Читать книгу Die Sache in London - Helene Reckling - Страница 6
Kapitel 2 Der Reiz des Unbekannten
ОглавлениеDraußen atmete ich erst einmal tief durch.
„Oscar!“, rief ich laut. „Wo bist du?“ Wieder ein ungnädiges Brummen meinerseits. „Oscar, verdammt noch mal. Komm her!“
Entnervt stakste ich auf meinen hohen Absätzen dahin und blickte mich suchend um. Als ich ihn dann endlich fand, lag er wie die personifizierte Unschuld im Schatten einer großen Eiche und blickte mich so treu an, wie nur er es konnte. Doch er war nicht allein. Ein junger Mann saß neben ihm im Gras und kraulte ihm den Kopf, als wären sie schon seit Jahren gute Freunde.
„Oscar, wirst du mir etwa untreu?“, fragte ich überrascht. Während ich die vertraute Szene beobachtete, legte ich den Kopf schräg und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Nein, wir haben nur eine kurzlebige Affäre. Nichts Ernstes“, antwortete der junge Mann. Seine Stimme war tief und wohltönend. Äußerst angenehm, wie ich fand.
Neben den beiden im Gras lag, völlig vergessen, die besiegte rosa Tüllschleife.
Mit einem resignierten Seufzen sagte ich: „Und ich hatte Angst um die Torte! Aber ich denke, die hier hatte es verdient.“ Ich trat näher und stupste die Überreste der Schleife mit der Schuhspitze an.
„Jap. Rosa Tüllschleifen müssen vernichtet werden“, stimmte mir der Mann zu. Er trug zwar einen ziemlich schicken dunkelgrauen Anzug, doch er hatte sich ins Gras gesetzt, als wäre es ihm egal, wenn er ihn ruinierte.
Hm, sympathischer Zug, dachte ich. Was würde Laura wohl mit mir machen, wenn ich mit meinem Kleid hier im Gras sitzen würde?, ging es mir durch den Kopf.
„Du sahst vorhin nicht so aus, als würdest du dich wohlfühlen, da vorne“, bemerkte er und blickte mich von der Seite ruhig an.
„Äh, nein. Ja! Ach, na ja, so schlimm war es eigentlich gar nicht. Immerhin musste ich ja nicht das Ja-Wort geben. Ich hatte einen tollen Platz, um die Gäste zu beobachten“, versuchte ich mich herauszureden.
„Das habe ich bemerkt. Du hast den Gästen mehr Aufmerksamkeit geschenkt als der eigentlichen Zeremonie.“
Hatte er mich etwa beobachtet? Und warum, zur Hölle, war er mir nicht aufgefallen? So ein markantes Gesicht stach doch aus der Masse hervor wie ein Pfau aus einem Schwarm Graugänse. Ich zuckte mit den Schultern und grinste schuldbewusst.
„Wer auch immer diese Hochzeit geplant hat, hat sich äußerst viel Mühe gegeben. Es ist wirklich … außergewöhnlich.“ Während dieser ganzen Zeit hatte er nicht aufgehört, Oscar zu streicheln und ihn zu beobachten. Der verschmuste Verräter ließ sich diese unerwartete Zuwendung natürlich liebend gern gefallen.
„Etwas zu viel Tüll und Rosa vielleicht“, fügte er noch hinzu.
„Viel zu viel Tüll“, murmelte ich vor mich hin. Er schien mir nicht ganz folgen zu können, denn er sah mich mit erhobener Augenbraue an. Ich hob den Saum meines Kleides einige Zentimeter, sodass er den darunter verborgenen schwarzen Tüll erspähen konnte. Er lachte laut auf.
