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Wie die Pause ins Haus kam

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Es ist noch gar nicht lange her, da lebte einmal ein Mädchen, das war durchscheinend blass und kümmerte klaglos vor sich hin. Und wären die Winter nicht ins Land gekommen – wer weiß.

Schon als es zur Welt kam, rutschte es leicht, fast nebenbei, aus dem Muttermund. Die Hebamme, die gerade am Fenster stand und eine Tasse Kaffee trank, bemerkte es nur, weil es zu wimmern begann. »Da haben wir ja unsere kleine Pause«, sagte sie peinlich berührt.

Die Eltern, die sich noch nicht Mühe gemacht hatten, einen Namen zu finden, griffen die Bemerkung auf. »Wir haben eine kleine Pauseline bekommen«, erzählten sie überall.

Und das war wirklich so. Immer, wenn das Mädchen weinte, konnte die Mutter eine Pause von der schweren Feldarbeit machen und es stillen. Sie stillte es lange, sehr lange, denn die Kleine wollte nicht recht gedeihen.

Sorgenvoll blickte die Großmutter in die Wiege.

Im Winter, wenn sich alle zurück ins warme Haus zogen, blühte die kleine Pause auf. Die Männer bosselten an den Gerätschaften in der Scheune und gönnten sich so manchen Plausch. Die Frauen stopften Socken, nähten neue Kragen an die Arbeitshemden und sangen dabei Kirchenlieder.

Pauseline trug ihre Puppe von einem Stuhl zum anderen und bettete sie in weiche Sofakissen. Sie saugte all das fröhliche Geplauder, das monotone Klopfen und Kleppern, in sich auf wie Honigmilch. Manchmal nickte sie mit allen zusammen in ein Mittagsschläfchen ein und wachte erquickt wieder auf.

Der Vater spielte am Feierabend mit seinem Mädchen Hoppe-hoppe-Reiter auf den Knien. Nur der Großvater äugte unruhig zum Nachbar-Hof hinüber, der verlassen dalag.

Im Frühjahr kaufte ihn der Vater. Jetzt waren sie Großbauern und angesehen im Dorf. Doch nicht nur ihr Ansehen, auch ihre Arbeit verdoppelte sich. Waren sie bisher schon alle ausgelastet, so überrollte sie jetzt eine Flut von Pflichten.

Schon im März rüsteten sich alle zur Feldarbeit. Der alte Bauer gab Befehle, denen keiner widersprach. Die kleine Pause wurde hin- und hergeschubst – keiner wollte sie mehr haben.

»Von nichts kommt nichts«, schnauzte der Großvater und trieb die Familie von morgens bis abends zum Schaffen an. Selbst am Sonntag mied er den flehenden Blick von Pauseline und hielt alle an, in Haus und Scheune – versteckt vor den Leuten – weiterzuwerkeln.

Da lief sie fort, lief, so schnell ihre dünnen Beine sie trugen, lief den ganzen Tag und schlief erschöpft am Wegrand ein. Eine Spinne krabbelte über sie hinweg und begann, in ihrer Armbeuge ein Nest zu weben. Vögel hopsten pickend um sie herum. Pauseline rührte sich nicht.

Ein Wanderbursche, der pfeifend des Weges kam, beugte sich am Morgen über sie, fühlte, dass sie atmete, und streichelte ihr zart übers Gesicht.

Erstaunt schlug sie die Augen auf und lächelte.

Er gab ihr zu essen und zu trinken, setzte sich neben sie und fragte nach dem Woher und Wohin.

Da färbten sich ihre Wangen rot und füllten sich wieder mit Leben. Hand in Hand gingen sie weiter. Wenn Pauseline müde wurde, trug sie der Bursche ein Stückchen auf seinen Schultern und trällerte ein Wanderlied dabei.

So kamen sie an ein Stadttor. »Hier müssen wir Abschied voneinander nehmen«, sagte er, »drinnen wartet bei einem Meister viel Arbeit auf mich.«

»Aber ich könnte mich doch in eine Ecke der Werkstatt setzen und warten, bis du eine Pause machen kannst, oder Feierabend hast«, bettelte die Kleine.

Doch der Bursche blieb fest: »Es wird nicht gerne gesehen, wenn ich gleich mit einem Pausenwunsch ins Haus falle. Ich muss mir meinen Feierabend erst verdienen.«

Traurig kauerte Pauseline sich in eine Nische der Stadtmauer. »Was ist das nur«, flüsterte sie vor sich hin. »Keiner will mich haben.« Und sie zog sich ganz in sich zurück.

