Читать книгу Mit Märchen zum Glück - Helena Beuchert - Страница 7
Über alle Berge
ОглавлениеEs ist noch gar nicht lange her, da versprachen sich eine Frau und ein Mann aus freien Stücken ewige Treue. Sie wollten gute und schwere Zeiten miteinander durchschreiten bis zum Tod. Ob sie ahnen konnten, was sie erwartete?
Bisher lebten sie streng behütet in den engen Grenzen ihrer Dörfer. Jetzt stellte sie das Leben mitten in eine Berglandschaft. Diese Gegend war ihnen fremd. Sie fühlten sich frei und bedrängt zugleich.
»Was wohl dahinter liegt?«, fragte der Mann schon nach kurzer Zeit und deutete auf den Berg vor ihnen.
»Wir werden es nur erfahren, wenn wir ihn besteigen«, antwortete die Frau lächelnd, und gemeinsam rüsteten sie sich zum Aufstieg.
Doch es war mühsamer, als sie gedacht hatten, vor allem für die Frau. Der Mann mit seinen langen Beinen schritt stetig voran, während sie hinterherjapste.
»Erzähl mir was von dir«, bat sie, »dann wird mir der Weg leichter.«
Doch er schüttelte verwundert den Kopf. »Du musst nur auf deine Füße achten. Schritt für Schritt, Tritt für Tritt. Gar nichts denken wollen. Auf einmal sind wir oben.«
Diese Antwort machte die Frau traurig. »Wir können uns den Weg doch verschönern. Überhaupt könnten wir uns das Leben leichter machen«, flehte sie leise vor sich hin. Sie wusste nicht, ob er es hörte. Aber sie wusste, er wollte es nicht hören. Ihm genügte es vorwärtszukommen.
Lange vor ihr erklomm er den Gipfel, ruhte sich aus und schaute in stiller Freude in die Ferne.
Die Frau kam völlig erschöpft an und konnte die Aussicht kaum genießen. Bald strebten sie wieder hinunter ins Tal, auf ihr gemeinsames Haus zu.
Schon am gleichen Abend sah sie den Mann am Fenster stehen und den Berg daneben bestaunen.
»Willst du auch ihn bezwingen?", fragte sie verwirrt.
Er nickte: »Ich gehe allein. Ich will sehen, wie weit der Blick von oben reicht.«
Und die Frau musste ihn ziehen lassen, wiewohl ihr nicht danach war.
Als er zurückkam, leuchteten in seinen Augen all die schneebedeckten Gipfel, die er rundum gesehen hatte. Sie lockten ihn mit einem mächtigen Zauber, und sein Bezwinger-Hunger war noch größer geworden.
Die Frau blieb weiter zu Hause, denn Kinder stellten sich ein und umspielten sie. Es war eine unendliche Freude, sie wachsen zu sehen und ihr Lernen zu begleiten. Doch der Mann wurde ihr fremd. Erschöpft kehrte er von seinen Bergen zurück und wollte nur umsorgt werden.
Ob er überhaupt etwas zu erzählen weiß?, dachte sie manchmal. Welche Spuren haben die langen Wege in ihm gezeichnet? Speichert er Bilder in seinem Inneren von diesen majestätischen Rundblicken? Schöpft er daraus seine Kraft?
Manchmal klang von einem Berg herunter ein fröhliches »Haaallo«, und ein vielfaches Echo antwortete. Doch ihren Namen rief er nie. Sie hätte ihn gern aus seinem Mund gehört und ihn im Herzen widerhallen lassen. Weit weg war er, so weit.
Wenn der Bach im Tal nicht gewesen wäre, sie wäre verdurstet. Doch an ihm wanderte sie entlang hin zur Quelle. Dort lauschte sie dem munteren Plätschern, bis sie angefüllt war mit neuer Energie. An den Bachrändern pflanzte sie Weidenbüsche. Um das Haus legte sie einen großen Garten an. Tag für Tag bereitete sie Mahlzeiten zu und freute sich daran, wie ihre gemeinsamen Kinder sich energievoll dem Leben entgegenstreckten.
Auch Freunde stellten sich ein und blieben gerne. An die Quelle stellte sie eine Ruhebank. Dort erwartete sie seine Rückkehr. Sobald sie ihn winkend beim Abstieg sah, eilte sie nach Hause, um ihn mit einem kräftigenden Mahl zu empfangen.
In der Welt war der Mann sehr angesehen. Die Menschen nannten ihn Bergbezwinger und bewunderten seine Ausdauer und sein Können. Er genoss seinen Ruf, aber er heftete ihn nicht ans Revers.
Eines Tages fasste sich die Frau ein Herz und fragte ihn geradeheraus: »Kannst du mir sagen, warum dich ein Aufstieg lockt, auch wenn er noch so kraftraubend ist? Warum willst du jeden Berg erklimmen, der sich vor dir auftürmt?«
»Es liegt in der Natur der Sache«, antwortete er ruhig, »erst wenn ich oben war, weiß ich, ob es sich gelohnt hat.«
Und sie verstand. Ihr Lebensauftrag blieb das Hegen und Pflegen, auch wenn sie es nicht gewählt hatte. Er eroberte sich die Welt und machte sich bekannt. Dabei wurden beide alt. Alt, müde und grau.
Eines Tages brachte der Mann in seinem Hut ein Edelweiß nach Hause und pflanzte es in die Gartenmauer. Sie sah ihm in die Augen und sah, sie glänzten frei. Keine Bergspitze blinkte mehr in ihnen. Er war in sich zur Ruhe gekommen.
Jetzt saßen sie oft gemeinsam an der Quelle im Tal, und ihre Herzen schwangen ineinander. Mal zitterten sie traurig ob all der nicht gelebten Möglichkeiten, mal hüpften sie freudig ob all des wundervollen Lebensglücks.
Ihre Kinder hatten ihren Platz in der Welt gefunden. Die Freunde waren ihnen geblieben. Sie spürten sich eins mit der Natur und verweilten dankbar in ihr.
Die Ruhe der Berge hatte sich in dem Mann eingegraben, ja, er war selbst wie ein Berg geworden – voll innerer Kraft. Bei der Frau hatte sich das quirlige Murmeln ausgeprägt. So viel gab es zu erzählen. Jetzt konnte sie es mit ihm teilen.
Die Tage flossen dahin. Alles war gut.
Jahre später suchten Leute nach ihnen. An ihrem Platz fanden sie einen grün bewachsenen Hausberg, einen, wie es ihn in dieser Gegend oft gab. Nur hier ward noch nie einer verzeichnet gewesen.
Und was noch verwunderlicher war: Um den Berg herum schlängelte sich ein Bach, der so melodisch gurgelte, als erzähle er eine Geschichte.