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Eines Nachmittages, Klara lag wartend auf Tobias im Bett und entdeckte das erste zarte Grün an der Baumkrone vor ihrem Fenster, trat der freundliche Doktor mit dem rundlichen Gesicht und der Nickelbrille gemeinsam mit ihrer Mutter an ihr Bett. Ihre Mutter, wenngleich sie es durch ein Lächeln zu verbergen versuchte, wirkte angespannt. Der Arzt rückte seine Brille zurecht und verfiel, wie so häufig, in irgendwelche Witzeleien. Klara mochte ihn. Er war ihr, schon bei der Ankündigung des Tauchgangs sympathisch gewesen, obschon sie mittlerweile wusste, dass es sich bei dem Ereignis um eine Mischung aus Wirklichkeit und Halluzination gehandelt hatte, die elfenartige Schwester Kristin, die sonderbaren Zimmernachbarn waren ihr nie wieder begegnet. Nun Klara, Mädchen, meinte der Arzt nach anfänglichen Späßen. Sie zu Duzen, hatte er sich ohne jemals zu fragen, zu Eigen gemacht, war sie mit Anfang dreißig doch eine der jungen Patienten der Herzintensivstation und hätte seine Tochter sein können. Wir wollen morgen mit dir noch einmal in den OP, um das Wasser um dein Herz herum zu entfernen und um einmal zu gucken, was dein Herz so macht. Es wird nicht lange dauern, fügte er hinzu und wollte wissen, ob sie Fragen hätte. Nach kurzem Überlegen schrieb Klara in nunmehr gut leserlicher Schrift auf ihren Block, die Frage, ob möglicherweise, das Kunstherz morgen entfernt werden könnte. Er grinste beim Lesen bübisch, kritzelte etwas auf den Block, überreichte ihn ihr und schritt eilig von dannen. Erst als er schon das Zimmer verlassen hatte, konnten ihre Mutter und sie seine nahezu unleserliche Handschrift entschlüsseln, die besagte „Schauen wir Mal“. Rückblickend würde sich Klara wiederum über ihre Gefasstheit am Operationstag wundern. Für immer eingebrannt in ihr Gedächtnis würde ihr die empathische Narkoseärztin kurz vor dem Eingriff bleiben. Beruhigend hatte sie auf Klara eingeredet, sanft ihr über den Kopf gestrichen, bevor sie in einen traumlosen Schlaf hinübergeglitten war. Dann der Augenblick des wieder zu sich Kommens: wieder der weißhaarige Doktor nebst einem der ihr schon bekannten Assistenzärzte, ein weißer Gasluftballon mit lachendem Strichmännchengesicht über einem Pfosten am Bettende schwebend. Freundlich nickte das rosige, rundliche Gesicht des Oberarztes ihr zu. Du hast es überstanden, dein Herz schlägt wieder. Wir haben das Kunstherz somit heute ausgebaut. Zum ersten Mal seit den unzähligen Tagen im Krankenhaus, die sie in einer Mischung aus eigenartiger Gefasstheit und Apathie verbracht hatte, überkam Klara ein tiefes Gefühl des Glückes und der Erleichterung, als hätte sie soeben erst begriffen, wie nah sie am Scheideweg zwischen Leben und Tod gewesen war. Die in ihr zurückgekehrte Lebendigkeit ließ jedoch in den nächsten Tagen auch Gefühle der Ohnmacht und der Verzweiflung in ihr aufsteigen. Hatte sie zuvor jede erforderliche Behandlung durch Ärzte und Pflegepersonal still, gar empfindungslos über sich ergehen lassen, als wäre sie ein Objekt, nicht ein lebendiges Wesen, ergriff sie nun die Scham, wenn sie in ihrer Bettlägerigkeit, ihre Notdurft in der Bettpfanne verrichten musste. Ausweglosigkeit und Verlorenheit überkamen sie, wenn sie in den Rollstuhl für Stunden neben ihr Bett gesetzt wurde, um das aufrechte Sitzen und Atmen ohne künstliche Beatmung zu üben. Tobias hatte vorerst unbezahlten Urlaub genommen. Was dies für seine Berufung zum Partner bedeutete, die er noch während ihres Mauritius Urlaubs als unmittelbar bevorstehenden nächsten Schritt gesehen hatte, darüber schwieg er sich