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Johanna war in einem Dorf auf der Insel Rhodos aufgewachsen, als Kind deutscher Eltern, die schon sehr früh, noch bevor der große Trend einsetzte, in selbstfinderischer Absicht dem deutschen Wirtschaftswunderland und der Zivilisation den Rücken gekehrt hatten.

Das Dorf war arm und schmutzig. Der Müll wurde über die Felsen in die Bucht gekippt, es gab weder Strom noch fließendes Wasser, und die Hälfte der Häuser stand leer, weil die Menschen anderswo ihren Lebensunterhalt verdienen mussten. Aber das Dorf war auch reich und glänzend, denn es verfügte über eine dreitausendjährige Tradition, über eine weite geschützte Bucht und über ein paar prachtvolle Häuser aus byzantinischer Zeit, die in einem vernünftigeren Land längst vom Staat mit Beschlag belegt worden wären. Eines dieser Häuser kaufte Johannas Vater für geliehene viertausend Dollar. Es hatte eine riesengroße Sala mit ornamentierten Wänden und bemalter Holzdecke, einen Innenhof, ein kleines Winterzimmer, einen Abstellraum mit Loch im Boden für die Notdurft, eine Küche und über der Küche ein sogenanntes Kapitänszimmer mit Fenstern in alle vier Richtungen. Im Winterzimmer bewahrte der Vater seine Malutensilien auf. Im Kapitänszimmer betrank er sich. Der hintere Teil der Sala, der durch ein hölzernes Podest, die Banca, erhöht war, diente als Schlafzimmer, der vordere als Wohnraum. Hier auf dem breiten alten Holztisch war Johanna geboren worden.

»Warum nicht im Krankenhaus?«, hatte sie später ihren Vater gefragt, als ihr klar geworden war, dass sich sogar die ärmsten Dörflerinnen zur Geburt ihrer Kinder in die Kreisstadt ins städtische Hospital begaben. »Weil der erste Blick unseres Kindes nicht auf die hässlichen Wände eines halbmodernen Kreißsaals fallen sollte, sondern auf die dreihundert Jahre alte Schönheit dieses Hauses. Und weil seine erste Geruchserfahrung nicht die von Desinfektionsmitteln sein sollte, sondern von Zitronenblüten und Räucherstäbchen.«

»Und wenn etwas schief gegangen wäre? Panajota hat mir erzählt, dass die Frau bei der Geburt immer mit einem Fuß im Grab steht und dass sie deshalb ganz grässlich laut schreien muss. Nämlich um die bösen Geister zu vertreiben und auch weil alles so furchtbar wehtut. Panajota sagt, es ist, als ob einem der Leib von wilden Tieren zerbissen und zerrissen würde.«

»Bei der Geburt hat niemand geschrien, stattdessen haben wir Musik gehört, in der Einleitungsphase zur Klärung des Bewusstseins Barockmusik, später Duke Ellington und schließlich während der letzten Presswehen Cab Calloway. Und was den Leib deiner Mutter anbelangt – sieh ihn dir doch an: vollkommen wie die Venus von Milo, daran haben gewiss keine wilden Tiere herumgebissen.«

Das stimmte. Dieses Muster aller Vollkommenheit, mit dem Johanna, wenn die Mutter für den Vater Modell stand, ausgiebig konfrontiert wurde, wies keine Risse oder Bisse auf. Es war weiß und durchscheinend zart wie frisch gekochter Kohlrabi, hatte allerdings manchmal an den ausgefallensten Stellen blaue Flecken, die der Vater dann lachend mit schnell trocknender Temperafarbe übertünchte.

Panajota war ohnehin nicht ganz ernst zu nehmen. Sie hatte eine uneheliche, dazu noch ganz auffallend dunkelhäutige Tochter, war also eine Gefallene, und musste bei Johannas Eltern für ein paar Drachmen die tägliche Hausarbeit erledigen – sie war so weit unten, dass sie gar nicht mehr tiefer sinken konnte.

