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Hoch am Himmel stand bereits die Äquatorsonne. Im Schatten von Palmen gähnte Klara und reckte sich wohlig. Tobias lag links neben ihr bäuchlings im Liegestuhl. Seine knatternden Atemzüge verrieten einen tiefen Schlaf. Wie müde einen doch immer diese Tauchgänge machten, dachte sie. Aber wahrlich war es immer zu ein faszinierendes Erlebnis, sich in diese bunte stille Unterwasserwelt zu begeben. Nach ihrer Ankunft vor zwei Tagen war es an diesem Morgen ihr erster Tauchgang gewesen. In der Morgenröte hatten sie ein leichtes Frühstück aus Früchten und Toast mit Marmelade zu sich genommen. Dann, weit vor Einbruch der Hitze, waren sie mit John und seinem Assistenten ohne weitere Gäste aufgebrochen. John hatte das lange Motorboot geschickt über die bewegte, dunkelblaue See zu einer lediglich an die zehn Meter tiefen Stelle gelenkt. Glasklares Wasser gab dort den Blick frei auf pudrig weißen Grund und silbrig glänzende Fischschwärme. Klara stieß einen Schrei des Entzückens aus. Nun, sagte John schmunzelnd in unverkennbaren nordenglischen Dialekt, dann fangen wir heute erst einmal ganz langsam an. Ich glaube, du hast die Tauchschule gut ausgesucht, nickte Tobias Klara anerkennend zu und machte sich daran, die Tauchausrüstung anzulegen. Viele Tauchlehrer in den Urlaubsorten waren Freaks, so empfanden es die beiden aus ihren Urlaubsbegegnungen. Auch John, schätzungsweise an die vierzig, mittelgroß, hager, muskulös und dunkelgebräunt, wirkte durch seine kamelfarbenen Dreadlocks wie einer. Allerdings, so hatte Klara recherchiert, galt er als besonnener Taucher, der sein Terrain durch sein jahrelanges Leben auf der Insel wie seine Westentasche kannte. Er war, wie sie in seinem Blog hatte lesen können, mit Mitte zwanzig auf die Insel gekommen und wegen der Liebe seines Lebens geblieben. Johns Frau Marie, eine schlanke, kleine Mulattin mit herzlichem Blick, hatten sie bereits am Anreisetag kennengelernt. Sie hatte ihnen ihre Unterkunft und alle Ausstattungen der kleinen, am Cap nördlich der Hauptstadt Port Louis gelegenen Anlage gezeigt, dabei fortan mit charmant französischem Akzent auf Englisch über dies und jenes gescherzt. Trotz der Bescheidenheit ihrer Ferienwohnung, die Möblierung war einfach und bereits etwas in die Jahre gekommen, ließ sie Maries Herzlichkeit, sich sogleich wohl fühlen. Mittlerweile dümpelten Klara, Tobias und John in ihrer Tauchausrüstung neben dem Boot im Wasser. John, der mit aufgesetzter Taucherbrille an einen Frosch erinnerte, warf ihnen einen prüfenden Blick zu, dann gab er das Zeichen zum Abtauchen. Langsam, in aufrechter Haltung, sanken sie hinab. Die blendende Helligkeit der prallen Sonne verblasste durch die sich über ihnen auftürmenden Wassermassen, obschon der weiße Meeresgrund noch ihr Licht reflektierte. Das Tosen des Ozeans wich einer zur Langsamkeit auffordernden Stille. Am Grund angelangt, starteten sie ihre Wanderung nun in horizontaler Lage, schwerelos treibend, gemächlich. John schwamm meist vorneweg, um sie mit ruhigen deutlichen Handbewegungen auf besondere Fische und Korallen aufmerksam zu machen. Seinem gewissenhaften Blick schien kein Meeresbewohner zu entgehen. Sie erkannten Steinfische anhand von aus einer knubbelig grauen Oberfläche hervortretenden Augenpaaren. Ohne Johns geübten Blick hätten sie sie für ein paar Steine zwischen Korallen gehalten. Ferner führte er sie zu den höhlenartigen Behausungen einzelner Muränen. Da nachtaktiv, war von ihnen