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Als Johanna sich verabschieden wollte, klingelte es an der Wohnungstür. Noch bevor Philippa sich aus dem Karussellschwan hochwinden konnte, war Johanna aufgesprungen. »Lass nur, ich öffne schon.«

»Bitte sieh vorher durch den Spion«, rief Philippa hinter ihr her, »man kann ja nie wissen.«

Eine Minute später kam Johanna ins Wohnzimmer zurück. Und mit ihr jener leinenbekleidete Mann, mit dem sie vorhin beinahe zusammengestoßen wäre. »Der hier behauptet, er sei dein Bruder.«

Philippa sackte in sich zusammen. Sie wirkte wie ein Ballon, aus dem langsam die Luft entweicht. Alles an ihr begann herunterzuhängen, auch die Wangen und die Winkel ihres Mundes, was in merkwürdigem Gegensatz stand zu den weit aufgerissenen Augen.

Der Mann stand ganz ruhig da, etwa zwei Meter von Philippa entfernt, und schien nicht die geringste Absicht zu haben, irgendetwas zu erklären.

Neugierig wanderte Johannas Blick über das bärtige Gesicht, blieb hängen an den vollen rosa Lippen inmitten farbigen Bartgeriesels. Sie musste an einen fünfzehnjährigen Jüngling denken, der sich fortwährend die Lippen befeuchtet, und konnte nicht verhindern, dass sich eine weitere Erinnerung aufdrängte. Es war in England gewesen, vor ungefähr fünfzehn Jahren. Sie hatte in einer Menschenmenge gestanden, ein paar Meter entfernt von Pippa. Die Freundin hatte den Kopf gedreht und an ihr vorbeigeschaut, und als Johanna Pippas Blick gefolgt war, hatte sich neben ihr ein Mann umgedreht und war kurz darauf verschwunden. Pippa hatte hinter ihm hergesehen, mit weit aufgerissenen Augen, die voller Verzweiflung gewesen waren.

Seit über elf Jahren war Philippas Zwillingsbruder James Henry tot, umgekommen in Indien. Johanna hatte damals teilgenommen an der Trauerfeier in Brenton Hall, bei der Pippa den Eindruck einer starrgesichtigen Riesenmarionette gemacht hatte, die von ihrem Gatten Georg mit jeweils leichter Verspätung von einer Stelle an die andere gebracht werden musste.

Wer aber war dieser hier? Was wollte er von Philippa und was wollte er vorhin von ihr?

Schöne Bescherung!, dachte Johanna. Mal sehen, wie Pippa damit fertig wird.

Doch bevor die Freundin noch ganz in sich zusammenfallen konnte, besann sich Johanna auf die alten Mechanismen der Schulkameraderie. Sie ergriff auf nicht sehr graziöse Weise die Hand des Mannes und schüttelte sie kräftig. »Hallo«, sagte sie, »gut, dich mal wiederzutreffen. Wir kennen uns von früher und sind uns vorhin schon auf dem Kudamm begegnet. Ich bin Johanna Kornstadt. Freut mich, dass du noch lebst!« Und zu Philippa gewandt: »Wirklich, Pippa, das ist mal eine freudige Überraschung. Was es doch so alles gibt im Leben!«

Pippa kam zu sich, pumpte sich langsam wieder auf, straffte sich, reckte den Hals, zwang ihre Mundwinkel nach oben und sagte: »O Jamie …!«

Der Mann verbeugte sich: »Roger Manusa.«

Philippa schüttelte den Kopf. »Dein Name ist James Henry Brenton, achter Earl of Brenton Hall. Du bist seit elfeinhalb Jahren tot.«

»Der Yogi fällt nicht unter das Gesetz des Todes«, antwortete der Mann freundlich.

Philippa wollte das nicht gelten lassen. »Ein Unfall in Indien. Jemand hat wahrscheinlich auf dich geschossen. Dafür gab es mehrere Zeugen. Nicht nur die Inder, auch dein Freund und Kollege Jeremy Studebaker, mit dem du zusammen in Eaton warst. Ganz davon abgesehen, solltest du dich umgehend rasieren. Niemand in unserer Familie hat je einen Vollbart getragen. Wir haben es nicht nötig, unsere Gesichtszüge zu verbergen.«

»Der Yogi weigert sich, gelebt zu werden. Er bestimmt über sich selbst, er ist frei.«

Johanna beobachtete die Freundin, sie wollte jetzt nichts verpassen. Am Abend des gleichen Tages würde sie in ihren »Ideen und Notizen« festhalten:

»Es war, als ob Philippa wie durch Zauberhand plötzlich neu verkabelt worden wäre. Mit offenem Mund stand sie da und lauschte. Dabei hatte der Yogi nach seinem blödsinnigen Freiheitsbekenntnis nichts mehr gesagt. Schien sich um irgendetwas Nonverbales zu handeln. Ich fühlte mich vollkommen fehl am Platz, konnte aber nicht aufhören, sie zu beobachten. Schweiß stand auf Pippas Stirn, sie atmete hastig, keuchte fast. Und dann ließ sie langsam aus ihrem offenen Mund die Luft entweichen, ein tiefer, schier endloser Seufzer, gefolgt von einem etwas verblödet wirkenden Lächeln.