Panajotas Tochter hieß Agatha. Sie hatte einen Wust schwarzer krauser Haare, sehr weiße Augäpfel und noch weißere Zähne, ein Hohlkreuz und einen herausstehenden runden kleinen Hintern. Sie war zwei Jahre älter als Johanna und deren einzige Freundin. Wenn Panajota zum Putzen antrat, wurde sie stets von Agatha begleitet, meine Assistentin, so nannte ihre Mutter sie. Agathas Assistenz erschöpfte sich darin, Johanna, die sonst immer nur neugierig glotzend herumgestanden hätte, aus dem Weg zu räumen. Panajota war freundlich, träge und ungeschickt. Agatha dagegen war quicklebendig, praktisch und phantasievoll. Meistens verzogen sich die beiden Mädchen auf das Saladach und schauten in den Hof hinunter, um zu sehen, was die Eltern trieben.

»Irgendwie find ich das unanständig«, sagte Agatha.

»Wieso denn, mein Vater ist doch Maler.«

»Aber er malt ja nicht immer.«

Als Johanna sechs Jahre alt war, sollte für sie ordnungsgemäß der Schulunterricht beginnen. Die Schulbehörde gestattete aber dem Vater, der ein ausgebildeter Lehrer war, das Kind daheim zu unterrichten. Da dieser jedoch Wichtigeres zu tun hatte, blieb, wie so manches andere, auch die Schulung des Kindes an der Mutter hängen, die der Vater immer mit »Weib« anredete, Weib geliebtes, Weib schönes, Weib kostbares und so weiter. Kostbar ist sie ganz sicher, dachte Johanna, denn die Mutter hüllte sich stets in golddurchwirkte Tücher und dekorierte ihre Stirn mit einem Edelstein.

Bevor die Eltern sich auf der Insel niedergelassen hatten, waren sie durch Indien gereist, und der Vorrat an Tüchern und Steinen und Ketten und Armreifen war unermesslich. Ihr langes, dunkles Haar trug die Mutter, wenn sie zu Hause war, offen, und wenn sie ausging, hinten zu einem Zopf geflochten. Ihre Augen waren mit einem dicken schwarzen Strich umrandet, die Lider stets dunkelblau geschminkt und die Haut an der Kehle so durchscheinend, dass man dahinter das Blut klopfen sah. Wenn der Vater die Mutter betrachtete, schossen aus seinen Augen Blitze, die Johanna stets als gefährlich empfand.

Die pädagogischen Bemühungen seiner Frau bezeichnete der Vater bald als pure Zeitverschwendung. »Das haben wir doch längst hinter uns«, sagte er, »überlass das anderen.«

So wurde Johanna in ein blaues Kittelchen gesteckt und in die griechische Volksschule gebracht, nur so zum Spaß, wie ihre Mutter betonte. Schon am ersten Tag rannte das Kind nach zwei Stunden heulend nach Hause und schrie, dass es unter Spaß weiß Gott etwas anderes verstünde und dorthin auf gar keinen Fall wieder gehen würde. Da die Eltern sich vorgenommen hatten, ihre Tochter nie zu etwas zu zwingen, musste wohl oder übel die Mutter wieder einspringen. Gott sei Dank gab es auch ein paar englische Kinder im Dorf, und als sich die vier Familien gemeinsam einen Junglehrer aus England leisten konnten, nahm Johanna an deren Unterricht teil.

Richtig wohl gefühlt hat sie sich jedoch fast nie auf dem Terrain anderer Kinder, weil sie dort vor lauter ängstlicher Disziplinierung ihrer eigenen fünf Sinne kaum dazu kam, etwas aufzunehmen und zu begreifen. Im Grunde wollte sie immer nur zu Hause sein und ihren Eltern zuschauen. Trotz ihrer Angst vor dem Vater empfand sie das Vertraute als Schutzraum, in dem sie sich selbst loslassen konnte.