zu dieser Zeit meist nur ein Auge oder eine Schnauzenspitze zu sehen, zu ihrem Glück konnten sie einen kurzen Blick auf den senffarbenen Kopf eines großen Exemplars erhaschen. Klara faszinierten diese schlangenartigen Fische seit langem. Ihre Größe konnte man nur erahnen, da ihr Körper meist im Verborgenen blieb. Nur ein einziges Mal hatte sich ihr der vollständige Anblick einer mehr als armdicken, über zwei Meter langen Muräne geboten, die ihr Versteck in der Dämmerung verlassen hatte. Blitzschnell, in schlängelnden Bewegungen schwimmend hatte sie erneut Unterschlupf in einem anderen Felsspalt gesucht. Das nahezu lautlose Gleiten im dreidimensionalen Raum, gleich einem Vogel in der Luft, die vielfältigen Farben und bizarren Formen dieser fremden, vielfältigen Welt, Klara durchlebte erneute ihre Eindrücke, während sie versonnen von ihrem Liegestuhl unter den Palmen auf das strahlendblaue Meer blickte. Unvermittelt drehte sich Tobias auf seiner Liege auf den Rücken und rieb sich mit beiden Händen die Augen. In der schonungslosen Helligkeit der mauretanischen Sonne sah Klara, wie blass und müde er aussah. In seinem aschgrauen Haar traten die Geheimratsecken stärker als üblich zum Vorschein, dunkle Schatten lagen unter seinen Augen. Seine Haut schien fahl, das hervorstehende Kinn mit der charakteristischen Furche, wirkte scharfkantiger als üblich. Klara erschrak. Ich bin wohl eingeschlafen, murmelte Tobias, während er sich seine schwarze, rechteckige Hornbrille aufsetzte. Wie spät ist es jetzt? Gegen ein Uhr, entgegnete Klara. Gut, damit bei uns also gegen 10 Uhr, konstatierte er. Was hältst du davon, wenn wir in Port Louis heute gemeinsam zu Mittag essen? Danach könntest du einen kleinen Spaziergang durch die Stadt oder am Strand machen und ich gehe in das Internetcafe für ein bis zwei Stündchen? Klara war einverstanden. Hoffentlich würde es mit einer Stunde Internetcafe getan sein und sie könnten im Anschluss gemeinsam durch Port Louis schlendern. Die Anlage von Marie und John verfügte über keine ausreichend schnelle Internetverbindung zum Verschicken großer Datenmengen. Das hatte Klara vor ihrer Anreise in Erfahrung gebracht. Glücklicherweise war die Hauptstadt Port Louis mit wenigen Kilometern Entfernung per Taxi auf die Schnelle erreichbar und Tobias hatte sich unmittelbar nach ihrer Ankunft eines der von Klara recherchierten Internetcafes ausgesucht, das seine Belange für die Abstimmung mit den Kollegen bezüglich des Angebots abdeckte. Dort hatte er bereits mehrere Stunden die letzten beiden Tage zugebracht. Den restlichen Teil der ersten Woche würde es so weitergehen, mutmaßte sie. Obwohl sie sich eingestehen musste, trotz andersartiger Vorsätze, mit den gegen ihren Willen auferlegten Umständen zu hadern, bewunderte sie Tobias für seine Disziplin und Energie, mit der er die Aufgabe anging, freilich befeuert durch seine feste Entschlossenheit, die nächst höhere Karrierestufe schon bald zu erklimmen. Klara selbst hingegen hatte sich die letzten beiden Tage häufig außer Stande gesehen, klare Gedanken zu fassen. All die über die letzten Monate in ihr angesammelte Müdigkeit, sei es befördert durch die herrschende Hitze und Luftfeuchtigkeit, trat nun zu Tage. Andererseits stand sie in einem gänzlich anderen Verhältnis zu ihrer Berufstätigkeit als Tobias. Für sie war ihre Einkäuferinnentätigkeit in einem Großunternehmen trotz mancher Überstunden und ihrem anflugweisen Stolz über das von ihr verantwortete Einkaufsvolumen klar von ihrem