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Kapitel 1

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Der Krieg begann an einem Freitag. Lillys Mutter saß vor dem Radio und weinte.

»Ab heute Morgen schießen sie zurück« oder so ähnlich. Warum auch nicht, dachte Lilly. Sie war neun Jahre alt und ging in die vierte Klasse der Volksschule am Kirchgarten.

Aber die Mutter weinte. Nach einer Weile stand sie plötzlich auf, durchquerte mit raschen Schritten Esszimmer und Flur und lief zur Wohnungstür hinaus.

Lilly trödelte in der stillen Wohnung herum, trank ein Glas Milch, legte sich flach auf den Wohnzimmerteppich, zählte die Rosetten an der Stuckdecke und ging immer wieder auf den Balkon, um nach Mama Ausschau zu halten.

Sie fühlte sich sehr allein. Ihr älterer Bruder Joachim war mit dem Jungvolk auf Fahrt, Papa wie üblich unterwegs, Oma Elli wegen ihrer kranken Knochen zur Kur und sogar die Tageshilfe, Frau Gössel, war heute nicht erschienen. Nur Lilly in der großen Wohnung, von allen vergessen. Sie weinte etwas, aber das nützte auch nichts.

Die Mama kam erst nach zwei Stunden zurück. Sie hatte zerzauste Haare, rote Wangen und die Arme voller Lebensmittel. »Wieso bist du denn nicht in der Schule?«, fragte sie ihre Tochter.

»Weil Krieg ist«, sagte Lilly. »Da wird zurückgeschossen. Das hast du doch auch vorhin im Radio gehört.«

Mama sah Lilly an und schüttelte missbilligend den Kopf. »Was du dir immer so alles einbildest. Das Leben geht weiter. Und du gehst morgen wieder zur Schule.«

Aber das tat Lilly nicht. Zwar verließ sie am nächsten Morgen wie üblich um Viertel vor acht das Haus, doch kaum war sie außer Sichtweite, flitzte sie hinüber zum Volkspark und landete schon Minuten später bei ihrem Baum.

Lillys Baum war nicht nur ein erstklassiger Kletterbaum, sondern er hatte in seinem Stamm auch noch eine tiefe Höhlung, in der man sich gut verstecken konnte. Die Höhlung war Lillys Wohnzimmer, die Baumkrone war ihr Garten. Lilly erzählte dem Baum alles, was sie wusste, und manchmal wusste sie es überhaupt erst richtig, nachdem sie’s ihm erzählt hatte. Lilly begriff früh, dass sich die Dinge ändern, wenn man sie ausspricht. Darum musste man in der Wahl seines Gesprächspartners sehr vorsichtig sein.

Lilly warf ihren Schulranzen in die Höhlung und kletterte nach oben. Aufatmend lehnte sie sich gegen den Himmelsast und begann: »Es ist Krieg, und seit gestern wird zurückgeschossen, wie findest du das?«

Die Frage war: Wer schoss hier eigentlich auf wen? Irgendwie hatte das mit Polen und England zu tun. Die Polen waren dreckig und faul, das hatte Lilly in der Schule gelernt. Und die Engländer? Arrogant und frech, aber sonst ziemlich sympathisch. Beinahe hätte Lilly sogar einen englischen Vater gehabt. Mama war nämlich in England aufgewachsen und zur Schule gegangen, weil ihr Vater, Oma Ellis verstorbener Mann, dort bei der Niederlassung einer deutschen Bank gearbeitet hatte. Englisch war Mamas Kindersprache gewesen und darum hatte sie es an ihre eigenen Kinder weitergegeben und mit ihnen abwechselnd englisch und deutsch gesprochen. Oft schien sie gar nicht zu wissen, welche Sprache gerade aus ihrem Mund herauskam.

Im Alter von siebzehn Jahren hatte Mama sich mit einem Engländer verlobt, das war der lustige Jack, von dem Mama immer noch gerne sprach. Aber als Mama dann achtzehn wurde und grad mit der Schule fertig war, da starb plötzlich ihr Vater, und ihre Mutter, Lillys Oma Elli, ging mit ihr nach Deutschland. Zuerst fühlte Mama sich in Deutschland sehr einsam, aber dann traf sie den Papa, der Bauingenieur war und schon sehr erwachsen, mindestens fünfzehn Jahre älter als Mama. Er hatte bereits einen Beruf und ein Auto und eine Wohnung und ein Büro, deshalb heiratete die Mama ihn. Und natürlich auch aus Liebe, klar. Und Onkel Jack tröstete sich dann sehr bald mit Tante Elisabeth, und die wurde Lillys Patentante, alles in bester Ordnung. So jedenfalls hatte Mama die Geschichte erzählt.

Lillys Eltern waren sehr verschieden und wer sie nicht gut kannte, wäre kaum auf die Idee gekommen, dass sie miteinander verheiratet waren. Papa war groß und breit gebaut. Seine blonden Haare lagen ordentlich gescheitelt eng am Kopf. Er trug eine dicke Brille, sprach langsam und deutlich und wusste viele Sprichwörter. Wenn Lilly ihre zapplige kleine Hand in seine große ruhige steckte, fühlte sie sich sicher. Papa tat nie etwas Überflüssiges, bei ihm ging jeder Schritt in die beabsichtigte Richtung, hatte jede Unternehmung einen Zweck und jedes Wort einen Sinn.

