gitanes für alle Fälle und wechselte in den Konferenzraum. Er war ein paar Minuten zu früh und froh, dass er die Liste noch einmal überfliegen konnte, die er in der Nacht aufgestellt hatte.

Er gähnte. Die dritte Nacht, in der er so gut wie kein Auge zugetan hatte. Er war müde und erschöpft und gleichzeitig unruhig, gehetzt und unter unglaublichem Druck. Er musste den Mörder finden, und das bald. Mit jedem Tag, der ergebnislos verstrich, hatte der Täter mehr Zeit, Spuren zu beseitigen, sich ein Alibi zurechtzulegen, unterzutauchen oder – Gott bewahre – weitere Morde zu begehen.

Seit seinem zehnten Lebensjahr hatte Gottlieb nie etwas anderes werden wollen als Polizist, ein verdammt guter Polizist. Einer, der Verbrechen rasch aufklärt und Täter überführt. Ein besserer Polizist jedenfalls als die, die damals ziellos durch die zerwühlte Wohnung getrampelt waren, aufgebrochene Türen fotografiert, ihn hin und her geschubst hatten, ihn aber ausgerechnet dann hatten zusehen lassen, als sie seine Mutter auf die Bahre legten und die Kellertreppe hinauf nach draußen zum Leichenwagen getragen hatten. Seine Mutter. Er hatte nur sie gehabt. Sie hatte ihm den Vater ersetzt und die sehnlich gewünschten Geschwister. Sie hatte mit ihm gespielt, wenn er einen Freund vermisste. Sie hatte laut mit ihm Kinderlieder gesungen, wenn die Mädchen und Jungen aus der Nachbarschaft vor dem Fenster »Bastard, Bastard« schrien. Sie hatte mit ihm Hausaufgaben gepaukt und ihn immer zum Lernen motiviert. »Bildung schlägt Herkunft«, hatte sie ihm tausendmal eingebläut und ihm mit Nachtschichten den Wechsel ins Gymnasium ermöglicht. Dann war sie tot, offenbar von einem Einbrecher überrascht und die Kellertreppe hinuntergestürzt worden. Was für ein Einbrecher? Was hatte er in dem kleinen bescheidenen Siedlungshäuschen gesucht? Warum hatte niemand von den Nachbarn etwas gesehen? Warum hatte der Einbrecher seine Mutter getötet?

Er hatte eine Zeit lang fest daran geglaubt, die Polizei würde den Schuldigen finden. Aber dann merkte er, dass das niemals geschehen würde. Er war zwar immer wieder zu den Ämtern bestellt und vom Vormund befragt worden. Alles hatten sie von ihm wissen wollen, über den Lebenswandel seiner Mutter, über Hinweise auf seinen Vater, aber sie hatten ihm nichts über ihre Ermittlungen verraten, so hartnäckig er auch nachgehakt hatte. Und dann waren die Akten ergebnislos geschlossen worden. Viel zu schnell hatte man die Suche nach dem Schuldigen eingestellt. Da hatte er sich geschworen, selbst Polizist zu werden und allen zu beweisen, dass es bessere Polizisten gab als die, die er kennen gelernt hatte. Dieses Ziel hatte ihm die Zeit bei seinen Pflegeeltern erleichtert und ihn stark gemacht, sich gegen deren liebevolle Fürsorge durchzusetzen. Sie hätten ihn gern als Pfarrer gesehen oder wenigstens als Religionslehrer, so wie sie. Was für eine Vorstellung.

Gottlieb zündete sich eine Zigarette an und rutschte auf dem unangenehm kalten Kunstledersessel nach vorne, um den Aschenbecher zu sich heranzuziehen. Wieder einmal ärgerte er sich, wie zerschrammt der Tisch und wie ungemütlich die hellgrüne Ölfarbe an der Wand und das Neonlicht an der Decke waren. Hier konnte man vielleicht unbarmherzige Verhöre durchziehen, aber doch nicht komplizierte Mordfälle lösen.

Sonja Schöller war die Erste, die kam und ihn aus seinen Grübeleien riss. Mit ihrer molligen Figur, ihren blondierten Dauerwellen und ihrem allgegenwärtigen Lächeln hätte sie gut als harmlose, mütterliche Hilfskraft durchgehen können. Aber sie war beileibe nicht das Dummchen, als das sie sich manchmal ausgab. Ihre Intuition trog sie fast nie, sie hatte einen klaren kriminalistischen Verstand und, seit sie sich von ihrem Ehemann getrennt hatte, grenzenlos Zeit für ihren Beruf. Warum sie sich allerdings vor einem halben Jahr mit dem langweiligen Berufsbeamten der Dienststelle, Hanno Appelt, eingelassen hatte, würde Gottlieb ewig ein Rätsel bleiben. Sie musste doch an dessen Sturheit verzweifeln.