Privatleben getrennt. Bei Tobias, fand sie, waren die Grenzen zwischen Beruflichem und Privatem immer mehr dabei zu verwischen. Neuerdings hatte sie ihn darauf anzusprechen gesucht, bedingt durch die für sie verstärkt wahrnehmbaren Auswirkungen auf ihr Zusammenleben. Sie empfand ihre Beziehung als zunehmend versachlicht und geschäftsmäßig. Auch bekam ihr immer weniger das wöchentliche Alleinsein. Sie verspürte eine sich steigernde Unruhe an den Tagen ihres Strohwitwendaseins, die sich erst kurz vor seiner Rückkehr wieder legte. Ihre bislang dahin gehenden Gesprächsversuche, so musste sie sich im Nachhinein eingestehen, waren allerdings von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen. Statt ruhig und gelassen ihre Wahrnehmungen darzulegen, um danach Tobias‘ Meinungen und Vorstellungen anzuhören, hatte sie ihn zu einer hitzige Diskussion getrieben. Dabei wusste sie doch aus ihrer nun rund dreizehnjährigen Beziehung, dass er diese Art der Auseinandersetzung nicht vertrug. Klara biss sich beim Gedanken an die zurückliegenden Streitigkeiten auf die Lippen und nahm sich vor, beim nächsten Gesprächsversuch klüger vorzugehen, als das Taxi vor dem Restaurant Keg and Marlin im Hafen von Port Louis hielt. Beim Betreten des Restaurants wurde das Paar von einem hochgewachsenen, dunkelhäutigen Kellner freundlich empfangen und sogleich auf die Veranda geführt. Hier herrschte Hochbetrieb. Sogleich schüttelte Klara ihre trübseligen Gedanken ab und musterte neugierig die Gäste. Es bot sich ihr eine ethnische Vielfalt, wie sie in Deutschland nicht anzutreffen war. Neben Englisch und Französisch meinte sie Hindi und Chinesisch zu hören, zumindest legten die farbprächtigen Saris der beiden Frauen am runden Nebentisch und die schlitzen Augen der vor ihnen sitzenden Herrengruppe in dunklen Anzügen diese Sprachen nahe. Tobias hatte sich schon in die ihm vom freundlichen Kellner gereichte Speisekarte vertieft. Kaum hatte sie selbst die Karte geöffnet, schlug er Speisen vor. Er scheint es wirklich sehr eilig mit dem Essen zu haben, dachte sie missbilligend. Danke, ich schaue mir die Karte selbst an, erwiderte sie kühl, ohne ihn dabei anzublicken. Such‘ du nur schon einmal einen Wein aus. Tobias wehrte ab. Wein käme für ihn zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht in Frage, schließlich wäre da die Hitze und die noch vor ihm liegende Arbeit. Klara rümpfte verdrießlich die Nase. Natürlich handelte Tobias seinerseits in gewohnt vernünftiger Weise, aber es widersprach ihrer Vorstellung von einem entspannten Mittagessen im Urlaub. Dann bestelle ich mir eben ein Glas, ließ sie es damit bewenden. Während des Essens nur schleppende Konversation. Nach der Bestellung hatte sie Tobias in betont heiterem Ton auf die verschiedenartigen Tischgesellschaften hingewiesen. Insbesondere ließ sie ihn von ihrer Faszination bezüglich der hinduistischen Frauen am Nebentisch wissen, ihre prächtig farbfrohen Gewänder, das reichliche Gold auf dunkler Haut hatten es ihr angetan. Tobias Blick war amüsiert über die Gäste gelitten. Wie ethnisch vielfältig die mauretanische Gesellschaft sei und wie ungewöhnlich viele gut aussehende Menschen es in diesem Land gebe, wäre ihm schon im Internetcafe aufgefallen. Kaum standen jedoch die Speisen vor ihnen auf dem Tisch, wandte er sich vorwiegend dem Essen zu und wurde einsilbig, den Kopf offenbar schon bei dem Angebot oder seinen Kollegen. Alsbald gab Klara ihre Gesprächsbemühungen auf. Besser sich an der kreolischen Hühnerbrust