„Meine Schwester hatte schon immer eine Schwäche für Kitsch. Je mehr, desto besser. Diese rosa Ungeheuer und die vielen Blumen und Schnörkel sind ganz eindeutig ihr Werk. Für mich ist es etwas übertrieben, aber so ist Laura nun mal. Wenn sie sich erst mal etwas in den Kopf gesetzt hat, lässt sie sich davon nicht mehr abbringen.“ Bei dieser Bemerkung konnte ich es mir nicht verkneifen, eine Grimasse zu schneiden.
Ich hätte schwören können, dass bei meinen Worten ein Schatten über sein Gesicht gehuscht war.
„Dann bist du Clara? Freddie hat schon von dir erzählt. Aber was war das denn eben für ein Gesicht?“ Seine Stimme war leise und es schwang eine gewisse Belustigung darin mit.
Ich verdrehte die Augen. „Ja, ich bin Lauras Schwester Clara. Und das ist mein Gesicht, wenn ich über Laura spreche.“ Mir war bewusst, dass das nicht gerade freundlich klang, aber das kümmerte mich im Moment nicht.
„Und Freddie hat mit seinen Erzählungen über dich nicht übertrieben“, antwortete er ruhig und erhob sich. Der zusätzlichen Dosis Streicheleinheiten beraubt, hob Oscar den Kopf und blickte den Mann fragend und beinahe vorwurfsvoll an.
„Das war‘s, Baby! Er hat genug von dir. Jetzt wirst du wohl wieder mit mir vorliebnehmen müssen“, erklärte ich meinem Vierbeiner traurig.
Der junge Mann lachte und kam auf mich zu. Er streckte mir die Hand entgegen und lächelte auf mich herab. Er war groß, bestimmt um die ein Meter neunzig und kräftig gebaut. Er überragte mich um ein gewaltiges Stück und nicht einmal meine fast zehn Zentimeter hohen Absätze konnten dies mindern. Ich legte den Kopf in den Nacken und blinzelte ihn misstrauisch an. Was hatte Freddie wohl über mich erzählt?
„Ich bin Niklas Wilde. Freddie und ich haben zusammen in London Wirtschaft studiert. Seitdem haben wir uns zwar etwas aus den Augen verloren, aber ich habe ihm damals versprochen, bei seiner Hochzeit mit Laura anwesend zu sein. Ich wollte ihm früher nicht glauben, dass er und deine Schwester irgendwann vor den Traualtar treten würden, aber ich wurde eines Besseren belehrt. Und das erklärt meine Anwesenheit.“
Ich ergriff seine Hand und sah zu, wie diese meine eigene fast völlig verschluckte.
„Clara Behrent“, erklärte ich ihm überflüssigerweise.
„Freut mich, Clara!“ Er drückte meine Hand.
„Was hat Freddie über mich gesagt?“, fragte ich interessiert.
„Er meinte, dass du ganz anders bist als seine Frau. Obwohl ihr Schwestern seid, seid ihr wie Tag und Nacht.“
„Dann bin ich wohl die Nacht“, bemerkte ich mit einem schiefen Grinsen.
Er lachte. „Keine Angst. Dein Schwager mag dich gerne. Er hat nur gesagt, dass es schwer ist, an dich heranzukommen.“ Seine grünen Augen studierten mein Gesicht, als würden sie eine Bestätigung für diese Aussage suchen.
„Ich lasse nicht jeden an mich heran, da hat Freddie recht“, bestätigte ich ihm mit einem unterdrückten Seufzen. Ich hoffte, dass er den Subkontext in dieser Aussage erfasste, aber so viel Intelligenz gestand ich ihm ohne Weiteres zu.
„Clara!“, hörte ich jetzt die Stimme meiner Mutter rufen. „Clara, wo bist du? Wir wollen jetzt Fotos machen. Wo bist du, Kleines?“ Sie klang schon leicht genervt, fiel mir auf. Aber gut, sie hörte sich öfter mal genervt an, wenn sie mit mir oder meinem Papa sprach.
Niklas ließ meine Hand los und zog sich etwas zurück. Erst jetzt fiel mir auf, dass er sie immer noch festgehalten hatte.