Appelt hingegen bekam das Abenteuer gut. Er konnte zwar nicht aus seiner Haut und kämmte sich die Haare weiterhin nach vorne und trug seine breiten Krawatten und glänzenden Hosen auf. Aber er lachte jetzt öfter, versuchte sogar selbst hin und wieder ein Scherzchen, und er roch vor allem nicht mehr so muffig.

Zum Glück blieb er dienstlich so pingelig wie eh und je. Ihm entging nicht die kleinste Unstimmigkeit, wenn sie ihren Ermittlungsstand analysierten. Appelt war die letzte Instanz, wenn Sonja Schöller mit ihrem Gefühl nicht weiterkam und Lukas Decker sich in seinem bunten Theorienwirrwarr endgültig verheddert hatte.

Sie waren ein gutes Team, beruhigte sich Gottlieb, als er in die Runde sah, die inzwischen vollzählig war. Sie würden Trixi Völkers Mörder finden und vielleicht noch die Unstimmigkeit mit Nowak und dem Mennicke-Schlösschen aufklären. Aber das war zunächst zweitrangig.

»Lasst uns anfangen«, eröffnete er die Dienstbesprechung. »Wir wissen, dass Trixi Völker um kurz nach neunzehn Uhr die Weidenbach von ihrem Handy aus angerufen hat. Dieses Handy lag dann in ihrer Flurgarderobe, ebenso ihre Handtasche. Die Wohnungstür war abgeschlossen. Niemand hat sie kommen oder weggehen sehen. Es gibt keine Kampfspuren in ihrer Wohnung. Also liegt der Schluss nahe, dass sie ihren Mörder außerhalb getroffen hat. Auf den haben wir allerdings noch immer keine Hinweise. Das ist ziemlich mager. Der Mörder läuft frei herum, die Presse fragt nach Ermittlungsergebnissen, und ich kann nur mit den Schultern zucken.«

Hanno Appelt richtete sich auf. »Was ist mit dem Fingerabdruck auf dem Wasserhahn im Bad?«

»Lukas, du wolltest dich drum kümmern.« Gottlieb sah Decker an.

Der zuckte zusammen. »Äh – noch im Labor. Aber macht es euch nicht zu einfach wegen der Kampfspuren. Die Leiche wurde mit Bestimmtheit erst nach Mitternacht im Paradies abgelegt. Der Mörder kann diese Spuren also in der Zwischenzeit beseitigt haben.«

»Kann er nicht«, erwiderte Gottlieb. »Die Wände sind zu dünn. Die Nachbarn hätten etwas gehört. Sonja?«

»Vielleicht war der Nachbar der Mörder?«

Appelt schüttelte den Kopf. »Kein Motiv. Der kannte sie doch gar nicht. Außerdem sagt er, er habe bei seiner Mutter zu Abend gegessen und Fernsehen geguckt, bis kurz vor Mitternacht.«

Sonja Schöller schaltete sich ein. »Motiv ist das Stichwort. Wer hatte ein Motiv, die Frau umzubringen?«

Appelt stieß einen Seufzer aus. »Es gibt ja nicht viele mögliche Motive: Eifersucht, Geldgier, Angst vor Entdeckung, Rache, Machtgier, drohender Verlust von sozialem Ansehen.«

Es klang wie die Aufzählung aus einem kriminalistischen Lehrbuch, aber Appelts Miene verriet, dass er es ironisch gemeint hatte.