erfreuen, besser den Ausblick über den Hafen genießen, sagte sie sich. Es herrschte kaum Betrieb auf dem Wasser. Das Farbspiel aus türkisgrünem Wasser und einem Himmel von sattem Blau, geschmückt mit tief ziehenden Wolken wie aus Zuckerwatte, zog sie in seinen Bann. Schau doch wie schön, appellierte sie innerlich an ihr Gegenüber, ohne es auszusprechen. Beim Kaffee angelangt, war es nun Klara, die die Eile überkam. Der zähen Unterhaltung überdrüssig und begierig auf einen Stadtrundgang nach dem Mittagessen, bat sie Tobias ihr eine Textnachricht zu schreiben, sobald er wieder zur Verfügung stehen würde. Ein flüchtiger Abschiedskuss, dann teilten sich ihre Wege vor dem Restaurant. Klara wandelte die lebhafte Hafenpromenade entlang, vorbei an zahlreichen Malls, Restaurants und Cafés. Das bunte Völkergemisch, wie bereits im Keg and Marlin von ihr beobachtet, war allerorts zugegen. Sie verließ die schattenspendenden Arkaden der Promenade und wanderte stadteinwärts auf der Suche nach den Markthallen. Sie galten einen Besuch wert. Ohne schattenspendenden Schutz lastete mit einem Mal die ganze Hitze des Nachmittags auf ihr. Das zum Rossschwanz gebundene schulterlange Haar, das dünne Sommerkleid mit Spaghettiträgern halfen nicht. Schweiß rannte ihr den ganzen Körper entlang. Schon bereute sie ihren vorherigen Drang, unbedingt Wein zum Essen trinken zu müssen. Natürlich war ihr der Alkohol bereits zu Kopf gestiegen, natürlich machte er es ihr nunmehr schwerer, mit der tropischen Hitze klarzukommen. In den eisernen Markthallen, die sie durch ihre unmittelbare Nähe zum Hafen auf Anhieb fand, empfing sie nun noch mehr schleimige Hitze, Gedränge und Lärm. Klara rang nach Luft, kurzweilig überkam sie Schwindel. Sie suchte, einige Minuten abseits der Menge, still auszuharren und ruhig und tief die schwere, modrige Luft ein- und auszuatmen, bevor sie in den Menschenstrom eintauchte und sich von ihm treiben ließ. Aufgetürmtes Obst und Gemüse, bekannt und unbekannt, teils frisch, teils weniger, gerupfte Hühner, Gewürze, Reissäcke, Blumensamen, bunte Stoffe, billige Textilien, dunkle und helle Körper, Saris, Turbane, westlich Gekleidete, Marktgeschrei. Wären da nicht das im Magen liegende Mittagessen und die Hitze gewesen, hätte sie gerne einen der vielen, angebotenen Imbisse probiert. Was das Kulinarische betraf war Klara stets experimentierfreudig, sowohl auf ihren Reisen als auch zu Hause. Ob roher Fisch, Innereien, gegrillte Insekten, Hühnerbeine, Klara war willens nahezu alles, zu probieren. Kochen zählte für sie zu ihren Lieblingswochenendbeschäftigungen, gerade in der Winterzeit, wenn die Tage dunkel und kurz waren. Sie mochte es, bereits mittags in der Küche zu stehen, stets das Radio laut aufgedreht, Gemüse zu putzen und zu schnipseln, Fleisch lange zu schmoren und Soßen einzukochen. All das verschaffte ihr Entspannung. Ferner entdeckte sie hierbei eine Kreativität an sich selbst, an der es ihr sonst im Alltag mangelte. Tobias meinte nicht selten scherzhaft, eine wahre Köchin wäre an ihr verloren gegangen. Unbedingt musste sie diesen Markt, in den kommenden Tagen ohne vollem Bauch erneut aufsuchen. Die gefüllten Fladenbrote und Frühlingsrollen sahen sehr verlockend aus, auch von den Currys würde sie unbedingt kosten müssen. Bestimmt würde auch Tobias daran Gefallen finden. Wenngleich ihn manchmal der Mut beim Probieren verließ, mochte er die kreolische und asiatische Küche. Als sie aus den Markthallen heraustrat, erschien ihr die Luft geradezu