Und da kam Mama auch schon um die Ecke gestürmt. Als sie uns entdeckte, verdüsterte sich ihr Gesicht und sie kam mit leicht gesenktem Kopf auf uns zu. Dieser Anblick erinnerte mich an einen Stier, der auf den Stierkämpfer losging. Ich grinste zu Niklas empor und wandte mich zu ihr.
„Clara Annabelle Behrent!“
Danke, Mama, ging es mir durch den Kopf. Ich versuchte, meinen verhassten zweiten Namen nach Möglichkeit immer zu unterschlagen, aber warum sollte ich mich bemühen, wenn meine Mutter ihn so freigiebig herausposaunte? Gerade noch im selben Moment, konnte ich ein abgrundtiefes Seufzen herunterschlucken.
Meiner lieben Mama schien dieser Missstand völlig zu entgehen. Stattdessen fuhr sie in ihrem mütterlichen Donnerwetter fort. „Wir suchen dich schon überall. Wie kannst du heute so gedankenlos sein? Deine Schwester ist schon ganz außer sich. Sieh zu, dass du zum Pavillon kommst, bevor ich dich übers Knie lege!“ Nun scheuchte sie mich vor sich her wie eine Bäuerin ihre Hühner.
Ich war heute in Höchstform, fiel mir auf. So viel Widerspenstigkeit in einer Person an einem Tag war nicht normal. Ich wandte mich noch einmal zu Niklas um und rief ihm zu: „Hat mich gefreut, dich kennenzulernen!“ Dann ging die wilde Jagd weiter.
Erst als ich am Pavillon ankam, fiel mir Oscar wieder ein. Ach, sollte er doch machen, was er wollte. Es gab hier noch mehr Tüllschleifen, denen er den Garaus machen konnte.
Mit befehlsgewohnter Miene kommandierte mich Laura an meinen Platz, wandte sich dem Fotografen zu und war die Liebenswürdigkeit in Person. Mir war bewusst, dass ich zu meinem Spaziergang später noch ein oder zwei Worte zu hören bekommen würde, aber das war mir recht egal.
„Süße, rück näher an deine Schwester heran“, kommandierte mich der Fotograf jetzt auch noch herum. Ich tat, wie mir befohlen, und schenkte ihm dann das schönste Lächeln, das ich im Moment zustande brachte.
Es schien, als würde diese Fotosession niemals enden. Langsam befürchtete ich, dass dieses Zahnpastalächeln in meinem Gesicht festgefroren war und ich jetzt immer so rumlaufen müsste.
Endlich, nach einer endlosen halben Stunde, waren wir fertig. Ich seufzte schwer und wollte mich davonstehlen, doch meine Schwester machte mir einen Strich durch die Rechnung. Sie hielt mich am Arm zurück.
Nachdem wir uns von der Menschenmenge getrennt hatten, zog sie mich in eine ruhige Ecke und funkelte mich aus ihren hellblauen Augen warnend an. Ob die Tüllschleife sich ebenfalls so gefühlt hatte, als Oscar ihr vorhin zu Leibe gerückt war?
„Clara, wenn du mir diesen Tag versaust, werde ich dich verprügeln! Das hab ich schon mal getan und ich werde es wieder tun. Heute ist der wichtigste Tag meines Lebens und ich hab keine Zeit für deine Mätzchen. Also bitte, sei so gut und spiel für heute die liebe, gute Schwester, ja? Morgen kannst du dann wieder so widerborstig und kratzbürstig sein wie immer.“ Ihr Griff um meinen Arm verstärkte sich, während sie ihren Worten mit warnenden Blicken Nachdruck verlieh.