Sonja Schöller ließ sich nicht irritieren. »Gut, Hanno, gehen wir das Spektrum durch. Geldgier scheidet aus. Trixi Völker hatte gerade mal zweitausenddreihundert Euro auf dem Konto. Eifersucht? Ihr Mann hat vor zwei Monaten Scheidungsantrag gestellt. Rache? Ich habe in ihren Unterlagen und bei den Vernehmungen der Nachbarn und im Imperial keine Anhaltspunkte gefunden, dass sie mit jemandem Streit gehabt, geschweige denn überhaupt jemanden näher gekannt hat. Bleiben Machtgier und vielleicht doch die Angst vor Entdeckung, gepaart mit drohendem Verlust von sozialem Ansehen, wie Hanno das so schön zitiert hat.«

Gottlieb schwante etwas. »Sonja, bitte nicht!«

Doch die Kollegin ließ sich nicht abbringen. »Und wenn doch? Wenn die Presse mit dieser Komplottidee Recht hat? Wenn Trixi Völker deswegen umgebracht wurde, weil sie wegen Mennickes Tod oder dessen Folgen in ein Wespennest gestochen hat?«

Gottlieb sah entnervt zur Decke. »Du jetzt nicht auch noch! Aber gut, spielen wir es durch. Lukas, das ist dein Thema.«

Decker sackte zusammen. »Das würde voraussetzen, dass Mennicke ermordet wurde. Aber er ist unumstößlich an Altersschwäche gestorben. Das habe ich mir von einem unabhängigen Internisten bestätigen lassen. Ich habe ihm Einsicht in die Krankenakte gegeben, und er kommt eindeutig zum selben Ergebnis.«

»Welcher Internist?« Appelt spielte mal wieder den Einserschüler.

»Dr. Ehreiser. Sehr kompetent.«

Sonja Schöller meldete sich. »Aber du hast mir auf dem Weg hierher erzählt, dass du im Imperial nicht weiterkommst. Wie meintest du das?«

Hanno Appelt richtete sich auf, als wollte er einen Anzeigenbogen ausfüllen. »Behindert diese Jablonka die Polizeiarbeit?«

»Behindern? Nein, wahrscheinlich will sie nur den Dienstbetrieb nicht gestört sehen, oder sie war verschnupft, weil ich noch andere Mitarbeiter sprechen wollte außer ihr. Sie hat heute ihren freien Tag, deshalb versuche ich es später noch einmal dort. Nicht nur beim Pflegepersonal, sondern nach Möglichkeit auch bei den Bewohnern. Vielleicht wissen die mehr über Trixi Völker. Wenn jemand so regelmäßig ins Heim kommt und sich um einen Bewohner kümmert, dann versuchen auch andere, mit demjenigen ins Gespräch zu kommen. Denen ist ja langweilig und sie erhoffen sich ein wenig Abwechslung. Das weiß ich, weil mein Vater ...« Decker wurde rot und verstummte.

Gottlieb sprang ihm zur Seite. »Gute Idee, Lukas, rede mit den Leuten. Jede Information hilft. Machen wir weiter. Sonja, du hast dich um die Wohnung gekümmert. In deinem Bericht steht etwas über eine ominöse Kiste?«

»Richtig. Die Wohnung war mustergültig aufgeräumt, bis in die kleinste Schublade, als hätte die Tote noch Minuten vor ihrer Ermordung großen Hausputz gemacht. Sie hatte nichts Unnützes in der Wohnung, keinen Nippes, nichts. Bis auf diese Umzugskiste hinter der Couch mit allem möglichen Klimbim: verschiedene Briefbeschwerer, Kerzenhalter, ein Elefant aus Steingut, eine Kinderzahnspange, ein Stofftier, Vasen, ein roter Wollschal, ein buntes Haarband, ein einzelner Ohrring, Matchboxautos, um nur einiges zu nennen – nichts von großem Wert. Also, Hanno, kein Motiv für den Mord, nur merkwürdig.«

»Vielleicht hat sie das Zeug für jemanden aufbewahrt?«

»Für wen, Hanno? Bisher hat kein Zeuge sie je Besuch empfangen sehen.«

Gottlieb klopfte auf die Papiere, die vor ihm lagen. »Die Spurensicherung hat alles katalogisiert und fotografiert. Wir kümmern uns später drum, falls es wichtig sein sollte. Hanno, was ist mit dem Ehemann der Toten? Wurde der endlich vernommen?«

Appelt schüttelte säuerlich den Kopf. »Das könnt ihr euch nicht vorstellen, was sich die Kollegen drüben geleistet haben. Sie haben einen gewissen Uli Völker, achtunddreißig, arbeitslos, wohnhaft Körnerplatz in Leipzig, mehrfach nicht angetroffen. Daraufhin haben sie ihm eine Vorladung geschickt. Völker ließ ihnen ausrichten, er stünde erst nach der Beerdigung seiner Frau für Auskünfte zur Verfügung. Und was machen die Kollegen? Na? Sie nehmen das brav zu Protokoll. Fertig.« Er lachte kurz auf. »Dicker Hund, was? Max, was meinst du? Haftbefehl, oder?«

