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Wenn ich zu Pippa gehe«, gestand Johanna kürzlich ihrem Mann Tom, »komme ich immer irgendwie geläutert zurück.«

»Wovon geläutert?«

»Weiß ich nicht genau. Einfach so. Plötzlich wird alles glasklar, verständlich und vor allem machbar.«

»Normalerweise behauptest du, dass Pippa egozentrisch ist und anstrengend und sogar verlogen.«

»Was denn auch sonst«, antwortete Johanna, »oder hältst du Läuterung etwa für ein Vergnügen? Das tut man doch nicht freiwillig.«

»Von mir aus brauchst du überhaupt keine Läuterung!«

»Von mir aus aber. Jedenfalls manchmal.«

Tom hob die Schultern und lächelte freundlich. »Na gut, mein Schatz, dann läutere dich mal schön. Außerdem erscheint mir deine Freundin Pippa keineswegs glasklar. Die hat’s faustdick hinter den Ohren.«

Johanna sah auf von den Schulbroten ihrer beiden Jüngsten, mit deren Zubereitung sie gerade beschäftigt war, und fuhr ihren Mann in übertrieben aggressivem Tonfall an: »Wenn du etwas weißt, dann sag’s mir. Sonst hältst du besser den Mund.«

»Nichts weiß ich. Jedenfalls hat sie eine klasse Figur. Und immer so schön prall verpackt!«

»Gott, kannst du manchmal blöd sein«, sagte Johanna und legte versehentlich Salamischeiben auf die Erdnussbutter.

»Also dann bis heute Abend«, antwortete Tommy. »Und wenn ich du wäre, würde ich mir ein paar Notizen machen zum Thema Läuterung. Vielleicht kannst du’s ja mal irgendwo irgendwann verwenden.«

»Arschloch!«, antwortete Johanna. Dabei wusste sie doch ganz genau, dass dies das einzige Wort war, welches Tommy vor lauter Abscheu eine Gänsehaut bereitete. Sie kannte seinen Körper, sie kannte seine Seele, sie kannte seine Wünsche, Ängste, Möglichkeiten, Grenzen. Und sie wusste, wann ihm ein Schauer über den Rücken läuft. Warum sie es jedoch für nötig hielt, einen solchen Schauer überhaupt auf den Weg zu schicken – in der letzten Zeit immer öfter –, das wusste sie nicht. Sie hielt es auch für überflüssig, darüber nachzudenken.

Johanna konnte sich nicht erinnern, dass Tom ihr nach den ersten Ehewochen, während derer sie ihre sexuellen und sonstigen Rituale ausgehandelt und etabliert hatten, noch irgendetwas Neues, Überraschendes geboten hätte. Und das war ihr recht so. Sie hatte ihre frühe Jugend im Dunstkreis einer verwirrenden, geheimnisvollen Leidenschaft verbringen müssen und sie fand dies, rückblickend, alles andere als erstrebenswert.

Ihre Eltern hatten einander aufgefressen, und da der Hunger des Vaters gieriger gestillt worden war als der der Mutter, war er zuerst mit ihr fertig gewesen und hatte den unverdaulichen Rest einfach liegen gelassen.

Nein, so nicht, niemals! Mit seiner Überschaubarkeit und moderaten Lebensweise war Tommy genau richtig für sie.

Von ihrer Freundin Pippa, die ihr zur Läuterung diente und derentwegen sie Tom so unangemessen beschimpft hatte, konnte sie das nicht sagen.

Obgleich sie beide als sehr junge Mädchen während ihrer Internatszeit sechs Jahre lang im gleichen Zimmer gewohnt hatten, kannte Johanna sie kaum. Eine Weile hatte sie eifrig Ausschau gehalten nach Pippas Seele, dann jedoch resigniert festgestellt, dass in diesem Fall der Körper die Seele wohl unsichtbar gemacht hatte. Im Alter von zwölf, dreizehn Jahren war ihr allein das Volumen von Pippas Weiblichkeit beängstigend und eigentlich obszön erschienen. Doch wie alles Obszöne auch anziehend.

In Momenten großer Einsamkeit wäre Johanna liebend gern in Pippas gigantischer Fleischlichkeit untergegangen. Nichts jedoch schien der Freundin ferner zu liegen, als sich für die Erfüllung irgendwelcher obskurer Sehnsüchte herzugeben. Sie trug stets hoch geschlossene Kleider, baumwollene Ammen-BHs und fischbeinbewehrte Hüftgürtel. Nur im äußersten Notfall fand sie sich zu körperlicher Berührung bereit. Kaum je ein Handschlag, nie eine Umarmung. Ihr langes, glattes, weißblondes Haar trug sie nach hinten gestriegelt und zu einem tütenförmigen Dutt gedreht.