frisch. Sie prüfte ihr Handy. Es war mittlerweile gegen vier Uhr nachmittags, eine Nachricht von Tobias fehlte bisweilen. Zum Zeitvertreib setzte Klara ihren Rundgang fort. Sie entdeckte einige Kolonialbauten, teils herausgeputzt, teils verfallen sowie das Durcheinander der vielen modernen Hochhäuser aus Beton. Mangels weiterer Attraktionen fasste sie jedoch schon bald den Entschluss, zum Hafen zurückzukehren. Dort wollte sie in einem der Cafes auf ein Zeichen von Tobias warten. Schließlich, gegen sechs Uhr, die Sonne stand schon tief am Himmel und tauchte die Hafenpromenade in mildes Himbeerlicht, Klara saß bereits vor ihrem zweiten Joghurtgetränk, erreichte sie seine Mitteilung. Mit Erleichterung las sie seine Nachricht, in der er zu einem gemeinsamen Drink anregte, hatte sie doch zwischenzeitlich mit dem Gedanken gekämpft, alleine ins Ressort zurückzukehren. Lediglich die Hoffnung auf einen gemeinsamen Abendausklang in Port Louis, wenngleich stetig schwindend, hatte sie von der sich immer weiter aufdrängenden Idee abgehalten.

Die nächsten Tage folgten einem vergleichbaren Rhythmus. Frühmorgens unternahmen sie mit John Tauchgänge in den unterschiedlichen Arealen um das Kap herum. Dann eine gemeinsame Ruhephase im Schatten der Palmen, schließlich Tobias‘ Aufbruch nach Port Louis, um seinen Verpflichtungen nachzugehen. Klara zog es nun vor, die Nachmittage auf der Anlage zu verbringen und sich in den Abendstunden mit ihm vornehmlich in der Grand Baie, der größten Bucht zwischen dem Kap und Port Louis zu treffen. Ihrem Vorsatz folgend, hatte Klara nochmals mit Tobias die Markthallen aufgesucht und diverse Snacks gekostet. Damit erschöpfte sich jedoch ihr Interesse an der Hauptstadt, zumal diese nach Ladenschluss einem Hühnerdorf glich. Dagegen pulsierte das Leben in dem ehemaligen Fischerort an der langen, tief ins Land hineinreichenden Grand Baie in unzähligen Restaurants, Cafes, Bars und Diskotheken auch nach Einbruch der Dunkelheit. Ganz Nordmauritius schien sich hier zu versammeln. Klara und Tobias verabredeten sich stets an der Bucht zum gemeinsamen Spaziergang für den späten Nachmittag. am Strand herrschte um diese Zeit geradezu Volksfeststimmung. Neben Touristen tummelten sich die Einheimischen in großen Scharen zum Tagesausklang. Mauritianische Frauen wateten knietief durch das türkisblaue, ruhige Meer, vollständig bekleidet, sei es im Sari oder in T-Shirt und Shorts, im Plausch vertieft. Kleine Mädchen und Jungen jeglichen Couleurs rannten und plantschten kreischend und lachend, um sie herum, teils in Straßenbekleidung, teils in Badesachen. Die Männer hingegen standen meist abseits am Strandufer in Gruppen, sprachen wenig, rauchten viel und musterten vor allem die ausländischen, weiblichen Badegäste. Klara und Tobias hatten es sich zur Gewohnheit gemacht, gemächlich am Strandufer auf und ab zu schlendern und das Menschenspektakel zu beobachten. Dann, wenn die Sonne als große, glutrote Scheibe dicht über dem Horizont hing, suchten sie sich ein Plätzchen im Sand und verabschiedeten, jedes Mal aufs Neue ergriffen, mit dem Sonnenuntergang einen weiteren Urlaubstag. In diesen Momenten, fiel es Klara auf einmal leicht, ganz im Augenblick zu verweilen. Frei von im Kopf tobenden Gedanken, Erinnerungen und Plänen wurde sie allem um sich herum gewahr. Dann, als das letzte Glühen des Himmelkörpers dem Dunkelblau der Nacht gewichen war, erhoben sie sich schweigend, um im Ortskern nach einem Restaurant zum Abendessen Ausschau zu halten.