Gottlieb winkte ab. »Lass mal, den übernehme ich. Ich fahre morgen zur Beerdigung und knöpfe ihn mir persönlich vor. Sonja, du sagtest, der Ehemann hätte die Scheidung eingereicht. Was ist der Grund? Könnte hier ein Mordmotiv liegen? Was ist mit Streit um Unterhalt?«

»Das wollte ich noch ausführen«, erklärte Sonja. »Die Völkers stritten sich um eine Eigentumswohnung in Leipzig oder um deren Finanzierung. Hörte sich verworren an. Ich wollte heute Nachmittag die Anwältin aufsuchen und nachfragen.«

»Hm, also doch. Eine Beziehungstat vielleicht. Dann werde ich unserem Freund mal gründlich auf den Zahn fühlen. Wer weiß, vielleicht haben wir den Fall schneller geklärt als gedacht. Aber bis zu einem Haftbefehl werden wir weitermachen wie bisher, das ganze Programm. Lukas, Hanno, wie besprochen. Sonja, ruf die Hausmeisterin in der Briegelackerstraße an. Das Siegel an der Wohnungstür bleibt noch ein paar Tage dran. Es darf nur von uns entfernt werden, schärf ihr das noch einmal ein. Und ich nehme mir Mennickes ehemalige Haushälterin vor. Heute werde ich sie hoffentlich endlich erwischen.«

*

Lea hob entzückt ihren Fotoapparat. Die abgeschabte Badewanne, die die beiden Bauarbeiter gerade aus dem Schlösschen trugen, hatte doch tatsächlich goldfarbene Löwenfüße. Ein schönes Bild für den nächsten Aufmacher.

Dann verstaute sie die Kamera und kletterte vorsichtig über den Schuttberg am Eingang. Was für Schätze erwarteten sie wohl im Innern von Mennickes ehemaligem Palast?

Sie kam jedoch nicht dazu, mehr als zwei Schritte durch die riesige Eingangshalle zu tun.

Eine kleine, dralle Frau mit schwarz gefärbtem Bubikopf stellte sich ihr wie ein Zerberus in den Weg. Das Wasser in ihrem Eimer schwappte gefährlich, als sie ihn auf den Boden stellte.

»Was wollen Sie?«, fragte die Frau unfreundlich und zerrte ihre Gummihandschuhe von den Händen. »Wo ist Herr Nowak?«

»Herr Nowak? Ich wollte ...«

»Ohne Herrn Nowak darf ich Sie nicht reinlassen.«

»Aber ich ...«

Lea wusste nicht, was sie sagen sollte, doch das brauchte sie auch nicht. Die Frau musterte sie von oben bis unten, dann glitt ein kurzes Lächeln über ihr Gesicht. »Also gut, kommen Sie mit. Ich war gerade dabei, die Wohnung vorzeigbar zu machen.«

Verwirrt folgte Lea ihr über das knarrende Eichenparkett. Sie hätte sich die Halle mit den imposanten Treppenaufgängen gern eingehender angesehen, aber die Frau öffnete eine Tür und winkte sie zu sich.

»Die Bibliothek von Herrn Mennicke. Er hat nicht nur Bilder gesammelt, sondern auch Bücher, ganz alte, staubige. Man riecht das immer noch, finden Sie nicht auch?«

Lea schnupperte gehorsam. Tatsächlich, wenn man sich anstrengte, konnte man sich vorstellen, wie es hier einmal ausgesehen und gerochen haben mochte. Der Saal war bestimmt vier Meter hoch und mit dunklem Holz verkleidet. Auch die Decke bestand aus Holzkassetten, die mit zauberhaften bunten Jugendstilmotiven bemalt waren. Allein die Decke kostete wahrscheinlich sicherlich ein kleines Vermögen. Die Regale an allen Wänden waren deckenhoch, mit umlaufender Empore auf halber Höhe und zwei Treppen, die dezent hinaufführten. Auf dem Fischgrätparkett zeugte ein heller Fleck von einem riesigen Teppich, der hier gelegen haben musste. Mittlerweile war natürlich alles ausgeräumt, die Bücher, der Teppich und die schweren englischen Ledermöbel, die Lea sich dazureimte.