aus. An eine Ausübung seines stressigen Berufs war vorübergehend nicht zu denken, hatte er ihr von sich aus gestanden. Zu sehr erschüttert war er durch Klaras plötzliche Erkrankung. Gräulich sein Gesicht, die Augenringe waren so tief wie einst vor ihrem Urlaub. Klaras Mutter hatte kurzerhand ihre Sachen gepackt und war vorerst in das Gästezimmer in Klaras und Tobias Wohnung gezogen. Sie wollte so nah wie möglich, bei ihrem einzigen Kind sein, stets im Bilde über den Gesundheitszustand ihrer Tochter. Klara, die ihre Mutter als resolut und zupackend kannte, fragte sich ab und an, wie denn sie und Tobias gemeinsam dort in der Wohnung klarkämen und ob sich nicht Tobias überfahren fühlte von der Dauerpräsenz ihrer Mutter, schließlich war er es nicht gewohnt, mit seinen Schwiegereltern mehr als ein paar Tage Zeit zu verbringen. Jedenfalls ließen sich die beiden bei ihren Besuchen nichts vor ihr von irgendwelchen Meinungsdifferenzen oder Spannungen anmerken. Obschon Klara von Kindesbeinen eine innigere Beziehung zu ihrem Vater gehabt hatte, während das Verhältnis zu ihrer Mutter nicht problemlos gewesen war, war sie nun sehr dankbar über ihre Anwesenheit. Ihr Vater kam nach verrichteter Arbeitswoche lediglich an den Wochenenden nach Hamburg. Er war ein ruhiger, in sich gekehrter Mann, nicht ohne Autorität, die er als Berufsschullehrer einzusetzen verstand. In Klaras augenblicklichen Zustand war er nicht in der Lage, Gefühle zu äußern oder gar Entscheidungen zu treffen. Starr lächelnd, stand er groß und hager vor ihrem Bett und streichelte meist wortlos ihre Hand. Ihre Mutter hingegen glich einer Löwin, die um ihr Junges kämpft. Über die Wochen hatte sie gute Kontakte zu allen behandelnden Ärzten und Pflegern etabliert, sei es mittels Interesse an der Person, sei es über kleine Aufmerksamkeiten, wie selbstgebackenen Kuchen, mitgebrachten Frühstücksaufschnitt oder Obst. Sie leistete Klara nicht nur täglich an den Nachmittagen im Wechsel mit Tobias Gesellschaft, sondern mischte sich auch unter das Personal der Intensivstation. Somit wusste die Mutter Einiges aus dem Privatleben der Pfleger und Ärzte zu berichten. Während sie ihr das Bettzeug aufschüttelte, ihr beim Ändern der Liegeposition half oder ihr die durch die Klimaanlage unter Trockenheit leidenden Arme und Beine eincremte, ließ sie Klara die letzten Neuigkeiten wissen. Dann wiederum Geschichten von den Nachbarn aus der Heimat, fernmündlich über Klaras Vater war ihre Mutter stets im Bilde. Über die Wochen, in denen Klara zunächst vollständig, dann nur des Nachts künstlich beatmet wurde und ihr die dafür angebrachte Apparatur unterhalb des Kehlkopfs das Sprechen versagte, hatte sich ihre Mutter angewöhnt, in einer Art zu erzählen, als ob die beiden in einem Zwiegespräch standen. Sie warf in ihren Erzählungen Klara Fragen zu, auf die sie sogleich selbst eine Antwort gab. Klara dürstete es nach den Besuchen an den Nachmittagen. Außer ihrer Mutter und Tobias kamen fortan vermehrt Freunde. Wenn auch nicht in Gruppen, sondern einzeln, galt täglicher Besuch bereits als Ausnahme von den strengen Besuchsregeln auf der Herzintensivstation. Ihrer wochenlangen Liegezeit wegen war man gewillt ein Auge zuzudrücken. Tobias hatte ihr einen kleinen kabellosen Fernseher zum Zeitvertreib außerhalb der Besuchszeiten besorgt, da die Patientenzimmer der Intensivstation nicht über Fernsehgeräte verfügten. An den sich schier endlos ziehenden Vormittagen gab es allerdings Nichts Sehenswertes und somit war Fernsehen kein Mittel gegen Langeweile und Trübsal. Die Stunden ab dem zeitigen Frühstück flossen bis zur Besuchszeit dahin