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PROLOG

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Eines warmen sonnigen Herbstnachmittags finden spielende Kinder auf dem unbebauten, von Bäumen und Gestrüpp überwucherten Gelände zwischen den S-Bahn-Stationen Friedrichstraße und Hackescher Markt eine männliche Leiche. Der Tote ist ungefähr vierzig Jahre alt, rotblond, hellhäutig, hoch gewachsen und bis auf einen Lendenschurz unbekleidet. Sein Kopf liegt auf einem kleinen Haufen sorgsam geschichteter Blätter und Zweige, die Arme sind bequem über der nackten Brust gekreuzt.

Anfangs halten ihn die Kinder für einen sonnenbadenden Schläfer, so entspannt und friedlich liegt er da, und sie entfernen sich ein wenig mit ihren lauten Spielen, um ihn nicht zu stören. Misstrauisch werden sie erst, als sie selbst in der beginnenden Abendkühle nach ihren Jacken greifen, der Mann jedoch immer noch so daliegt, als hüllten die Sonnenstrahlen ihn warm ein.

Also beschließen sie ihn zu wecken. Sie rütteln ihn an den Schultern, wodurch der linke Arm vom Körper gleitet und eine schmale Einstichwunde in der Herzgegend freigibt.

Wenn der bloß nicht tot ist!

Bestimmt nicht. Seine Haut ist noch ganz warm.

Leg ihm ein trockenes Blatt auf den Mund.

Das Blatt bewegt sich nicht.

Und den Puls kann man auch nicht fühlen.

Leg dein Ohr auf sein Herz.

Ich höre nichts, versuch du’s.

Ich höre auch nichts.

Wenn der bloß nicht doch tot ist!

Seltsamerweise haben die Kinder keine Angst, und es dauert eine ganze Weile, bis ihnen die Polizei einfällt.

Die beiden Polizisten legen ihre Finger an die Halsschlagader, deuten auf die schmale Wunde, sagen: »Aber er ist doch wirklich noch ganz warm«, zucken schließlich die Schultern und warten gemeinsam mit den Kindern auf den Krankenwagen.

Vielleicht ist er ja nur scheintot, so was gibt’s. Und dann wacht er irgendwann wieder auf und klopft an den Sargdeckel.

Als die Ambulanz den Toten abgeholt hat, bringen die Polizisten die Kinder im Streifenwagen nach Haus, eins nach dem anderen.

Obgleich sich die Ärzte in der Notaufnahme ebenso wie die Kinder und Polizisten über die anhaltende Wärme wundern, stellen sie den Tod des Mannes zweifelsfrei fest, eingetreten schätzungsweise vor zehn bis zwölf Stunden und verursacht durch einen einzelnen, sauber geführten Stich ins Herz.

Die erkennungsdienstliche Routinebehandlung, die am nächsten Morgen durchgeführt wird, bringt keine verwertbaren Ergebnisse. Offenbar ist der Tote noch nie auffällig geworden und seine persönlichen Daten sind darum auch in keinem Computer gespeichert.

Sie legen eine Akte mit der vorläufigen Bezeichnung »Guru« an, bringen ihn hinunter ins Leichenschauhaus, binden ihm den üblichen Papieranhänger mit Aktennummer und Datum an den großen Zeh des linken Fußes und schieben ihn sodann zur weiteren Verfügung in das Kühlfach Nummer siebenundvierzig.

Der einzige Anhaltspunkt ist der seidene Lendenschurz. Das eingestickte Zeichen kann ohne sonderliche Schwierigkeiten als Wappen der in Nordengland ansässigen Brenton-Familie identifiziert werden, und als sie herausfinden, dass ein Mitglied eben dieser Familie, Lady Philippa Brenton, verehelichte von Bülow, in Berlin wohnhaft ist, wähnen sie sich bereits der Lösung nahe.

Doch dann erklärt Lady Philippa unwiderlegbar, dass der letzte Earl Brenton, ihr Bruder James Henry, vor knapp zwölf Jahren verstorben sei und dass es ansonsten in dieser Generation keinen männlichen Brenton mehr gebe oder gegeben habe. Das Geschlecht der Brentons sei leider im Aussterben begriffen. Dennoch erklärt sie sich zur Mitarbeit und zu einer Konfrontation mit dem Verstorbenen bereit.