„Damals war ich drei. Heute könnte ich dich, ohne mit der Wimper zu zucken, fertigmachen! Aber da ich ja lieb und nett bin, werde ich das nicht tun. Wie wäre es also, wenn du noch ein bisschen fester zudrückst und mir den Arm brichst? Dann könnte ich mich jetzt auf den Weg zur Notaufnahme machen.“ Ein bitterböser eisblauer Blick brachte auch diesen Vorschlag zu Fall. Also seufzte ich und schlug stattdessen hoffnungsvoll vor: „Ich gehe einfach in mein Zimmer und lese. Dann geht mir niemand auf den Keks und ich kann auch nichts falsch machen. Somit würden wir alle gewinnen.“
Laura legte nur den Kopf schräg und sah mich ernst an und dies genügte, um mir klarzumachen, dass mein Antrag abgelehnt worden war.
„Also gut. Aber wenn Freddies Bruder mir zu nahekommt, verpass ich ihm eine!“ Meine braunen Augen waren zwar eher sanft, doch ich versuchte, so viel Überzeugungskraft wie möglich in meinen Blick zu legen.
„Clara, Danny ist echt nett. Vielleicht solltest du ihn erst besser kennenlernen, bevor du etwas Voreiliges tust.“
Ich machte Würgegeräusche. „Den brauche ich nicht kennenzulernen. Der ist abscheulich! Schleimig wie eine dicke Kröte.“
Laura antwortete mit der ihr so eigenen Logik: „Aber manchmal muss man eine Kröte küssen, um den Prinz tief im Inneren zu finden.“
„Das wäre in diesem Fall aber sehr tief im Inneren. Wobei ich ja vermute, dass der Typ durch und durch eine Kröte ist.“ Ich fand den Spruch gut, aber meine Schwester setzte erneut an. „Liebes, willst du denn nicht auch eines Tages den Mann deiner Träume finden und für den Rest deines Lebens mit ihm glücklich sein?“
„Klar, aber doch nicht mit dem Mann meiner Albträume“, warf ich ein.
„Du sollst doch nicht immer so abwertend über andere sprechen. Gib ihm doch wenigstens eine Chance. Vielleicht überrascht er dich ja.“
Da ich immer noch wenig begeistert von einer näheren Bekanntschaft mit Danny wirkte, seufzte sie und fuhr resigniert fort: „Na gut. Aber versuch, ihm eine höfliche Abfuhr zu erteilen, ja?“ Sie streichelte die Stelle an meinem Arm, an dem sie mich noch vor wenigen Augenblicken so fest gedrückt hatte, und blickte über meine Schulter. Plötzlich versteifte sie sich und murmelte einen herzhaften Fluch.
„Was ist denn?“, fragte ich und drehte mich um, um zu sehen, was diese Reaktion hervorgerufen hatte. Zu meiner Überraschung stand Niklas nur wenige Meter von uns entfernt und unterhielt sich mit Freddie.
„Niklas Wilde“, stieß meine Schwester zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
„Oh, den habe ich vorhin schon getroffen. Er hatte sich zu einer Schmuserunde mit Oscar in den Garten zurückgezogen. Den würde ich schon gerne näher kennenlernen. Was kannst du mir über ihn erzählen?“ Ich war neugierig und gespannt darauf, was es da so alles über ihn zu erfahren gab.
Jetzt war sie es, die schnaubte.
„Der Typ ist das Letzte“, erklärte sie mir.
„Laura, du sollst doch nicht so abwertend über andere sprechen“, schlug ich sie mit ihren eigenen Waffen.
„Ich kenne ihn gut genug, um abwertend über ihn sprechen zu können“, knurrte sie.
„War da mal was zwischen euch?“ Jetzt begann die Geschichte mich doch tatsächlich zu interessieren.
„Wie bitte? Oh, nein, wie kommst du denn darauf?“ Laura funkelte mich böse an.
„Na ja, bei der Reaktion eben … Also, was ist los?“, bohrte ich weiter.