Die Frau stieß eine Flügeltür auf, die in einen Salon führte. Lea blinzelte in die Mittagssonne, die über dem Rasen lag und den Raum zu hell machte. Bestimmt hatten früher schwere Vorhänge das Licht gedämpft.

»Das Frühstückszimmer«, erklärte die Frau, »und da hinten geht es zur Anrichte. Herr Nowak würde sie zum Bad umbauen, wenn Sie wollen.« Dann machte sie eine weite, melancholische Handbewegung. »Herr Mennicke hat hier so gerne gesessen, seine Zeitungen gelesen oder einfach nur nach draußen gesehen und die Sonne genossen. Frühstück – das was seine Lieblingsstunde.«

»Sie kannten ihn?«

»Ich war seine Haushälterin. Bis dieses junge Ding kam«, antwortete die Frau spitz.

Leas Herz machte einen Freudensprung. »Meinen Sie Frau Völker? Trixi Völker?«

Die Frau legte ihren Kopf schief. »Sie wollen die Wohnung gar nicht kaufen, oder?«

»Ich recherchiere wegen des Mordes an Trixi Völker. Ich bin ...«

Die Frau ließ sie nicht ausreden, sondern schlug sich mit der Handfläche an die Stirn. »Ach, Sie sind das. Man hat mir gesagt, dass mich gestern jemand gesucht hat. Jemand von der Polizei, komisch nicht, ich habe automatisch gedacht, das wäre ein Mann. Also, ich bin die Gerti Büdding, die Sie befragen wollten.«

Die Frau wischte ihre Hand an der Schürze ab und streckte sie freundlich aus. Doch Lea nahm sie nicht, sondern kramte ihren Presseausweis hervor.

Frau Büdding sah gar nicht hin. »Stecken Sie das weg. Als ich in der Zeitung das Foto gesehen habe, wusste ich, dass Sie kommen würden. Gehen wir nach hinten. Die ehemalige Küche ist noch intakt, da können wir uns setzen.«

Sie gingen durch die Halle in einen anderen Flügel des Anwesens, in eine hochherrschaftliche Küche mit weiß gestrichenen alten Möbeln, Kupferkesseln, in die Jahre gekommenen Einbaugeräten, einem Fußboden aus Schachbrettfliesen und einem überdimensionalen alten Bauerntisch in der Mitte.

»Gemütlich«, entfuhr es Lea.

Frau Büdding nickte. »Ich war hier dreißig Jahre in Stellung. Frau Mennicke hat mich geholt. Eine wunderbare Frau.«

Sie kramte ein Taschentuch hervor und knetete es in den Händen, als habe sie Angst, jeden Moment die Fassung zu verlieren.

Lea wusste, dass es nun auf jedes Wort ankam. Sie beschloss, die Frau zunächst in ihrem Glauben zu lassen, es mit einer Polizistin zu tun zu haben.

Dummerweise hatte sie keine Zeit, sich Fragen zu überlegen oder Sätze abzuwägen. Nowak konnte jeden Augenblick erscheinen, Gottlieb wahrscheinlich ebenso, denn er war offensichtlich der »Jemand von der Polizei«, der die Frau gestern vergeblich gesucht hatte.

»Diese Trixi Völker haben Sie wohl nicht leiden können?«

Frau Büdding schoss kerzengerade in die Höhe. »Leiden? Ein verdammtes Luder war das, wenn Sie mich fragen. Kam her und spielte sich auf wie Madame persönlich. Dabei sollte sie doch nur seine alten Schriften registrieren. Ich war plötzlich völlig überflüssig. Herr Mennicke wollte nur noch sie um sich haben. Sie las ihm vor, sie kochte ihm seine Leibspeisen, die ihm schon lange verboten waren. Stellen Sie sich vor: Bratwurst mit Mayonnaise-Kartoffelsalat, Sahnegulasch, Entenbrust, Schweinshaxe. Das durfte er doch gar nicht essen. Kein Wunder, dass es mit ihm bergab ging. Die war gerade mal ein Dreivierteljahr hier, da musste er schon ins Pflegeheim.«

»Wegen des fetten Essens?«

Die Frau schüttelte den Kopf und beugte sich über den Tisch. »Oberschenkelhalsbruch. Das habe ich kommen sehen. Wissen Sie, was die beiden nachts in der Bibliothek gemacht haben?«

Lea hielt den Atem an. Sie hatte keine Ahnung, aber so wild, wie die Büdding plötzlich aussah, war Trixi Völker wahrscheinlich nackt auf die Regale geklettert und hatte im Kronleuchter geschaukelt.