Sie machte ein paar Schritte auf Jamie zu, ließ den Kopf gegen seine Brust sacken und schlang ihre prallen Arme um ihn. Gemächlich führte er sie zum Sofa. Dort setzten sich die beiden, er aufrecht, sie in halb liegender Stellung an ihm hängend. Anscheinend hatte sie nicht die Absicht, ihren Tränenfluss zu zügeln, sie heulte sich ein. Jamie streichelte ihr Gesicht und badete seine Finger genüsslich in ihren Tränen.«

»Ich geh dann lieber«, sagte sie jetzt noch einmal. »Es ist nämlich wegen Tom, der kann’s nicht ausstehen, wenn er sich seinen Feierabenddrink allein einschenken muss.«

Die Erklärung hätte sie sich sparen können. Die beiden auf dem Sofa schienen ihre Umgebung nicht mehr wahrzunehmen. So überflüssig sich Johanna hier auch fühlte, so schwer fiel es ihr doch, gerade jetzt die Szene zu verlassen. Ein Mann war gekommen und hatte Philippa Brenton aus der Fassung gebracht. Ihr Bruder aber konnte er nicht sein, dessen Tod vor elfeinhalb Jahren war so zweifelsfrei bestätigt worden, dass sogar der professionelle Lloyd’s-Schnüffler kein Haar in der Suppe hatte finden können. Die hohe Lebensversicherung musste ohne Abstriche ausgezahlt werden. Jamies Leiche war in einem Bleisarg nach Brenton Hall überführt und dort im Familiengrab beigesetzt worden. Und warum benahm Pippa sich so, als handelte es sich nicht um einen Bruder, sondern um ihren heiß ersehnten und endlich heimgekehrten Geliebten? So hatte Johanna ihre Freundin noch nie gesehen, auch nicht damals, als sie sich den armen Georgie gegriffen hatte.

Der arme Georg, Johannas große Liebe. Georg, dessen Seele ihr immer ganz gehört hatte, dessen Körper sich jedoch durch einen schrecklichen Zauber dem ihren immer wieder entziehen musste, und der, je näher sie ihm kam, umso entschiedener zurückwich.

Georg, mit dem sich Johanna vor vielen Jahren, als sie noch jung und naiv war, ein einfaches, gradliniges Lebensglück erwartet hatte. Georg, Johannas Fata Morgana.

Zweimal schon hätte sie ihren Liebsten fast verloren, nur weil sie ihm zu nahe gekommen war.

Georg, der Schöne, Sanfte, Melancholische, der verhinderte Dichter, lebte seit nunmehr vierzehn Jahren in glückloser Ehe neben Philippa her.

Johanna überlegte, dann wendete sie sich zur Hausbar, ergriff eine drei viertel volle Flasche Black Label – natürlich wusste sie, dass Pippa Red Label oder noch Preiswerteres eingefüllt hatte, aber Alkohol ist schließlich Alkohol – und ging schnellen Schrittes in das Gästezimmer. Dort lag Georg matt im Bett, sein Gesicht war fleckig, die Augen rot umrandet.

»Hallo, mein Lieber«, sagte sie, »wie fühlst du dich?«

Durch seine müden Augen blitzte ein kurzer Funke freudiger Überraschung.

»Ach Johanna …!«

Sogar in diesem miserablen Zustand fand sie ihn noch umwerfend attraktiv und die Art, wie er ihren Namen aussprach, ließ ihr die Knie weich werden. Er zog eine traurige kleine Grimasse. »Du weißt ja, die Uganda-Leber.«

»Ach Georg …!«

Johanna zog es das Herz zusammen. Doch bevor ihr noch die Tränen kommen konnten, schob sie Georg die Flasche unter die Bettdecke, sagte: »Lass dich wenigstens nicht erwischen!«, und war schon wieder draußen.

Mit einem kurzen Blick stellte sie fest, dass sich die Situation auf dem Wohnzimmersofa inzwischen nicht geändert hatte. Philippa hing schluchzend an dem großen fremden Mann und der saß gelassen und bewegungslos da und blickte mit weit geöffneten Augen in die Ferne.

Der fremde Bruder

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