wie ein träges Gewässer. Klara verbrachte sie nunmehr stets im Rollstuhl mit Blick auf die allmählich immer grüner werdende Kastanie vor ihrem Fenster, zuweilen in ein Buch vertieft, meist in Gedanken. Das aufrechte, stundenlange Sitzen im Sessel war beschwerlich, ihre Muskulatur war nach dem wochenlangen Liegen noch sehr schwach, anstrengend auch das selbstständige Atmen. Unermüdliches Üben war notwendig, sprach sie sich selbst gut zu. Nur, wenn ihre Atemmuskulatur stark genug sein würde, könnte die Kanüle, die sie bislang für die nächtliche Beatmung benötigte, gezogen werden. Nur wenn die Kanüle gezogen und das Löchlein oberhalb ihres Kehlkopfs zugewachsen sein würde, würde sie endlich wieder sprechen können. Endlich wieder ohne Block und Stift kommunizieren, Klara fieberte diesem Tag entgegen. Wenn allerdings der Abend kam und die Nacht vor ihr lag, empfand sie die Vorstellung, wieder an die Beatmungsmaschine angeschlossen zu werden, als äußerst beruhigend. Ihr Brustkorb hob und senkte sich dann ganz gleichmäßig, mühelos. Ein leises Rauschen umgab sie. Die aufkommenden Ängste, ohne künstliche Beatmung qualvoll des Nachts zu Ersticken blieben aus, auch die wüsten Hustenanfälle, die sie jedes Mal bekam, wenn sie frei atmend einschlafen sollte. Es hilft nichts, du musst diese Hürde nehmen, mein Kind, verkündete ihr der weißhaarige Arzt eines Tages. Durch das Monitoring in unserer Schaltzentrale ist ein unbemerktes Ersticken deinerseits völlig ausgeschlossen, versicherte er. Wir sehen dort alles auf unseren Bildschirmen, wiederholte er immer wieder. Und wenn es ohne Beatmungsgerät klappt, dann kann auch endlich die Kanüle raus und du wirst wieder sprechen können, fügte er anspornend hinzu. Schließlich half Klara das Anlegen einer Sauerstoffmaske vor dem zu Bett gehen über ihre Erstickungsängste hinweg. Diese blies konstant reinen Sauerstoff sanft in ihre Nase. Damit schaffte sie es ohne Panikattacken ruhig weiter ein- und wieder auszuatmen und schließlich in den Schlaf zu finden. Keine Taucherausrüstung, keine künstliche Beatmung, dachte sie scherzhaft gequält.

Von den ihrem morgendlichen Sitzplatz aus beobachtete Klara nunmehr täglich den fortschreitenden Austrieb der Kastanie. Die späten Apriltage waren ungewöhnlich warm, Mutter und Tobias besuchten sie bereits seit mehreren Tagen in kurzärmligen Oberteilen. In Klara wuchs das Verlangen nach dem Duft des Frühlings und dem Trällern der Vögel, niemals offene Fenster und die Klimaanlage ließen keinerlei Eindrücke zu. Sie versuchte sich Erinnerungen aus dem letzten Frühling ins Gedächtnis zu rufen. Das kräftige Vogelzwitschern, wenn sie frühmorgens die Wohnung in Richtung Arbeit verlassen hatte. Die Amseln allerorts auf den Rasenflächen wie sie hochaufgerichtet Ausschau nach Regenwürmern hielten oder sich laut zeternd gegenseitig das Revier streitig machten, üppige Krokusrabatte auf den Straßeninseln, später zitronengelb leuchtend die Narzissen, der erste dampfende Kaffee im Freien in der noch kaum wärmespendenden Frühlingssonne, die verschwenderische, zartrosa Blüte der Blutpflaumen in den Hamburger Parkanlagen an ihren Wochenendstreifzügen. Ferner erfasste sie zunehmend die Sehnsucht nach dem Meer. In der Nähe der dänischen Grenze an der Schlei, einem tief ins Land eindringenden Meeresarm der Ostsee, aufgewachsen, war das Meer in ihren Jugendjahren immer gegenwärtig gewesen. Erst zum Studium hatte es sie in die Stadt gezogen. Gedanken an gemeinsame Segeltörns mit ihrem Vater in der Förde in Frühlings- und Sommermonaten, Erinnerungen an Spaziergänge an der offenen Ostsee im Hochsommer, wenn das