»Sie haben Walzer getanzt!« Gerti Büdding lehnte sich zurück und verschränkte die Arme, als wäre Walzertanzen der Inbegriff des Schändlichen und als müsste Lea dies auch so sehen.

Das Gegenteil war der Fall. Lea begann, Trixi Völker zu mögen. Sie hatte dem alten Knaben offenbar ein paar höchst vergnügliche letzte Monate bereitet.

»Und Rotwein getrunken!«, setzte Frau Büdding angeekelt nach. »Jeden Abend eine ganze Flasche, aus dem hinteren Teil des Weinkellers.«

Lea hätte am liebsten Beifall geklatscht, aber das hätte Frau Büddings Redefluss mit Sicherheit zum Versiegen gebracht.

»Wie kam Frau Völker zu Mennicke?«, fragte sie stattdessen.

»Ganz genau weiß ich das nicht. Es begann, glaube ich, schon vor neun oder zehn Jahren, jedenfalls nur ein paar Jahre nach der Wiedervereinigung. Frau Mennicke war fast zehn Jahre tot, da ist er rübergefahren in die Zone, um zu den Wirkungsstätten von Luther, Schiller und Goethe zu reisen, wie er sagte. Eisenach, Wittenberg, Weimar, Dresden, Leipzig. In Leipzig blieb er besonders lang, ein paar Wochen. Vermutlich hat er die Frau dort kennen gelernt, jedenfalls kam er richtig verändert zurück. Er summte Liedchen, er begann sogar, seine Bibliothek aufzuräumen, was er schon ewig vorgehabt hatte. Natürlich hörte er schnell wieder auf, weil es über seine Kräfte ging. Aber darum geht es nicht. Er machte einfach Sachen, die er vorher schon lange nicht mehr gemacht hatte. Er sprach davon, wieder einen Tag der offenen Tür in der Alleevilla zu organisieren, er schmiedete sogar Pläne für eine Italienreise auf Goethes Spuren. Und jede Woche musste ich einen dicken Brief nach Leipzig zur Post bringen, adressiert an diese Frau. Die hielt es noch nicht mal für nötig, regelmäßig zu antworten. Alle ein, zwei Monate kam ein dünner Brief, manchmal auch nur eine Postkarte.«

»Wissen Sie noch die Adresse?«

»Postfach, natürlich.«

Frau Büdding war die Verärgerung in Person. Wenn das Taschentuch in ihren Händen nicht aus Stoff gewesen wäre, hätte sie es längst zerfetzt.

»Herr Mennicke übernahm sich, das merkte jeder. Himmel, er war über achtzig. Kein Wunder, dass er krank wurde. Erst der Magen, dann das Herz. Dieser Dame war das offenbar egal. Die Abstände ihrer Briefe wurden immer größer. Und in der gleichen Zeit verschlimmerte sich sein Gesundheitszustand. ›Keine Post heute?‹, fragte er mich oft, und er sackte richtig zusammen, wenn ich die Hände hob. Ich habe mir den Mund fusslig geredet, dass er auf sich aufpassen sollte. Dass er nicht mehr der Jüngste sei. Ich habe ihm Diät gekocht, ihn von Arzt zu Arzt gefahren. Ja, er war schwer krank. Aber er tat so, als könnte er ewig leben. Hat noch nicht mal seine Angelegenheiten bestellt.«

»Was meinen Sie damit?«

»Kein Testament, nichts. Das alles hier, das wäre dem Staat zugefallen.«

»Woher wissen Sie das?«

»Weil ich ihm öfter ins Gewissen geredet habe und er immer sagte, nächsten Monat würde er etwas unternehmen.«

»Er hatte keine Verwandten? Keine Erben?« Lea wollte auf Nummer sicher gehen, auch wenn sie die Antwort schon kannte.