„Ich mag diesen Typen einfach nicht. Er ist so selbstverliebt und arrogant. Er lässt niemanden hinter seine Fassade blicken. Man weiß nie genau, woran man bei ihm ist. Grauenvoller Kerl.“
„Er hat dich abblitzen lassen“, stellte ich überrascht fest. Ich hatte die Arme vor der Brust verschränkt und betrachtete meine Schwester spöttisch.
„Ich habe Freddie doch ausdrücklich gesagt, dass ich diesen Idioten nicht bei meiner Hochzeit haben will.“ Sie senkte zornig den Kopf. Wie konnte Freddie sich nur der Order seiner Befehlshaberin widersetzen?
Ich zog übertrieben scharf die Luft ein und legte meine Fingerspitzen an die Lippen. „Krieg dich wieder ein. Erzähl mir lieber, was mit Niklas nicht stimmt.“
Sie ging jedoch zu meinem großen Bedauern nicht weiter darauf ein. Stattdessen griff sie nach meinem Ellenbogen und drückte ihn fest. Offensichtlich befand sie es für nötig, mir Folgendes mit Nachdruck mitzuteilen: „Ich weiß ja, dass du einen sehr merkwürdigen Geschmack in Sachen Männer hast, aber halt dich von ihm fern. Er zieht den Ärger förmlich an.“ Damit ließ sie mich stehen, um ihren Mann so schnell wie möglich von diesem grauenvollen Kerl fortzukriegen. Sie zerrte förmlich an seinem Arm, als würde es ihr nicht schnell genug gehen.
Niklas sah zu mir rüber. Ich hätte schwören können, dass er sich unwohl fühlte, doch dieser Eindruck war innerhalb einer Sekunde wieder verschwunden. Sein Gesicht wirkte ernst. Er nickte mir einmal kurz zu und verschwand dann in der Menge.
Ich legte den Kopf schräg und sah ihm sinnierend nach. Vielleicht sollte ich mich etwas eingehender mit Niklas Wilde beschäftigen. Die Verlockung war groß. Womöglich sollte ich meinen allerliebsten Schwager mal kurz beiseitenehmen und ihn zum Thema Niklas genauer befragen. Er würde die Aussage bestimmt nicht verweigern. Dafür müsste ich ihn nur mal kurz von seiner überaus wachsamen Gattin fortbekommen.
Mit diesem Plan im Hinterkopf machte ich mich auf die Suche nach einem geeigneten Plätzchen, an dem ich mich auf die Lauer legen konnte.
Ich saß auf einer Bank im Schatten, die Gäste aufmerksam im Auge behaltend. Oscar lag der Länge nach ausgestreckt zu meinen Füßen im Gras und tat das, was er am liebsten tat: Er schlief.
Mein Papa hatte mir zwischendurch ein Glas Rotwein gebracht, an dem ich jetzt gedankenverloren nippte. Bisher hatte ich noch keine Gelegenheit gefunden, meinen nagelneuen Schwager einem ausführlichen Verhör im Fall Niklas Wilde zu unterziehen.
„Hier bist du! Ich hatte gehofft, dass wir eine Gelegenheit erhalten würden, uns einmal ungestört zu unterhalten.“ Danny Parson, Freddies Bruder, hatte sich mir unbemerkt genähert. Ich verwünschte ihn dafür. Nicht einmal Oscar hatte mich vor dem Feind gewarnt. Ein toller Wachhund war er!
„Oh, hi!“ Ich verzog kurz das Gesicht und lächelte ihn kühl an. Er nahm neben mir auf der Bank Platz, was gar nicht so einfach war, da mein Rock einen großen Teil davon einnahm. Er kämpfte mit den Stoffmassen, aber ich war nicht geneigt, ihm dabei behilflich zu sein.
„Du siehst umwerfend aus. Dieses Kleid und die Farbe passen sehr gut zu deinen dunklen Haaren und Augen. So rassig hätte ich dich mir gar nicht vorgestellt.“ Seine grauen Augen wanderten langsam von unten an mir empor und ruhten dann, nach einem kurzen Ausflug zu meinem Gesicht, auf meinem Ausschnitt.