Meer einem glatten Spiegel glich, im Herbst und Winter, wenn sein Tosen alles einnahm und der peitschende Wind Salz auf den Lippen hinterließ. Zuweilen drängte sich zwischen diese schönen Erinnerungen Finsteres. Die Frage nach dem Warum begann an ihr zu nagen, nun wo sie wieder in der Lage war, klare Gedanken zu fassen. Warum diese plötzliche Erkrankung ihres Herzens? Warum gerade bei ihr, die doch weder besonders ungesund gelebt, noch jemals Herzbeschwerden gehabt hatte? Ja, warum überhaupt ausgerechnet sie mit ihren zweiunddreißig Jahren? Es gibt darauf keine Antwort. Immer wieder suchte sie sich dies selbst zu erklären, immer wieder suchte sie sich die Aussagen der behandelnden Ärzte ins Gedächtnis zu rufen. Eine Erkrankung des Herzmuskels, wie sie sie erlitten hatte, konnte von Viren oder Bakterien ausgelöst werden, die jedoch im Nachhinein kaum mehr nachweisbar waren, hatte ihr allen voran der weißhaarige Oberarzt erklärt. Ein verschleppter grippaler Infekt mochte der Auslöser für ihre Erkrankung gewesen sein, eindeutig belegen würde man dies jedoch letztendlich nie können. In ihrem Falle war die Herzmuskelentzündung in einer besonders schwerwiegenden Form verlaufen, da sie über geraume Zeit unerkannt geblieben war. Soweit ihr Pech. Tatsächlich konnte sie sich aber sehr glücklich schätzen, noch am Leben zu sein. Die Überlebensquote in ihrem Fall, wo das Herz unter Reanimationsbedingungen mit Hilfe der eingebauten Apparatur hatte entlastet werden müssen, war extrem niedrig. Du lebst, du hast ein neues Leben geschenkt bekommen, sagte sich Klara in jenen Momenten der Verlorenheit, in ihrem Rollstuhl am Fenster des Krankenzimmers, reglos, den Blick aus dem Fenster gerichtet, außerstande durch die lautlos fließenden Tränen etwas zu sehen.

Guten Morgen Klara, riss sie eines Morgens die frische Stimme von Judith aus ihren Grübeleien. Klara kehrte ihren Blick vom Fenster ab und versuchte ein Lächeln und hob matt zum Gruß eine Hand. Judith musterte sie einen momentlang still, dann strich sie ihr sanft über den Kopf, als wolle sie damit Klaras Traurigkeit wegwischen. Ich habe eine Überraschung für dich, fuhr sie fort. Ich habe heute Anweisung von ganz oben bekommen, mir besonders viel Zeit für dich zunehmen. Sie reckte einen Zeigefinger in Richtung Decke und lächelte aufmunternd. Es war wohl nicht der liebe Gott gemeint, sondern der weißhaarige Stationsarzt, dachte Klara und trocknete sich die Augen. Ich packe dich heute in einen Rollstuhl und wir machen eine Spazierrundfahrt übers Klinikgelände. Dann kannst du endlich mal Frühlingsluft schnuppern. Bei der Cafeteria gibt es eine schöne Wiese, wo wir Gehen üben können.. Das ist doch eine Abwechslung zum Krankenhausflur, meinst du nicht? Klara nickte, ihre Gesichtszüge entspannten sich. Fortan wartete sie ungeduldig in ihrem Sessel bis Judith noch zuvor anstehende Aufgaben verrichtet hatte. Schließlich kehrte diese mit einem Rollstuhl sowie mehreren Decken zurück. In mühsam kleinen Schritten zog Klara mit Judiths Hilfe einige wärmende Kleidungsstücke über ihren Pyjama, weiterhin fehlte ihr die Kraft in Armen und Beinen, um dies alleine zu bewerkstelligen. Eingewickelt in dicken Decken verließ sie samt Rollstuhl endlich die Station. Nach der Fahrt mit dem Aufzug vier Stockwerke abwärts, ging es in flottem Tempo schier endlos lange, weiße Flure mit grauem Linoleumboden entlang. Judith schien wirklich stark zu sein, so zügig wie sie den Rollstuhl durch die Gänge manövrierte, wahrscheinlich musste man das wohl auch sein als Physiotherapeut im Krankenhaus. Beim Austritt ins Freie zunächst grauer Asphalt