Johanna besaß einen ungewöhnlich stark entwickelten Geruchssinn, der Außenstehende verblüffte. Ihre Eltern jedoch waren überzeugt, dass die auserwählten Erstgerüche den unberührten Sinn des Kindes geprägt und zu höchster Sensibilität inspiriert hatten: Ölfarbe und Terpentin, gekochtes Essen – die Eltern waren Vegetarier –, Holzfeuer im Kamin und der den Hof überschattende Zitronenbaum.

Dieser Baum, der fast das ganze Jahr lang entweder Blüten oder Früchte oder auch gleichzeitig Blüten und Früchte trug, hatte eine besondere Funktion im Leben der Familie. Um ihre jeweilige Stimmung kundzutun, schmückte die Mutter ihn mit großen Seidenschleifen und behängte ihn mit ihren Tüchern. Meist benutzte sie helle Farben, weiß stand für Selbstbesinnung und das Bedürfnis, in Ruhe gelassen zu werden; blau für weit schweifende Gedanken; grün für häusliche Anliegen und gelb für Heiterkeit und Energie. Die rote Farbe blieb für den Bettvorhang reserviert und auf Schwarz konnte die Mutter verzichten – »bislang hat dein Vater das Dunkel von mir fern gehalten, ich werde den Baum nicht vor der Zeit damit belasten.«

Einmal, als sie sich besonders »hell« fühlte und der Baum mit all den weißen Tüchern und Schleifen aussah wie ein riesiges Brautbukett, sprang sie ganz plötzlich von dem alten Holzstuhl hoch, auf dem sie gerade für ihren Mann Modell saß, und kletterte behände wie eine Katze in den Baum hinein. Dort legte sie sich, nackt wie sie war, auf einen breiten Ast zwischen die Blätter und rührte sich nicht mehr. Eine ganze Weile wartete der Vater schweigend unter dem Baum und starrte hinauf. Aus seinen Augen schossen Blitze. Johanna stand neben ihm und starrte mit. Sie hatte Angst, dass die Mutter nie wieder auf die Erde zurückkommen würde. Schließlich sagte der Vater: »Sie meint wohl, sie wäre eine Zitrone. Dann steigst du jetzt nach oben, pflückst sie und wirfst sie zu mir herunter. Ich werde sie auffangen.«

»Steig doch selbst«, sagte Johanna tapfer.

»Unmöglich, ich bin zu schwer, die Äste würden unter mir wegbrechen. Wenn du nicht steigen willst, muss ich den Baum eben schütteln, dann kann ich sie aber nicht auffangen und ihre Zitronenhaut wird zerplatzen.«

Also stieg Johanna auf den Baum. Sie hockte sich neben die Mutter und sagte: »Mama, spring. Sonst schüttelt der Papa dich hinunter und du wirst dir wehtun.«

Die Mutter lag bewegungslos. Johanna blickte unter sich. Die Augen des Vaters sahen wild aus und er roch nach Schweiß. Da nahm Johanna all ihren Mut zusammen und gab der Mutter einen Stoß, einen winzig kleinen nur, aber die Mutter glitt wie eine überreife Frucht von dem Ast und durch die raschelnden Blätter nach unten. Der Vater fing sie auf, trug sie zurück zu dem Holzstuhl vor der Staffelei und setzte sie hin. Sorgfältig brachte er ihren Körper, der seltsam knochenlos schien, in die alte Position, band ihn mit einem der weißen Tücher an der Rückenlehne fest und machte sich wieder an die Arbeit. Johanna beobachtete ihre Eltern von oben. Sie fühlte sich sehr allein.

Es kam aber auch vor, dass sich die Mutter dem Vater einen ganzen Tag lang verweigerte, vom frühen Morgen bis in die späte Nacht. Dann flocht sie sich kurz nach Sonnenaufgang einen strammen Zopf, nahm ihren bunt bestickten Beutel und schlüpfte wortlos durch die Hoftür hinaus. Auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck nervöser Erwartung. Der Vater schaute grimmig, folgte ihr jedoch nie.