Ich blickte ebenfalls kurz runter, um zu sehen, ob in dieser Region alles noch gut verpackt war. Nachdem ich dies bejahen konnte, setzte ich mich noch ein wenig aufrechter hin und meinte frostig: „Du solltest dich nicht von Äußerlichkeiten täuschen lassen, Danny.“ Meine Stimme war ruhig, doch innerlich kochte ich.
„Ach, ich glaube schon, dass du auch ohne Sachen recht feurig sein kannst.“
„Das kann ich nur bestätigen. Schade nur, dass du das nie aus erster Hand erfahren wirst“, entgegnete ich jetzt etwas harscher.
„Hi, Baby.“ Wie aus dem Nichts tauchte Niklas plötzlich neben mir auf, beugte sich zu mir herab und küsste mich mitten auf den Mund.
Einen Moment war ich wie gelähmt, doch dann erdreistete sich mein Mund, darauf einzugehen. Meine Lippen öffneten sich und Niklas konnte den Kuss vertiefen. Die Vertraulichkeit, Intimität und Selbstverständlichkeit, die er dabei an den Tag legte, waren erstaunlich. Das Erschreckende an der Sache war, dass dies bei Weitem der schärfste Kuss war, den ich seit ewigen Zeiten bekommen hatte. Leidenschaftlich, hingebungsvoll, atemberaubend. Aber trotzdem … Waren die Kerle jetzt alle völlig durchgedreht?
„Was machst du denn hier, Wilde? Ich dachte, du wärst gerade wieder einmal damit beschäftigt, jemandem das Herz aus dem Leib zu reißen und es zum Mittag zu verspeisen.“ Abneigung schien dabei noch die mildeste seiner Gefühlsregungen zu sein.
Niklas ließ sich alle Zeit der Welt, um den Kuss zu beenden. „Da verwechselst du mich mit dir, Alter! Du hältst doch in dieser Disziplin seit Jahren den Rekord“, sagte er, als er sich endlich von mir gelöst hatte. Sein grüner Blick bohrte sich tief in meine Augen und ich nahm darin einen Ausdruck wahr, den ich irgendwie aus Nonchalance, Leidenschaft und Humor zusammensetzte. Niklas ließ sich zu meinen Füßen im Gras nieder und blickte Danny gelangweilt an. Sein Arm ruhte auf meinen Knien und mit der anderen Hand kraulte er Oscar.
„Clara, du solltest dich von diesem Penner fernhalten. Der ist echt das Letzte. Wenn du einen Mann brauchst, solltest du dich lieber an mich wenden.“
Niklas schnaubte abwertend. „Das wäre ihr Ende“, murmelte er. Offensichtlich wollte er nicht, dass es jemand anderes hörte, aber meine Öhrchen hatten es trotzdem aufgefangen. Ich warf Niklas‘ Hinterkopf einen fragenden Blick zu.
„Was brabbelst du da?“, fuhr Danny ihn an.
Vielleicht war es besser, wenn ich die Aufmerksamkeit wieder auf mich lenkte. „Was meinst du damit? Warum ist Niklas so schlecht?“ Ich fand diese kryptischen Andeutungen merkwürdig.
„Frag deine Schwester. Die kann dir eine ganze Menge zu diesem Thema sagen. Nicht wahr, Niklas?“ Danny durchbohrte den anderen mit eisigen Blicken.
„Zieh Leine, Parson! Ich will mit meiner Kleinen ungestört sein.“ Niklas blieb immer noch vollkommen ruhig. Ich konnte wirklich nicht sagen, was in ihm vorging. Er legte seine große Hand um meine, die immer noch das Weinglas hielt, und führte dieses an seine Lippen. Er nahm einen Schluck und sah mir dabei tief in die Augen. Er spielte seine Rolle verdammt gut – etwas zu gut. Ein kleiner wohliger Schauder schickte sich an, mir über den Rücken zu laufen, und ließ sich durch nichts davon abhalten. Ein unübersehbares boshaftes Lächeln kräuselte die Lippen des Mannes zu meinen Füßen, als er es bemerkte.