Mittlerweile war es Freitag geworden. Klara war früher als an den Vortagen zu ihrer Verabredung mit Tobias in der Bucht eingetroffen. Nach nahezu einwöchigem Aufenthalt in der Anlage von Marie und John hatte sie sich allmählich dort zu langweilen begonnen und freute sich auf den Trubel am Strand von Grand Baie. Es war eben, ging es ihr durch den Sinn, während sie sich im sonnenbeschienenen Sand am vereinbarten Treffpunkt niederließ, eine einfache Taucherunterkunft, die wenige Annehmlichkeiten bot. Sie hatte sie ganz gezielt wegen der Tauchschule auserkoren und in der Tat hatten sich die Tauchausflüge tagtäglich als Höhepunkt bewahrheitet. Zum Zeitpunkt ihrer Wahl hatte sie schließlich nicht ahnen können, die Nachmittage dort weitestgehend alleine verbringen zu müssen. Schlafen und Lesen waren zum bestimmenden Zeitvertreib an jenen Nachmittagen geworden. Vielleicht hatten diese Umstände auch etwas Gutes gehabt. Die Abwesenheit von Tobias hatte sie geradezu zur Untätigkeit gezwungen, einem Zustand, der ihr sonst nicht besonders lag. Der Möglichkeit, sich in irgendwelche Unternehmungen zu stürzen, beraubt, hatte sie sich an die tropische Hitze ohne wesentliche körperliche Anstrengungen gewöhnt. Eine Erkundung der Insel auf eigene Faust war von vornherein für sie nicht in Frage gekommen. Somit hatte sie endlich ihrem enormen Schlafbedürfnis statt gegeben. Das Verlangen ihres Körpers nach Schlaf war wie auf leisen Sohlen gekommen. Anfänglich hatte ihr noch ein Mittagsstündchen Ruhe genügt, doch mit den Tagen waren ihre Ruhephasen immer länger geworden, als ob ihr Körper ahnte, eine derartige Gelegenheit würde nicht allzu bald wiederkehren. Nur ein einziges Mal hatte sie sich daran gemacht, den felsigen Strandabschnitt vor Maries und Johns Anlage schnorchelnd zu erkunden. Obgleich sich hier eine Vielzahl bunter Fische um die Felsen tummelte, bot sich in dieser kleinen Welt nichts Neuartiges gegenüber ihren morgendlichen Tauchgängen. Zudem fühlte sich Klara alleine im Wasser immer etwas unwohl, Gedanken an unerwartete Strömungen und giftige Meeresbewohner im Kopf. Die übrigen Tauchgäste, meist wie sie selbst zwischen dreißig und vierzig, schienen nach ein- bis zwei täglichen Tauchfahrten kein Verlangen nach weiteren Erkundungen zu haben. Vielmehr verbrachten sie, weitläufig im Garten verstreut, den restlichen Tag schläfrig auf ihren Liegestühlen. Palmen, Akazien, Unbekanntes spendeten in weiten Teilen des Gartens Schatten. Die klebrige Hitze mahnte zur Langsamkeit. Dann und wann ein spärlicher Windzug vom Meer. Im Ressort gab es nur Paare als Gast. Einige von ihnen tauschten auffällig viele Zärtlichkeiten aus, beobachtete Klara. Womöglich handelte es sich dabei um Frischvermählte in ihren Flitterwochen, mutmaßte sie. Unvermittelt, als sie nun in der Grand Baie im Sand sitzend sich von der Sonne bescheinen ließ und das bunte Menschentreiben beobachtete, kam ihr das kürzlich angereiste Paar aus Frankreich in den Sinn. Sie eine Bilderbuchfranzösin, von kleiner schlanker Statur, mit schwarzem Pagenkopf und dunklen, ausdrucksvollen Brauen, er ein großer, breiter Kerl, mit wildem blonden Schopf und dem lässigen Blick