Pippa besaß einen Titel, aber kein Geld. Die Schulkosten wurden aus dem Legat irgendeines fernen Onkels bezahlt. Das Schloss ihrer Familie, Brenton Hall, war ein hässlicher, schmutzig grauer Kasten, umgeben von einem struppigen Garten. Johanna war nur einmal dort gewesen, in der Mitte ihres dritten Internatsjahres. Der alte Earl war gehbehindert und sabberte. Als Johanna am ersten Morgen zufällig allein mit ihm im Frühstückszimmer war, ließ er sich von ihr den Tee einschenken. Und während sie sich bemühte, die schwere, silberne Teekanne über seine Tasse zu halten, kniff er sie in den Po.

Damals war auch Philippas Zwillingsbruder zu Hause, ein schlaksiger Jüngling mit rotblonden Locken. Er war Johanna vor allem dadurch aufgefallen, dass er sich fortwährend die Lippen befeuchtete.

Kein einziges Mal richtete er das Wort an sie, fixierte sie jedoch auf eine ungeniert abschätzende Weise, wann immer sie ihm im Haus oder im Garten begegnete. Unter seinem Blick fühlte sie sich jedes Mal wie etwas Essbares, das auf seinen Nährwert taxiert wird. Natürlich fand sie ihn widerlich. Dennoch ertappte sie sich mehrmals dabei, dass sie an seine Lippen dachte und an diese auffallend rosa Zunge, die darüber hinfuhr.

Als sie sich während der letzten Nacht ihres Aufenthaltes in Brenton Hall durch einen endlos langen, kaum beleuchteten Flur zum Bad tastete, kam er plötzlich hinter einem Schrank hervor und verstellte ihr den Weg. Johanna erschrak kaum, seine Blicke hatten sie gut vorbereitet. Sie war fünfzehn Jahre alt und wusste, dass gewisse Erfahrungen eben gemacht werden müssen. Jamie nahm sie bei den Schultern, drückte ihren Körper gegen die Wand und seinen Mund auf den ihren. Erwartungsgemäß war der Kuss nass und kalt. Sie hielt ganz still, registrierte aufmerksam unerwartete Details, den leicht brandigen Geruch seiner Haut, einen Geschmack von Tannennadeln in seinem Mund, das Klicken ihrer beider Zähne, als sie zusammenstießen, die erstaunliche Härte seiner Zunge und das seltsame Gefühl, angesaugt zu werden. Sie fragte sich, ob ihr tatsächlicher Nährwert seinen Schätzungen entsprach und was wohl als Nächstes kommen würde.

Es kam überhaupt nichts mehr. Denn gerade als Johanna aufhörte, sich weitere Fragen zu stellen, und ihr das Registrieren verging, ließ er ab von ihr. Er richtete sich auf zu seiner vollen Einmeterneunzig-Länge und reckte in einer merkwürdig absurden Geste die Arme hoch über den Kopf, als wollte er dort etwas greifen. Dann wandte er sich um und war kurz darauf verschwunden.

Johanna war wütend. Sie hasste ihn. Den Rest der Nacht verbrachte sie über ihrem Tagebuch, in dem sie fünf verschiedene Versionen des nächtlichen Geschehens aufzeichnete, allesamt mit sehr negativem Ende für James Henry Brenton.

Als sie dann auch noch zusehen musste, wie Philippa, ausgerechnet Philippa!, zum Abschied dieses Miststück von Bruder innigst umarmte und gar nicht aufhören konnte, seine grässlichen Lippen zu küssen, beschloss sie, in Zukunft mit der ganzen Familie Brenton nichts mehr zu tun haben zu wollen.

Leider schaffte sie den Bruch nicht, und inzwischen wusste sie, dass sie auf diese oder jene Weise immer mit Philippa verbunden bleiben würde.

Später hatte Philippa Georg geheiratet und von da an wurde eine Trennung ganz und gar unmöglich.

Ein Anruf aus Frankfurt von der alten Frau Seidler, die Johannas Mutter versorgte. Das Geld sei zu Ende, eine Überweisung dringend erforderlich.

Johanna schreckte zusammen. »Natürlich«, sagte sie schnell, »ich schick’s noch heute.«

»Und nicht zu knapp«, mahnte Frau Seidler, »wir müssen ja leben. Und der mobile Pflegedienst wird auch immer teurer.«

»Klar, auf jeden Fall, mach ich.« Und wie es der Mutter momentan gehe.

»Wie denn schon«, sagte Frau Seidler.