Danny hingegen knurrte angewidert.
„Du bist ja immer noch da“, stellte Niklas fest, ohne seinen Blick von mir abzuwenden. „Wolltest du nicht jemand anderen nerven?“
„Wie du willst. Aber ich werde dich im Auge behalten. Wenn du der Kleinen was tust, schlage ich dir deinen verdammten Schädel ein! Verstanden?“ Der Bruder meines Schwagers hatte sich erhoben und baute sich vor uns auf.
Oh Mann. Testosteronvergiftung!
„Ich werde nichts tun, was die Dame nicht auch will.“ Niklas lächelte so süffisant, dass ich ihm am liebsten den Hals umgedreht hätte.
„Aber diese Vorgehensweise ist dir ja völlig fremd, nicht wahr, Danny? Du nimmst dir einfach, was du willst“, fügte er gehässig hinzu.
Danny machte einen Schritt auf ihn zu, als wollte er ihn jetzt hier auf der Stelle zum Duell auffordern.
„Du wirst hier niemandem etwas tun, Danny Parson. Sonst trete ich dir in den Hintern, kapiert?“ Mir reichte es mit diesem Hahnenkampf und so sah ich ihn bitterböse an. Fast hoffte ich, er würde mir einen Grund geben, meine Drohung wahrzumachen. Doch er tat es nicht. Stattdessen zog er grantig ab.
Niklas blickte mich über die Schulter nachdenklich an. Seine Miene ließ keinerlei Rückschlüsse auf seine Gedanken zu.
„Was?“, fragte ich leicht genervt.
Als Antwort schüttelte er den Kopf, sagte aber nichts.
„Laura hatte in einer Sache recht: Du bist merkwürdig.“ Meine Stimme war leise und ich hatte die Stirn in Falten gelegt, wie immer, wenn ich nachdachte.
„Was hat sie dir sonst noch von mir erzählt?“, wollte er wissen.
Déjà-vu. Hatten wir diese Unterhaltung nicht schon mal geführt? „Nicht viel. Nur dass ihr euch kennt und dass du das Letzte, ein furchtbarer Kerl und ein Idiot bist. Mehr nicht.“
Er sagte wieder nichts, sondern schüttelte nur den Kopf.
„Ihr hattet wohl einige Probleme miteinander in der Vergangenheit. Kann das sein?“ Ich bemühte mich, mein Gesicht genauso ausdruckslos wirken zu lassen, wie er das seine. Allerdings mit mäßigem Erfolg.
Niklas machte ein ungläubiges Geräusch. „Probleme, so kann man das auch nennen.“ Seine Stimme klang beinahe etwas ärgerlich. „Probleme ist nicht das richtige Wort“, erklärte er, als er meinen Gesichtsausdruck bemerkte. „Ich weiß nicht, wie viel ich dir erzählen sollte, aber sagen wir mal so: Wir waren in bestimmten Dingen grundsätzlich unterschiedlicher Meinung.“
„Geht‘s eventuell ein wenig genauer?“, versuchte ich, ein paar detailliertere Informationen zu erhalten.
Er schüttelte langsam den Kopf. „Das ist lange her.“
„Alles klar.“ Damit erhob ich mich. Er hielt mich nicht zurück, sondern blickte mich einfach nur ganz ruhig an.