Er malte nicht an solchen Tagen. Er nahm auch keine Notiz von seiner Tochter, er saß nur so da oder stand oder ging hin und her, als wäre sein einziges Bestreben, Zeit vergehen zu lassen. Gegen Mittag dann marschierte er ins Dorf, setzte sich auf die steinerne Bank vor Pawlos’ Bar und begann sich langsam und systematisch zu betrinken. Meistens leistete ihm der Dorfalkoholiker dabei Gesellschaft. Der war der einzige Mann im Dorf, mit dem Johannas Vater so eine Art Freundschaft verband. Eine Unterhaltung zwischen den beiden fand aber nicht statt. Der Alkoholiker sagte nur gelegentlich: »Wie geht’s deiner Frau?« oder »Du hast eine schöne Frau!« oder »Solch eine schöne Frau wie deine hätte ich auch gern«, das war alles.

Nach fünf, sechs Stunden war dann der Moment gekommen, in dem Johannas Vater genug hatte. Genug bedeutete die exakte Grenzlinie erreicht zu haben zwischen angestrebter Gehirnvernebelung und dem Verlust der Körperbeherrschung. Falls diese Linie doch einmal überschritten wurde, brachte der Alkoholiker seinen Freund nach Hause. Normalerweise ging der Vater allein, aufrecht, mit steifem Rücken und in den Hosentaschen verkrampften Händen. Er warf sich angezogen aufs Bett und zog den roten Vorhang zu.

An solchen Tagen ging auch Johanna früh schlafen. Sie lag auf dem Rücken, die Hände unter dem Kopf und dachte sich Geschichten aus, in denen ihre Mutter die Hauptrolle spielte. Angst hatte sie nicht, denn die Geschichten liefen immer auf ein gutes Ende zu, und regelmäßig schlief sie ein, ehe die Mutter nach Hause kam.

Am nächsten Morgen war dann alles wieder normal. Die Mutter hatte beim Vater hinter dem Vorhang gelegen und kam in der Frühe nur kurz heraus, um der Tochter mitzuteilen, dass diese heute für sich selbst sorgen müsse. Was Johanna auch tat: Sie ging nicht zum Unterricht, kaufte sich vom Haushaltsgeld ihrer Mutter ein großes Stück Wurst und setzte sich damit und mit einem Zeichenblock auf das Saladach, um ihre Geschichte vom Abend zuvor zu illustrieren. Dass sie dabei die Sünde der Fleischfresserei beging, gab der Sache einen Sonderreiz und machte auch die Zeichnungen fleischlicher, als sie anfangs konzipiert worden waren.

Im Laufe der Zeit gab es diese Verweigerungstage häufiger, vielleicht ein-, zweimal im Monat, und Johannas Vater ging auch nicht mehr ausschließlich zu Pawlos’ Bar. Wo er sich während dieser Stunden aufhielt, wusste Johanna nicht, doch machten ihr die Alleingänge des Vaters viel mehr Sorgen als die der Mutter, die am nächsten Tag immer nach Meer und Sonne roch und manchmal sogar ein paar Sommersprossen auf der Nase hatte. Der Vater aber roch, außer nach Alkohol, nach fremdem Herdfeuer und Schweiß.

Als Johanna zwölf Jahre alt war und neben dem häuslichen Deutsch zwar fließend englisch und griechisch redete, jedoch keine der drei Sprachen einigermaßen korrekt schreiben konnte, griff Johannas Großvater mütterlicherseits ein und bereitete der griechischen Idylle, der er auch ohne nähere Kenntnis tief misstraute, ein Ende. Er drohte mit der Streichung des erheblichen finanziellen Zuschusses, wenn sein einziges Enkelkind nicht endlich in eine ordentliche Schule käme. Unter viel Gerede und peinvoller Seelenschau gaben die Eltern schließlich nach. Und Johanna fühlte sich nicht nur verkauft, sondern auch noch schuldig an den Gewissensqualen ihrer Eltern.