und Ausblick auf angrenzende Klinikgebäude, modern und funktional. Klara war seit ihrem Zuzug nach Hamburg vor mehr denn einem Jahrzehnt nur ein einziges Mal auf dem Universitätsklinikgelände zu Besuch einer Freundin gewesen. Damals hatte sie Schwierigkeiten gehabt, auf Anhieb die richtige Station unter den unzähligen Gebäuden zu finden. Ich habe diesen Seitenausgang gewählt, damit wir zunächst eine kleine Runde drehen können, bevor wir die Wiese zum Üben aufsuchen, hörte Klara Judith von hinten schnaufend erklären, ohne die rasche Fahrt zu reduzieren. Ist dir denn warm genug? Klara nickte. Ausgiebig betrachtete sie die an ihr vorbeiziehende Umgebung. So viele Menschen hatte sie seit geraumer Zeit nicht mehr gesehen. Klinikpersonal, in Weiß, in Blau, darunter viele sehr junge Gesichter, vielleicht Auszubildende oder Studenten der ersten Semester. Menschen mit Taschen und Tüten bepackt, womöglich mit irgendwelchen Habseligkeiten für einen Klinikinsassen. Patienten, mit Verbänden, auf Krücken oder im Rollstuhl. Krankentransporte, mit dem Ein- und Ausladen von Patienten beschäftigt, reges Ein- und Ausgehen am Supermarkt, viel Trubel vor dem Bäckerladen und erst recht vor der Cafeteria. Das Klinikgelände glich einer kleinen Stadt mitten in Hamburg. Möchtest du denn eine Tasse Kaffee?, fragte Judith als sie an der Cafeteria vor dem Klinikhaupteingang angekommen waren. Die Menschen standen und saßen hier teils mit dampfenden Tassen, teils rauchend in der mittäglichen Frühlingssonne. Klaras Wangen wurden warm, sie schob die Decken von ihren Beinen. Kaffee, dachte sie, tatsächlich hatte sie während ihres bisherigen Klinikaufenthalts keine einzige Tasse angerührt. In Fällen von Krankheit und Erkältung verspürte sie sonderlicher Weise nie Lust auf dieses Getränk, es widerte sie geradezu an, wo sie sonst regelrecht süchtig danach war. Sie entsann sich seines Geschmacks, mit einem Mal wirkte er nicht mehr abstoßend auf sie. Langsam nickte sie Judith zu. Kurz darauf drückte ihr diese einen warmen Pappbecher in die Hand. Schwarz und ungesüßt schmeckte der Kaffee unvermutet gut. Vielleicht würde doch wieder alles wie früher werden, ging es Klara durch den Sinn, während sie bedächtig einen Schluck nach dem anderen nahm und sich an den Sonnenstrahlen erfreute.

Fortan wurde die Cafeteria mit anschließenden Gehübungen auf dem Rasen zum täglichen Ausflugsziel von Klara und Tobias. Ein lebelang hatte Klara sich gerne bewegt, gerne Sport getrieben. Joggen und Yoga gehörten zu ihrer wöchentlichen Routine. Immer wieder war sie nun erstaunt darüber, wieviel Mühe ihr lediglich aufrechtes Gehen bereitete. Das war schon einmal der Vorgeschmack dafür, wie man sich mit ungefähr achtzig oder neunzig fühlen musste, mutmaßte sie sich des Öfteren nicht ohne Galgenhumor, wenn sie wieder einmal langsam ein Bein vor das andere setzte, steif im ganzen Oberkörper, ohne Spur von Leichtigkeit. Wo war ihr fließender Gang von einst geblieben? Seit wenigen Tagen hatten Judith und sie mit dem Treppensteigen begonnen. Fünf Stufen versetzten Klara regelrecht in Panik. Zwei vermochte sie mittlerweile alleine zu nehmen. Bei den verbleibenden hob Judith geduldig das jeweilige Bein an, so dass es Klara auf die nächsthöhere Stufe setzen konnte, dann unterstützte sie Klara dabei, ihren schlaffen Körper mit Hilfe des Treppengeländes nachzuziehen. Wie konnte nur der eigene Körper so eine Last sein? Hoffentlich würde bald der Augenblick kommen, ab dem das Treppensteigen plötzlich wieder ganz von alleine ging. Es würde diesen Augenblick geben, Judith hatte es ihr versichert. Bis dahin galt es stetig