„Dann noch einmal, Niklas: Es hat mich gefreut, dich kennenzulernen. Hab noch ein schönes Leben.“ Damit ließ ich ihn im Gras sitzen, doch dann drehte ich mich noch einmal um und sagte mit so viel Würde, wie ich nur konnte: „Oscar, wir gehen!“ Mein Vierbeiner erhob sich gehorsam und gemeinsam steuerten wir zielstrebig auf das große weiße Haus zu. Dort hoffte ich, Ruhe und Frieden zu finden. Ich betete, ich würde nicht mehr über diese männlichen Kuriositäten da draußen nachdenken müssen. Hoffentlich würde sich mein ziemlich aufgewühltes Inneres mit etwas Ruhe und Abstand wieder glätten. Ein weiterer positiver Nebeneffekt wäre, dass Oscar nichts mehr anrichten könnte.
Ich überlegte, wo ich mich jetzt am unauffälligsten hin verdrücken konnte. Meine Schwester sah ich in einiger Entfernung mit ihrem Mann und ein paar ihrer Brautjungfern plaudern und lachen. Danny Parson war ebenfalls dabei. Noch hatte er mich nicht entdeckt, also brauchte ich mir im Moment wohl keine Gedanken um ihn zu machen. Wo sollte ich jetzt bloß hin? Ich langweilte mich schrecklich. Doch wenn ich mich jetzt schon wieder verdrückte, würden meine Schwester und Mama mir zweifelsohne Gewalt antun. So wanderte ich eine Weile durch den Garten hinter dem Haus meiner Eltern und sah mich um.
„Wir haben es geschafft, mein Clärchen“, erklang hinter mir Papas Stimme.
Ich wandte mich ihm zu und nickte kurz. „Jap.“
Ihm stand ebenso die Erleichterung ins Gesicht geschrieben wie mir.
„Warum stromerst du denn so verlassen und allein umher?“
Mir fiel auf, dass er seinen Blick sehr auffällig durch den Garten schweifen ließ.
„Was sollte ich sonst tun?“
Seine Lippen kräuselten sich zu einem schelmischen Lächeln. „Du hattest doch eben noch Gesellschaft.“
Er musste meinen fragenden Blick bemerkt haben. „Ich meine den netten, jungen Mann.“ Er verdrehte die Augen und presste dann hervor: „Wie kommt der dazu, mein Clärchen zu küssen?“
„Tja. Das frage ich mich allerdings auch.“
Er wirkte überrascht und hob eine Augenbraue.
„Er ist ein Freund von Freddie. Ich habe ihn vorher noch nie gesehen.“
„Clara!“, tadelte er halb im Scherz, halb im Ernst. „Wie kommst du dazu, dich von einem Wildfremden küssen zu lassen?“
„Ich bin unschuldig“, versicherte ich ihm lachend mit erhobenen Händen.
„Schön wäre es. Zur Strafe kommst du jetzt mit zu den Großeltern.“ Damit hakte er sich bei mir unter und führte mich trotz meines Protestes zu ihnen.
Sie saßen gemütlich mit kühlen Getränken an einem der Tische und sahen uns einigermaßen überrascht an, als wir zu ihnen traten.
Manchen Menschen machte ja Smalltalk Spaß und es fiel ihnen auch nicht schwer, sich darauf einzulassen, doch ich gehörte nicht zu dieser Gattung. Daher fielen meine Antworten, wenn mich einer der Gäste ansprach, zumeist kurz und zurückhaltend aus. In der Hoffnung, dass ein kleines, scheues Lächeln die Leute besänftigen würde, bemühte ich mich ständig um ein ebensolches. Meine Großeltern schienen angenehm überrascht, mich lächeln zu sehen. „Wenn du das doch nur immer tun würdest“, sinnierte meine Großmutter Heidi gerade.
„Geh nur, Kleines. Du solltest dich mit jungen Leuten unterhalten und nicht mit deinen alten Großeltern.“ Meine andere Großmutter Gisela streichelte meinen Arm und machte eine Kopfbewegung in Richtung einer Gruppe junger Leute.
Sie wollten mich also loswerden. Nun gut. Dann würde ich meinen Streifzug fortsetzen.