Schließlich stand sie auf der Gangway des Flugzeuges, das sie nach Frankfurt bringen sollte. Sie weinte nicht. Umso mehr Tränen vergossen ihre Eltern. Johanna begriff, dass sich von nun an alles ändern würde. Das Spiel war vorüber. Die Eltern hatten ihre Zuschauer verloren.

Da es dem verwitweten Großvater unmöglich war, sein Enkelkind zu sich zu nehmen, hatte er für sie ein Internat gesucht, und zwar ein englisches. »Dort schätzt man noch das Althergebrachte und weiß, was gute Erziehung bedeutet.«

Johanna in Oakshot School, West Sussex, einem Mädcheninternat, das sich dem deutschen Pädagogen Karl Hahn verbunden fühlte. Hehre Prinzipien von ständiger freiwilliger Selbstkorrektur (sprich Selbstbestrafung), von seelischer Disziplin und Körperertüchtigung, mens sana in corpore sano, was für Johanna ungefähr so abwegig war, als wolle man Tarzan von einem Tag auf den anderen zum Tänzer im königlichen Hofballett machen.

Zum Abschied hatte die Mutter Johanna noch einmal die Haare gestutzt, auf Streichholzlänge, damit sie nicht so bald wieder geschnitten werden müssten. Als sie ihr Werk betrachtet hatte, waren ihr die Tränen gekommen. »Ach mein armer, armer Schatz, was wird nur aus dir werden?«

Johanna fand die Kurzhaarfrisur ganz lustig, die Mitschüler im Internat schlossen sich eher der Meinung der Mutter an, ach die arme, arme Johanna! Und bald wurde aus der armen vor allem die dumme Johanna und dann die ruppige, struppige, freche Johanna, die der Gruppe, Klasse, Schule keine Ehre machte, die den Durchschnitt verpatzte, die niemand im Team haben wollte, die dumme Fragen stellte und allen auf die Nerven ging.

Der Schulleiter, ein gutmütiger, hilfloser Mann, von den Schülern allgemein Good Ol’Henry genannt, kam schließlich auf die Idee, Johanna Kornstadt in ein Zimmer mit Lady Philippa Brenton zu stecken. Offenbar glaubte er an die Anziehung der Gegensätze, denn außer dass Philippa eine deutsche Mutter hatte (beziehungsweise bis vor einem Jahr gehabt hatte), schien die beiden kaum etwas zu verbinden. Philippa war ungefähr doppelt so groß und dreimal so schwer wie Johanna, die neben ihr wirkte wie ein halb verhungertes Pony neben einem blank gestriegelten, wohlgenährten Vollblüter.

Als Johanna sich am ersten Abend auszog, saß Philippa auf ihrem Bett und inspizierte mit gerunzelter Stirn den Körper der neuen Genossin.

»Du siehst ja aus wie ein Junge«, sagte sie.

»Für einen Jungen fehlt mir der Schwanz«, sagte Johanna grob.

»Wir nennen das hier nicht Schwanz, sondern Penis«, korrigierte Philippa ruhig.

»Und für ein Mädchen fehlen mir die Titten«, fuhr Johanna fort.

»Busen!«, korrigierte Philippa. »Tatsächlich, du hast weder noch. Ein Neutrum. Sehr merkwürdig. Hast du schon Besuch gehabt?«