»Ich meine, geht’s ihr besser oder schlechter, kann ich irgendetwas tun?«

»Weiß nicht«, sagte Frau Seidler, »ist wie immer.«

»Braucht ihr mich? Wenn’s sein muss, mache ich mich frei, wirklich.«

»Du kommst ja doch nicht«, sagte Frau Seidler, »bist nie mehr hier gewesen. Wozu auch.«

Johanna seufzte. Sie wusste genau, wozu. Aber sie wusste auch, dass sie nicht nach Frankfurt fahren würde. Gott sei Dank hatte Frau Seidler alles fest in der Hand.

Johanna krümmte sich zusammen unter dem Ansturm ihres schlechten Gewissens. Aber sie gab nicht nach. Nein, sie würde sich nicht dem Anblick ihrer Mutter aussetzen. Wenigstens sorgte sie sich von ferne, zahlte Rechnungen, schickte Pakete und Briefe. Das ganze Geld, das sie mit ihrer Arbeit verdiente, ging dabei drauf. Und neuerdings schickte sie auch manchmal ihre älteste Tochter, die fuhr sogar gern. Eine große Erleichterung.

Am Nachmittag machte sich Johanna tatsächlich auf den Weg zu Philippa. Sie war wütend, weil sie sich selbst den Tag verdorben hatte, weil sie Philippa leider doch liebte und weil sie wieder einmal Tom bitten musste, ihr Konto aufzustocken.

»Warum denn diese lästige doppelte Kontoführung«, hatte Tom am Anfang ihrer Ehe gesagt und sie hatte störrisch geantwortet: »Wenn du schon für alles andere zahlst, dann will ich es wenigstens schaffen, für meine Mutter aufzukommen.«

Tom hatte gelächelt und verständnisvoll genickt, und hatte später nie ein Wort darüber verloren, wenn sie’s doch nicht schaffte. Eine Mutter, die rund um die Uhr versorgt werden muss, ist eine teure Angelegenheit.

Tom war Anwalt und hatte ein gesichertes, wenn auch nicht gerade üppiges Einkommen. Momentan allerdings schien er sich in einer finanziellen Krise zu befinden, irgendeine Investition seiner Firma in den neuen Ländern, die ihm Sorgen bereitete. Johanna hatte ihn gefragt, ob er mit ihr darüber reden wolle, doch er hatte abgewunken: »Davon verstehst du ja leider nichts.«

Der übliche Betrieb auf dem Kurfürstendamm, wozu überhaupt noch hinschauen. Am liebsten würde Johanna die dumpfe Ereignislosigkeit dieses Nachmittags für ihre schlechte Laune verantwortlich machen. Sie starrte beim Gehen auf ihre Füße.

Aber dann riss es ihr plötzlich den Kopf hoch, als hätte jemand sie an den Haaren gezogen. »Hey«, schrie sie wütend, »pass doch auf!«

Wer sollte aufpassen? Niemand stand oder ging in unmittelbarer Nähe. Nur der rotgesichtige Alte hockte samt Hund und Geldschälchen auf seinem Stammplatz vor dem Schokoladenladen Leysieffer. Er warf Johanna einen kollegialen Blick zu: Noch eine Verrückte. Sonst war nichts.

Oder doch? Von der anderen Straßenseite her kam eine Gestalt auf sie zu, ein hochgewachsener Mann, gekleidet in naturfarbenes Leinen, weit geschnittene Hose, legeres langes Hemd, dazu weiche, weiße Slipper und ein Wildlederbeutel über der Schulter. Der Hundertneunzehner-Bus stoppte direkt vor ihm, zwei Autos ergingen sich in sinnlosem Gehupe. Den Mann schien das nicht zu irritieren. Gelassen wanderte er seines Weges, die Augen hielt er auf Johanna gerichtet, sie spürte es auf eine schockierende, ihr keineswegs angenehme Art. Er hatte seinen Blick in den ihren verhakt und nun hing sie daran wie ein Fisch an der Angel. Johanna stellte sich tot. Ihr gekonnt starrer Leichenausdruck würde dem Kerl hoffentlich die Tour vermasseln. Tat er aber nicht. Der Mann kam so nahe an sie heran, dass sie schon dachte, er wolle sie umrennen. Doch ehe sie noch zur Seite springen konnte, änderte er geringfügig seine Gehrichtung und ließ sie mit einem kurzen Abschiedszwinkern vom Haken.

Sie wendete sich um und sah hinter ihm her. Jetzt waren auch wieder andere Menschen auf der Straße. Johanna zuckte die Schultern und schnitt eine kleine, selbstironische Grimasse.

Der fremde Bruder

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