eines Lebemanns. Fortwährend kokettierten sie miteinander. Augenscheinlich galten ihre Gesten nur ihm, ihr graziöser Augenaufschlag, ihr unablässiges kindliches Kichern, die demonstrative Zurschaustellung ihrer weiblichen Reize in grellfarbigen Bikinis. Er ließ sie nicht aus den Augen, nutzte jede Gelegenheit während ihrer Schäkereien, um ihren zarten Körper zu umfassen und mal behutsam, mal wild an sich zu drücken. Das ausgelassene Lachen der beiden durchbrach immer wieder die träge Ruhe der Nachmittage. Tobias und sie waren nie so solche Turteltäubchen gewesen, selbst zu Beginn ihrer Verliebtheit nicht, ging es Klara durch den Sinn. Überhaupt hatte Klara in keiner ihrer Beziehungen, jemals eine gleichsam wilde und offene Leidenschaft erlebt, wie sie das französische Paar zu erleben schien. Obgleich sie sich sagte, sie und Tobias wären eben ganz andere Charaktere als diese beiden Franzosen, wohl weniger sinnlich, mehr rational, obgleich sie sich sagte, in der Phase ihres Verliebtseins viel zu jung gewesen zu sein, um ein ähnliches Feuer wie die beiden Franzosen entfachen zu können, führten ihr diese Verliebten abermals vor Augen, wie wenig inspirierend ihrer beider Beziehung mittlerweile geworden war. Es war nicht allein diese zunehmende Versachlichung im täglichen Umgang miteinander. Auch ihre Körper sehnten sich kaum noch nacheinander. Selbst während dieser freien Tage, hatten sie die Vereinigung nur selten gesucht. Der jeweilige Akt, erschien ihr im Nachhinein, lakonisch, liebesmüde. Klara seufzte. Was konnte man nur für diese Gewöhnung des Alltags. Vielleicht versprachen zumindest die nächsten Urlaubstage Besserung. Schließlich sollte Tobias heute endlich die Angebotserstellung abgeschlossen haben, dann würde er möglichweise seinen Kopf frei bekommen und zugänglicher sein. Auch würden sie morgen in ein luxuriöseres Ressort in den Süden von Mauritius für die verbleibenden zwei Wochen ziehen. Dort gab es ein reichlicheres Angebot an Freizeitaktivitäten, dem sie gemeinsam nachgehen konnten. Die Vorstellung, sich mit Tobias ein Segelboot zu leihen und durch die Lagune zu segeln, brachte sie zum Lächeln. Ja, Segeln, obschon es in Hamburg dazu ausreichend Möglichkeiten gab, hatten sie es im vorherigen Sommer kein einziges Mal geschafft, zu kurz waren immer die Wochenenden gewesen. Plötzlich ragte in einiger Entfernung am Sandstrand eine scheinbar vertraute Silhouette sonnenumrahmt vor ihr auf. Von den dort umherstehenden Männern sich lösend, wurde sie immer deutlicher. Mit Wohlwollen erkannte sie Tobias. Zügigen Schrittes bahnte er sich seinen Weg durch die Menschenmengen, dort, wo das ruhige Wasser der Bucht auf den weißen Sandstrand traf und ihn gleich einer Straße geebnet hatte. Mit lindgrünem T-Shirt und bunten Shorts bekleidet, Flipflops und Notebooktasche in den Händen gab er ein ungewöhnliches Bild ab. Neugierige Blicke begleiteten seinen Gang. Klara machte durch energisches Winken auf sich aufmerksam. Trotz der langen Nachmittage im Internetcafe hatte er Farbe bekommen. Doch nun hatte sich zu den Vortagen auch sein Gesichtsausdruck verändert. Entspannt wirkten seine Gesichtszüge als er herantrat. Das