»Von wem?«

»Besuch ist unser Ausdruck für Menstruation. Also: menstruierst du schon?«

»Nein. Und ich habe auch nicht vor, es je zu tun.«

»Aha. Dann werde ich dich also Joe nennen.«

Johanna war jetzt drei Monate im Internat. Sie hatte unzählige Flehbriefe an ihre Mutter geschickt, die diese nie beantwortete. Nicht etwa, dass die Mutter ihre Tochter ohne Post ließ, keineswegs, alle vierzehn Tage kam ein Kuvert mit gepressten Blumen oder ein paar flachen Muscheln oder einer Haarlocke oder einem bunten Fetzen von Mamas Saritüchern. Darüber hinaus schrieb die ferne Mutter viele hübsche Postkarten und Nachrichten über kleine Ereignisse im Haus und vor allem über den Vater und dessen künstlerische Arbeit. Also beschloss das Kind, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Sie tat, was sie konnte, um von der Schule geworfen zu werden. Sie störte den Unterricht, sie beleidigte die Lehrer, sie ließ schließlich sogar die Hühner des Hausmeisters frei, doch Good Ol’Henrys Geduld war grenzenlos, die Lehrer gaben vor, sich über die Bemühungen der kleinen Wilden zu amüsieren, und die Hühner kehrten freiwillig an die Futtertröge zurück. Da blieb Johanna nichts anderes übrig, als den empfindlichsten Punkt zu reizen, die allgemeine Schülermoral, und sich dadurch endgültig untragbar zu machen.

Heimlich durchstöberte sie die Schränke der Mitschülerinnen, stahl deren verborgene Süßigkeiten und stapelte diese, nur oberflächlich mit Wäsche bedeckt, in ihrem eigenen Schrank. Nichts sei so schändlich wie Kameradendiebstahl, hatte man ihr gesagt. Natürlich wurde schnell klar, wer die Diebin war, doch geschah vorerst gar nichts. Keine Anzeige, kein Verweis. Was Johanna nämlich nicht in Betracht gezogen hatte, war, dass der private Besitz von Süßigkeiten verboten war, dass also auch keine der pädagogischen Autoritäten angerufen werden konnte. Eines Abends aber schritten die Bestohlenen zur Selbstjustiz. Vorsichtshalber wurde Philippa mit einem angeblichen Auftrag von Good Ol’Henry aus dem Zimmer entfernt. Dann gab es kurzen Prozess.

Sechs Mädchen betraten ihr Zimmer, in dem sich Johanna gerade für die Nacht entkleidet hatte. Zuerst war sie nur verblüfft, dann begriff sie und wollte erklären: Nicht die Mitschülerinnen, die Schule habe sie provozieren wollen. Aber dazu kam es nicht mehr. Die Mädchen steckten ihr einen Knebel in den Mund und fesselten sie an den Bettpfosten. Johanna meinte keine Luft mehr zu kriegen. Sie schloss die Augen und versuchte sich intensiv auf Nasenatmung zu konzentrieren. Ein merkwürdig taubes Gefühl machte sich in ihren Beinen breit, wäre sie nicht festgebunden, würde sie wahrscheinlich zu Boden gerutscht sein.

Bisher hatte sie Angst nur als eine diffuse Beschädigung der Seele kennen gelernt, Angst vor dem Verlassenwerden, der Einsamkeit, der Lächerlichkeit. Jetzt plötzlich fürchtete sie um Leib und Leben. Die erste Ohrfeige, die ihr versetzt wurde, riss ihr fast den Kopf vom Körper. Dann ging es Schlag auf Schlag, ins Gesicht, auf den Oberkörper, auf die Beine. Niemand sprach, die einzigen Geräusche im Zimmer kamen von dem Klatschen der flachen Hände und Fäuste auf Johannas Körper und dem Stöhnen der Mädchen, die sich bei ihrer Strafarbeit mächtig anstrengen mussten.

Johanna wird diese Geräusche, wenngleich sie sie im Moment des Geschehens nicht realisiert hat, nie vergessen können. Die Schmerzen werden vergehen, die Risse auf der Haut werden heilen, doch das Geräusch und, intensiver noch, die Gerüche werden bleiben.

Irgendwann ermüdeten die Mädchen, ihre Zornesenergie verläpperte sich, und schließlich hörten die Schläge ganz auf. Mit geschlossenen Augen hing Johanna in den Stricken, sie war weder erstickt noch ohnmächtig geworden. Zum Schluss wurde sie noch ausgiebig mit etwas Stinkendem übergossen, es schien sich um Urin zu handeln. Jetzt stöhnten die Rächerinnen nicht mehr, sie kicherten beglückt. Dann verließen sie das Zimmer.

