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Wie Kinder so werden

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Es ist noch gar nicht lange her, da lebte ein flinkes, kluges Mädchen in einem großen Haushalt. In Schränken und Truhen war alles vorhanden, was man braucht, und noch viel mehr.

Annelie bekam die herzigsten Puppen und den feinsten Kaufmannsladen. Ihr Zimmer quoll über von Spielzeug. Ihre Mutter wollte ihr all das gönnen, was sie selbst als Kind vermisst hatte. Doch das Mädchen wollte nicht damit spielen.

Was es wollte?

Hinaus wollte es, hinaus in die Welt und frei sein. Wenn die Mutter einen Augenblick nicht aufpasste, entwischte es nach draußen und lief zum Teich am Waldrand. Da traf es Buben, mit denen es von Herzen gern spielte. Sie scheuchten Tiere auf, bauten sich ein Floß, mit dem sie auf dem See herumpaddelten, und schnitzten sich Pfeile. Je wilder das Spiel, desto besser gefiel es ihr.

Wenn Annelie bei Einbruch der Dämmerung hungrig und verdreckt von oben bis unten zurück ins Haus schlich, wurde sie von den Eltern nur streng angesehen. Sie waren immer froh, ihr Kind wieder heil bei sich zu haben. »Warum kannst du nicht so brav sein, wie die anderen Mädchen?«, seufzte ihre Mutter oft, wenn sie ihr ein weißes Spitzenkrägelchen für feinen Besuch umband und doch wusste, dass es keine Stunde lang sauber bleiben würde.

Annelie wuchs heran, schaffte die Schule mit viel Augenzudrücken und wählte einen ehrbaren Beruf. Auch ein angesehener Mann gesellte sich zu ihr, und bald stellte sich ein Kind ein: Tilda.

Annelie wollte eine gute Mutter sein und nahm das Kind von morgens bis abends mit hinaus. Es sollte sich frei fühlen inmitten der Natur und Zwiesprache halten mit all den Geschöpfen und Gewächsen der Erde.

Doch Tilda klammerte sich an die Mutter, verbarg ihr Gesicht an der Schulter und wurde erst ruhig, wenn sie wieder zu Hause waren.

Annelie wollte nicht glauben, was sie sah: Tilda spielte mit Bausteinen am Boden, drückte jedes Püppchen an sich und betrachtete ausdauernd bunte Bilderbücher. Wenn sie ins Gras gesetzt wurde, weinte sie, und vor Tieren hatte sie Angst.

»Ist das wirklich meine Tochter?«, fragte Annelie zweifelnd vor sich hin.

Und es blieb so; Tilda wurde ein Stubenkind.

Die Großmutter freute sich darüber, denn sie hatte die kleinen Möbel und den Kaufmannsladen aufbewahrt und spielte nun stundenlang mit der Enkelin Puppen anziehen und einkaufen gehen.

Auch Tilda wurde groß und ging ihrer Wege.

Als sie eines Tages ein Kind erwartete, konnte Annelie ihre Ungeduld kaum zügeln. Sie freute sich unbändig darauf, mit ihrer Enkelin all die Abenteuer in der Natur durchzustehen, die sie mit ihrer Tochter nicht leben durfte. Es muss doch eine Gerechtigkeit geben in der Welt, dachte sie.

Anfangs ließ Rosa alles über sich ergehen. Überall griff sie mit ihren Händen zu. Ständig hatte sie ein Ding in der Hand, drehte es, klopfte damit, probierte es im Mund. Bald schon steckte sie es mit anderen zusammen, baute Türme und Mauern. Jede Kiste, jede Schublade füllte sie mit Alltagszeug – so als wolle sie messen, wie viel hineinpasst. Gerne probierte sie auch mit ihrem ganzen Körper aus, wie groß Höhlen und Nischen waren. Tilda musste sie oft befreien, weil sie sich zu weit hineinzwängte.

Wenn die Großmutter sie hinaus ins Freie lockte, versteckte sie sich unter Büschen oder kletterte von Ast zu Ast, als müsse sie deren Spannbreite erfassen.

Am liebsten werkelte sie mit Kabeln und steckte Rohre zusammen. Schon bald wünschte sie sich Technikspielzeug und experimentierte.

»Unsere Ingenieurin«, nannte sie ihr Vater stolz.

Sie wurde ein Papakind wie es im Buche steht. Tilda räumte die Puppen in Kisten und seufzte.

»Alles im Leben wiederholt sich«, sagte sie vor sich hin, um sich zu trösten.

Dann erwartete auch Rosa ein Kind. Doch Luna war von Anfang an ein stilles Baby. Sie schaute nur und schaute. Man meinte, sie wolle sich die Welt mit den Augen einverleiben.

Spielzeug betrachtete sie kurz, drehte es um und ließ es fallen.

Draußen im Garten konnte sie stundenlang ins Geäst der Bäume blicken und dabei zufrieden einschlafen. Wenn man ruhig mit ihr sprach, entlockte man ihr ein Lächeln. Manchmal formte sie die Lippen und versuchte zu antworten. Das klang wie Engelsgeflüster.

»Was bist du nur für ein Wesen?«, fragten Tilda und Rosa wie aus einem Mund.

Aber Luna antwortete nicht. Sie sprach überhaupt erst in einem Alter, als die anderen Kinder den Eltern schon ein Ohr abgeschwatzt hatten.

Und so gesammelt, so in sich ruhend, blieb Luna ihr Leben lang. Sie war zufrieden mit sich selbst, zufrieden mit ihrem beschaulichen Leben, ein Ruhepol in allem Weltentreiben. Auch Männer interessierten Luna nicht, und Kinder betrachtete sie befremdlich.

So können wir leider nicht sagen, wie die Tochter der nächsten Generation geworden wäre. Vielleicht ein Bücherwurm oder eine zarte Prinzessin oder eine wortstarke Revolutionärin oder eine kinderreiche Übermutter. Wer weiß? Wer weiß?


Mit Märchen zum Glück

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