weiter zu trainieren. Mittlerweile übte Klara täglich auch alleine. Zusätzlich zu Judiths und Tobias Unterstützung, wanderte sie eine oder zwei Runden am Stück langsam über den Stationsflur, anfänglich mit Rollator, um im Falle mangelnder Kraft Halt zu finden, dann freihändig. Die Schwestern und Pfleger, nickten ihr freundlich zu oder richteten ein paar Worte an sie, wenn sie ihr begegneten. Nach rund sechs Wochen war sie mit allen bekannt. Eines Morgens, als Klara erneut ihre Runde über den weißen Stationsflur an den Krankenzimmern vorbei drehte, den Blick nach vorne gerichtet, stets bemüht den Anblick der üblicherweise frisch operierten Patienten umgeben von Schläuchen, Kabeln und Apparaturen durch die halboffenen Zimmertüren auszublenden, trat der weißhaarige Oberarzt aus einem Patientenzimmer. Unweigerlich machte es sie verlegen, ihm in ihrem hellblauen Morgenmantel, immer noch wie sie fand, kraftlos und ungelenk, nicht wie eine normale junge Frau, entgegen zu gehen. Er hatte sich, mit den Händen in den Taschen mitten in den Flur gestellt und seine wasserblauen Augen musterten sie neugierig über die Brillengläser hinweg bei ihren Gehversuchen. Seine Lippen formten sich zu einem Lächeln. Das geht doch schon richtig gut, meinte er, kaum dass sie vor ihm stand. Ich denke, du kannst in den nächsten Tagen auf die Normalstation. Und heute ziehen wir endlich dieses Ding raus, fügte er hinzu, während er mit einer Hand auf die Kanüle an ihrem Hals zeigte. Die brauchst du nicht mehr und wenn das Löchlein zugewachsen ist, klappt es wieder mit dem Sprechen.

Klara fieberte in den nächsten Tagen dem Moment entgegen, wo die kleine Öffnung unterhalb ihres Kehlkopfs ausreichend zugewachsen sein würde. Eines Mittags trat der Oberarzt an ihren Sessel am Fenster derweil sie gelangweilt eine Zeitschrift durchsah. Bereitwillig wandte sie sich ihm zu, damit er die Stelle unterhalb des Kehlkopfs eingehend mustern und betasten konnte. Zufrieden äußerte er sich über den Fortschritt der Wundheilung, dann forderte er sie zum Sprechen auf. Mit einem Male wusste Klara nicht recht, was sagen, schließlich hatten sie beide schon wochenlang mittels Stift und Block kommuniziert, eine Vorstellung erübrigte sich. Dies hier war allerdings auch keine Soundprobe bei der man unermüdlich das Wort „Test“ wiederholen konnte. Hallo Herr Jäger!, sagte sie schließlich etwas verlegen. Dünn und heiser klang ihre Stimme, sie erschrak. Sprich weiter Klara, erzähl wie geht es dir? Gut ginge es ihr, es wäre toll endlich wieder sprechen zu können. Schon bald verlor sie den Faden und verstummte. Wie fremdartig war ihr diese Stimme, wo war ihre einst so kräftige Stimme geblieben? War deine Stimme früher so ähnlich oder anders?, Dr. Jägers Blick wirkte nachdenklich. Sie widersprach, verfiel in Erklärungen. Gut ich lasse dich morgen in die Halsnasenohrenklinik bringen, die sollen sich das mal anschauen. Einseitige Stimmbandlähmung wahrscheinlich als Folge der anfänglichen künstlichen Beatmung mittels Tubus, allerdings mit Aussicht auf Genesung, diagnostizierte die Fachärztin der Halsnasenohrenklinik am Folgetag. Geben Sie sich einige Monate Zeit, riet ihr die Ärztin, und redete dann, wie es Klara so oft in den letzten Wochen gehört hatte, über die enormen Selbstheilungskräften des Körpers, insbesondere bei jungen Menschen. Klara biss sich auf die Lippen. Sie durfte sich nicht entmutigen lassen, schließlich hatte sie doch so viel Schwierigeres hinter sich gelassen. Sie würde also in einem halben Jahr wieder vorstellig werden.

Eine Herzenssache

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