unruhige Flackern, das ihm stets in den Augen gestanden hatte, wenn für ihn der Aufbruch nach Port Louis bevorstand, war verschwunden. Hallo! Bist du schon lange hier? begrüßte er sie freudig und machte es sich neben ihr im Sand bequem. Schon eine Weile, entgegnete Klara und schickte sich sogleich an zu erfragen, wie es denn so gelaufen wäre. Die Antwort vermochte sie aufgrund seines Gesichtsausdrucks zu erahnen. Super, grinste er mit Genugtuung, wir haben heute Mittag alles eingereicht, mit allen geforderten Ergänzungen. Ich bin zuversichtlich, wir werden den Auftrag bekommen. Toll, entgegnete Klara, weniger wegen der Erfolgsaussichten für Tobias und die beteiligten Kollegen, als aus Vorfreude auf die lang ersehnten ruhigen Urlaubstage. Sie freute sich auf gemütliches Frühstücken, stundenlanges Schnorcheln in der flachen Lagune, weitläufige Spaziergänge am Strand, die Erkundung des unweit der neuen Unterkunft gelegenen Nationalparks, alles ohne Zeitdruck, ohne Internetcafetermine. Tobias erläuterte indessen die besonderen Herausforderungen, die dieser Auftrag, wenn sie ihn denn nun bekommen würden, wovon auszugehen wäre, an ihn und sein Team stellen würde. Klara blickte gleichgültig auf das ihr zu blinzelnde Meer. Sag mal, was ist das nun für ein Hotel, in das wir umziehen?, wechselte er unvermittelt das Thema. Ich kann mich nicht mehr so recht daran erinnern. Und hast du schon irgendwelche konkreten Pläne für die Zeit vor Ort? Mehrfach hatten Klara und Tobias an den zurückliegenden Wochenenden über den Urlaub gesprochen, Klara hatte die letztendlich ausgewählten Unterkünfte beschrieben, mögliche Freizeitaktivitäten angeführt, doch scheinbar hatte Tobias wieder einmal nicht richtig zugehört. Morgen früh bringt uns ein Shuttleservice in den äußersten Südwesten. Dort gibt es eine Halbinsel mit einem knapp fünfhundert Meter hohen Felsen und einem durchgängigen breiten Strand, der wegen seines weiten und flachen Riffs besonders gut zum Schnorcheln geeignet ist. Unsere Hotelanlage liegt genau an diesem Strand, wir wohnen dort in einem Gartenbungalow. Das Hotel verfügt über verschiedene Restaurants, eines davon ist direkt am Strand gelegen, zudem gibt es dort allerlei Freizeitangebote, hörte sie sich gleich einem Reiseführer Auskunft erteilen. Dann fuhr sie fort mögliche Ausflugsziele in der näheren Umgebung anzuführen und sogleich ihre eigenen Präferenzen kundzutun. Tobias schlang gemächlich einen Arm um sie und folgte ihren Schilderungen, die sich auf Wissen aus Reiseführern, Internetforen und Tipps von Marie und John stützten. Die Wanderung im Nationalpark möchte ich in jedem Fall machen, meinte sie schließlich, nachdem Tobias zwar weitergehende Fragen gestellt, aber bislang kein offenkundiges Interesse für eines der Ausflugsziele geäußert hatte. Machen wir, antwortete er gutmütig und zog sie enger an sich. Inzwischen war die Sonne dicht an den Horizont gesunken. In enger Umarmung beobachteten sie, wie mit dem Sinken der Sonne unter den Horizont das dunkle Abendrot immer schwächer wurde und mit ihm der Tag allmählich verblasste.

Eine Herzenssache

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