Frau Büdding schüttelte den Kopf. »Niemanden, noch nicht mal Freunde, die sind längst vor ihm gestorben. Niemand hätte etwas bekommen, selbst ich nicht.«

Lea spitzte die Ohren. Aha, daher wehte der Wind. »Und was ist mit dem Schlösschen hier? Das hat doch nicht der Staat bekommen.«

»Immer der Reihe nach. Herr Mennicke tat sich Jahr für Jahr schwerer mit dem Schriftkram. Steuer, Versicherungen, alles sollte plötzlich ich übernehmen. Bin ich etwa ein Steuerberater?«

Lea dämmerte etwas. »Und da haben Sie ihm einen besorgt.«

»Wollte ich. Aber er ließ mich nicht. Er murkste allein weiter, mit seiner alten Brille und Lupe. Zum Augenarzt wollte er nicht. Lohnt sich nicht mehr, hat er doch tatsächlich gesagt. Können Sie sich das vorstellen? Lohnt sich nicht! Anfang 2003, gleich nach Silvester, stand plötzlich diese Trixi Völker vor der Tür, so mir nichts, dir nichts. Gut, wenigstens war sie so anständig und zog hier nicht auch noch ein. Aber sie war jeden Tag hier. Sie kam schon zum Frühstück, mit Brötchen, wo er doch gar nichts aus weißem Mehl essen sollte, und sie blieb, ja, bis der Wein leer war und Herr Mennicke schlafen ging.«

»Und sie machte seinen Papierkram?«

»Vermutlich. Sie übernahm Herrn Mennicke – Onkelchen, sagte sie zu ihm, wie finden Sie das? Pah! –, also, sie übernahm ihn komplett, würde ich sagen. Als er ins Krankenhaus und dann ins Imperial kam, wurde ich nicht mehr gebraucht und entlassen, einfach so, aus heiterem Himmel. Nicht mal eine Prämie habe ich gekriegt für meine Treue. Ein Dankeschön und eines von diesen zerfledderten Büchern, das war’s.«

»Was war das für ein Buch?«

»Ich hab es nicht mehr. Kasimir Löbmann, der Antiquitätenhändler, hat sich erbarmt und mir hundert Euro dafür gegeben. Na, vielen Dank!«

»Wann war das mit Ihrer Entlassung?«

»September letzten Jahres, gleich als er ins Pflegeheim wechselte.«

»Steht das Schlösschen seitdem leer?«

Frau Büdding nickte kurz und scharf. Ihre Augen bekamen einen wachsamen Ausdruck.

Lea versuchte es anders herum. »Wann wurde die Villa an die Firma Nowak verkauft?«

»Keine Ahnung. Da müssen Sie schon Herrn Wiesinger fragen.«

»Wen?«

Die Frau wurde blass und presste die Lippen zusammen, als sei sie bei etwas Verbotenem ertappt worden. »Niemand. Ich muss jetzt weiter.«

»Was machen Sie hier eigentlich?«, fiel Lea ihr ins Wort. »Wenn Herr Mennicke Sie doch entlassen hat, wieso machen Sie hier sauber? Wer bezahlt Sie dafür?«

»Ich habe eben einen neuen Job gefunden und einen neuen Arbeitgeber, und der ist nicht so knickrig wie Herr Mennicke. Ich sage Ihnen, daran war nur dieses Luder schuld. Wer weiß, ob die meine Prämie nicht eingesackt hat. Und jetzt muss ich wieder. Oder wollen Sie mich verhaften?«

»Lieber Himmel. Ich doch nicht.« Lea zögerte. Sie musste der Frau endlich reinen Wein einschenken. Draußen vor dem Fenster rollte gerade ein allzu bekannter Wagen in die Einfahrt.

»Da kommt Kriminalhauptkommissar Gottlieb. Der wird Ihnen alle Fragen noch einmal stellen, fürchte ich.«

Frau Büdding sah sie ratlos an.

»Ich bin nicht von der Polizei. Ich bin vom Badischen Morgen.«

»Presse? Sie meinen, ich komme in die Zeitung?« Die Frau zwinkerte aufgeregt. »Aber fotografieren lasse ich mich so nicht, nicht in dieser Schürze.«

Gottliebs Schritte hatten die Eingangshalle erreicht. »Frau Büdding?«, rief er.

Lea packte ihre Sachen. Sie hatte bekommen, was sie wollte. Lächelnd schlängelte sie sich an dem verblüfften Hauptkommissar vorbei, der wie üblich wunderbar nach Zigaretten und einem sehr herben Aftershave roch, mit dem er sich offenbar neuerdings seinen Bart einrieb.

Sie stolperte, als sie ins Freie kam, so blendete die Sonne sie. Sie blieb zwischen den beiden Bronzelöwen stehen und streckte sich zufrieden. Was für ein wunderbarer Tag. Was für eine tolle Geschichte. Und sie hatte einen neuen Namen: Wiesinger.

Crime Collection III

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