Zum Glück bemerkten die Wächter das blasse Wesen, wenn sie ihre Runden drehten, und bekamen Mitleid mit ihm. Sie versorgten es mit dem Nötigsten und setzten sich ein wenig zu ihm hin. So überlebte Pauseline mehr schlecht als recht.

Inzwischen aber war in der Familie, in die sie hineingeboren wurde, eine große Not ausgebrochen. Die Mutter war ob der unendlichen Arbeit krank geworden. In den Fieberträumen arbeiteten ihre Hände weiter, lasen Kartoffeln auf und rupften Unkraut. Die alte Großmutter pflegte sie und seufzte laut: »Wohin soll das alles führen?«

Haus und Garten verwahrlosten.

Die Männer aber bestellten rastlos die Felder, gönnten sich keinen Feierabend und den Äckern keine Brachzeit. Sie säten im Frühjahr als Erste. Doch die jungen Getreidehalme erfroren im launischen Aprilwetter. Eine zweite Aussaat musste folgen.

Mit dem Pferdewagen fuhren sie nur im Galopp und überholten die anderen Bauern, die ihnen verwundert hinterhersahen. Doch im Spätsommer schlugen die Pferde unvermutet aus, schüttelten prustend die Köpfe und zogen nicht an.

Der Vater fluchte, knallte mit der Peitsche und rannte ziellos hin und her. Dann spannten sie die Kühe vor den Wagen, um das geerntete Obst heimzufahren.

Doch ob der ungewohnten Anstrengung blieb bei den Kühen die Milch aus, und die Euter verhärteten sich. Eine Lähmung überfiel den ganzen Hof. Die Hühner hörten auf zu gackern, und die Gänse steckten auch tags ihre Schnäbel in die Flügel. Die Felder lagen ausgelaugt im Herbstnebel.

Jetzt hielten alle inne und besannen sich auf die kleine Pause, doch sie war nirgends zu finden.

»Pauseline, wo bist du?«, riefen sie in die dunklen Winkel der Scheune. »Komm, komm, die Suppe ist fertig!«, lockten sie durchs Haus.

Doch das Mädchen hörte sie nicht.

Hastig schlangen sie ihr Essen hinunter und gingen zum Dreschen auf den Vorplatz. Der Ertrag war mager – trotz der doppelten Felder. »Mir fehlt unsere Pauseline so sehr«, seufzte die Mutter und setzte sich im Krankenbett auf, als könne sie ihr Kind durchs Fenster herbeisehnen.

Auch der Vater war betrübt darüber, dass sein Mädchen fortgegangen war. Er wurde immer trauriger und ließ den Kopf hängen.

Nur die alte Großmutter wusste, was zu tun war. Sie schlang sich zwei bunte Schultertücher um, packte zwei Laibe Brot ein und ging fort. Auf dem Weg hielt sie an jeder Bank Rast, blinzelte in die Sonne und fragte alle, die vorbeikamen, nach ihrer kleinen Enkelin. »Wer unterwegs ist, kennt die Welt! Und wer die Welt kennt, ist auch Pauseline begegnet. Also!« Das beschwörende Gemurmel der Großmutter bekam Recht.

Eines Tages erzählten ihr fahrende Leute von einem zarten Mädchen, das an der Stadtmauer kauerte und von den Wächtern ernährt wurde. Jetzt war die Alte nicht mehr zu halten. Sie borgte sich ein Pferd und kutschierte in aller Eile zur nahen Stadt.

War das eine Freude! Die Großmutter umhüllte Pauseline mit ihrem Schultertuch, drückte ihr Brot in die Hand und trug sie in die Kutsche. »Wir haben dich so vermisst, du Liebes! Nie mehr übersehen wir dich, nie mehr!«, stammelte sie ununterbrochen.

Und so kam es. Vater und Mutter nahmen es zärtlich in ihre Mitte und gönnten sich erquickende Pausen im Tagesablauf.

Selbst der Großvater ließ sich vom Abendläuten nach Hause locken, setzte sich mit seiner Enkelin auf die Feierabendbank und wünschte den Leuten einen guten Abend.

Pauseline aber blühte zusehends auf und lockte viele junge Männer herbei, die einen Umweg in Kauf nahmen – nur um ein wenig mit ihr zu plaudern.


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