Mama dagegen war zart und schlank und leichtfüßig und es schien ihr nicht nur beim Gehen große Mühe zu machen, ihren Rhythmus dem ihres Mannes anzupassen. Sie hatte sehr weiße Haut, braune Augen und lockige dunkle Haare, die sie meist am Hinterkopf zu einem Knoten aufsteckte.

Rot war Mamas Lieblingsfarbe, und immer war irgendetwas Rotes an ihr, die Bluse, der Schal oder wenigstens die rote Korallenkette, die Papa ihr zur Verlobung geschenkt hatte. Im Schrank hingen sogar zwei leuchtend rote Kleider, allerdings trug Mama sie fast nie. Wenn sie allein über die Straße ging, machte sie manchmal, mitten aus dem zielsicheren Gehen heraus, ein paar sinnlose kleine Hüpfschritte.

»Mit Onkel Jack ist sie oft zum Tanzen gegangen«, erzählte Oma Elli. »Aber natürlich müssen wir froh sein, dass wir jetzt den Papa haben, auf seine Weise ist er doch ein sehr guter Mensch. Und so zuverlässig!«

Das klang, als ob ihm sonst einiges fehlte. Doch Lilly vermisste dieses Fehlende nicht, denn Papa hatte einen Bruder, Joseph, allgemein Jupp genannt, und der verfügte über alle jene Eigenschaften, die Papa anscheinend abgingen. Onkel Jupp war sehr viel jünger als Papa. Er sah ihm zwar ähnlich, doch wirkten seine blonden Haare immer unordentlich, und wenn er eine Brille trug, dann war’s eine Sonnenbrille. Er konnte Trompete blasen und Stepp tanzen und Stimmen imitieren. Er konnte auch zeichnen und auf den Händen gehen und statt Papas Sprichwörtern wusste er viele Schlagertexte und Melodien auswendig und auch ein paar lustige Gedichte. Schon dreimal hatte er ihnen ein hübsches junges Mädchen als »meine Verlobte« vorgestellt, aber irgendwie war’s dann mit der Ehe nie etwas geworden.

Früher war er ein Geschäftsmann gewesen, Lebensmittelhandel, nicht sehr erfolgreich. Einmal war er sogar Pleite gegangen und Papa hatte seine Schulden bezahlt. Aber dann hatte Onkel Jupp sich für Hitler begeistert und war Soldat geworden. Inzwischen war er natürlich Offizier, irgendetwas ganz Hohes, Lilly konnte sich nie die einzelnen Ränge merken. Jedenfalls sah er sehr gut aus in seiner Uniform.

Wenn er kam, machte sich sogar Oma Elli schön. Mama kriegte Glitzeraugen, zog hochhackige Schuhe an und band nicht nur sich selbst, sondern auch ihrer Tochter ein rotes Band ins Haar. Onkel Jupp brachte Mama die neueste Platte mit den Liedern von Zarah Leander, schenkte Oma Elli eine seidene Rose und Frau Gössel eine Flasche 4711, kaufte für Lillys Bruder Joachim Groschenhefte mit spannenden Soldatengeschichten und für Lilly Zopfspangen mit bunten Blümchen drauf, die Lilly so sehr begeisterten, dass der Onkel seine Nichte von da an gelegentlich Blümchen nannte.

Sogar Papa veränderte sich in Onkel Jupps Gegenwart. Er benutzte weniger Sprichwörter, lachte häufiger und legte seine Lektüre zur Seite, um ihm zuzuhören.

»Papa und Onkel Jupp sind nämlich nicht nur Brüder«, sagte Lilly zu dem Himmelsast, »sie sind auch richtig miteinander befreundet. Und weil Onkel Jupp bestimmt nicht so zuverlässig ist wie der Papa, dafür aber viel fröhlicher, brauchen wir sie alle beide. Ich finde das eigentlich sehr praktisch, besonders weil Papa so viel unterwegs sein muss. Wir haben zwei Männer, wo andere nur einen haben.«

Den ganzen Vormittag verbrachte Lilly in ihrem Baum. Langweilig wurde es ihr nicht, denn sie hatte sehr viel zu bereden. Die Frage, wer hier auf wen geschossen hatte, ließ sich nicht klären. Jedenfalls war Krieg, das ist ein böser Streit unter Erwachsenen, bei dem es um Erwachsenenprobleme geht, Länder und Grenzen und Macht und Ehre und so was. Einer schießt zuerst, der andere schießt zurück. Dass Deutschland etwa den Streit angefangen hätte, konnte Lilly sich nicht vorstellen. Die Deutschen sind ein friedliebendes Volk, das stand jeden Tag in der Zeitung und wurde auch im Radio gesagt.

Kurz nach zwölf stieg sie hinunter, nahm ihren Ranzen und machte sich auf den Heimweg. Sie fühlte sich gut und ausgeruht und hatte momentan nicht das geringste schlechte Gewissen.

Lauf, Lilly, lauf!

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