Der Anblick des Toten scheint sie zu rühren, und bevor der begleitende Kommissar sie davon abhalten kann, legt sie kurz ihre Hand gegen seine Wange, die sich eine erstaunlich lebendige Farbe erhalten hat, und sagt: »Das muss ein sehr glutvoller Mensch gewesen sein, wenn er sich sogar nach mehrtägiger Einlagerung im Kühlschrank einen Teil seiner Wärme erhalten hat. Meinen Sie nicht auch, Inspektor?«

Der Beamte, der kein Inspektor ist, meint überhaupt nichts. Er hasst Begegnungen in der Leichenhalle und er will die Sache so bald wie möglich hinter sich bringen. Obgleich es zu seinen Pflichten gehört, etwaige Emotionen im Gesicht des Besuchers zu registrieren, wendet er sich peinlich berührt zur Seite.

»Unser Interesse gilt der Identifikation des Toten«, sagt er schroff, »und wir wären Ihnen sehr verbunden, wenn Sie uns da weiterhelfen könnten.«

Lady Philippa beugt sich ganz nahe über den Toten – entweder ist sie auf diese typisch englische Weise exzentrisch oder nur kurzsichtig –, lächelt, richtet sich wieder auf und sagt: »Kann ich nicht, tut mir Leid, Inspektor.«

»Irgendwelche Ähnlichkeiten mit einer Ihnen bekannten Person?«

Sie schüttelt den Kopf. »Nein, der Mann erscheint mir unvergleichlich.«

»Irgendeine Idee, wie Ihr Familienwappen auf den Lendenschurz gekommen ist?«

»Aufgestickt natürlich«, sagt sie. »Eine hübsche Handarbeit, jemand hat sich Mühe gemacht.«

»Das wär’s dann wohl«, sagt der Kommissar, bedeckt das Gesicht der Leiche erneut mit dem weißen Laken und schiebt sie zurück ins Kühlfach.

Ungefähr zehn Tage nach dem Tod des Unbekannten erscheint eine sehr junge Frau bei der Polizei. Nachdem sie Namen und Adresse angegeben hat, erkundigt sie sich schüchtern danach, wo und wie man eine Suchanzeige aufgeben könne.

Wen sie denn suche?

Ihren Freund.

Wann sie ihn zuletzt gesehen habe?

Vor achtzehn Tagen.

Wo er wohne?

Das wisse sie nicht.

Sein Name?

Karuna.

Und weiter?

Nichts weiter, nur Karuna. Und das heiße auf Deutsch »Tätiges Mitleid«.

Der Polizist lächelt – ein Ausländer also –, nickt und will die junge Frau schon wieder fortschicken, als sie plötzlich zu einer Beschreibung des Gesuchten anhebt, schon eher einem Lobessang, der jedoch so exakt auf den Toten in der Eisbox siebenundvierzig, über den inzwischen alle Dienststellen unterrichtet worden sind, zutrifft, dass dem Polizisten gar nichts anderes übrig bleibt, als ihre Aussage ernst zu nehmen. Nach einigem Hin und Her und nach Rücksprache mit seinem Vorgesetzten fragt der Polizist die junge Frau, ob sie sich zutrauen würde, mit ihm zusammen in die Leichenhalle zu gehen und dort einen bislang unbekannten Toten anzuschauen. Sie macht riesengroße Augen, sieht aus, als wolle sie gleich zu weinen anfangen, schluckt dann jedoch und nickt heftig. Ja, das würde sie sich zutrauen.

Ob man nicht vielleicht jemanden hinzuziehen solle, Mutter, Vater, irgendeine Vertrauensperson?

Nein, auf gar keinen Fall.

Obgleich er sich darüber im Klaren ist, dass sein Tun nicht so ganz den Vorschriften entspricht, fährt der Polizist die junge Frau im Polizeiwagen zur Charité, begleitet sie in die Leichenhalle und bittet den Dienst habenden Pfleger, die Eisbox Nummer siebenundvierzig zu öffnen. Was dieser auch tut.

Die Eisbox ist leer.

In dem darauf folgenden aufgeregten Durcheinander verlässt die junge Frau unbemerkt die Leichenhalle. Ihre Namens- und Adressenangabe erweist sich später als falsch, und da sich keiner der behördlicherseits Beteiligten ganz schuldlos fühlt, lässt man die Angelegenheit schließlich auf sich beruhen und gibt die Akte »Guru« dem erhofften Vergessen preis.

Der fremde Bruder

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