Johanna blieb allein zurück. Sie hatte es nicht geschafft, ihren Geruchssinn rechtzeitig herunterzudrosseln, und so verbrannte der fremde Urin nicht nur ihre Haut, sondern hielt auch noch Einzug in ihre Seele.

Als Philippa kam und die Bescherung sah, sagte sie wenig. Sie band Johanna los und schleifte sie ins Bad, wo sie sie erst einmal kräftig duschte.

Dann brachte sie die unter Schock Stehende ins Bett. Sie selbst blieb auf einem harten Stuhl aufrecht in der Mitte des Raumes sitzen und hielt die Augen starr auf Joe gerichtet, bis ihr Kopf in einem kurzen Schlaf nach vorne fiel. Diesen Moment benutzte Johanna und schob sich aus dem Bett in Richtung Fenster. Doch noch bevor sie den Fensterriegel aufstemmen und sich hinausstürzen konnte, rettete ihr das Zittern der malträtierten Glieder das Leben. Eine Schale mit Bleistiften rutschte von der Fensterbank und fiel laut scheppernd auf den Heizkörper. Philippa sprang hoch, griff sich die Selbstmordkandidatin, sagte: »Nun werd bitte nicht geschmacklos«, und zwang sie ins Bett zurück. Dann legte sie sich, bekleidet wie sie war, dazu. Die ganze Nacht lang hielt sie Joe in ihren unerbittlichen Armen.

Johanna, die Pippas Abneigung gegen körperliche Berührung kannte, wusste, dass es sich hier um ein Opfer handelte, das Philippa dem Kodex der Kameradschaftlichkeit brachte. Von ihr selbst wurde nichts weiter erwartet als Dankbarkeit und, im gegebenen Fall, entsprechendes Verhalten. Johanna aber wollte weder dankbar sein noch sich überhaupt irgendwie verhalten, sie wollte nur, dass alles aufhörte. Der fremde Uringeruch hatte sich in ihr festgesetzt, sie konnte sich seiner nicht erwehren. Vor lauter Erschöpfung fing sie an zu weinen. Philippa stand noch einmal auf und stopfte sich Watte in die Ohren. »Du kannst einem wirklich den Nachtschlaf verleiden«, sagte sie.

Am nächsten Morgen war Johannas Gesicht stark verquollen und sie hatte Fieber. Die Hausmutter meinte, es müsse sich um eine seltene Art von Mumps handeln. Sie legte ihr zwei Packungen mit Tiefkühlerbsen aufs Gesicht. »Ein altes Hausmittel«, sagte sie dazu.

»So alt nun wieder auch nicht«, meinte Philippa, »die haben hier erst seit drei Jahren eine Tiefkühltruhe.«

Philippa saß auf ihrem harten Stuhl zwischen Bett und Fenster. »Wo viel Licht ist, ist auch Schatten«, sagte sie, »und umgekehrt.« Mit dem Licht meinte sie anscheinend ihre Befreiung vom Unterricht zwecks Krankenwache. »Schließlich ist Mumps ansteckend, habe ich zu Good Ol’Henry gesagt. Und der war sehr einsichtig. Es ist ja allgemein bekannt, dass Mumps den Männern an die Potenz geht.«

»An die was?«, flüsterte Johanna durch ihre aufgesprungenen Lippen.

»Fähigkeit zum Vollzug des Geschlechtsaktes.«

»Der ist doch gar nicht verheiratet«, lispelte Johanna.

»Was hat denn das damit zu tun? Schwule brauchen erst recht einen funktionsfähigen Penis.«

»Was ist ein Schwuler?«

»Mein Gott, bei deiner bisherigen Erziehung ist wirklich manches verschlampt worden. Ein Schwuler ist ein gleichgeschlechtlich Liebender. Der Akt wird rektal ausgeführt.«

»Mir wird übel«, stöhnte Johanna und rollte aus dem Bett, »ich muss zum Klo.«

Die pflichtbewusste Philippa begleitete sie. Unterwegs begegneten ihnen zwei Mädchen von der gestrigen Strafkompanie. Sie sahen Johanna ins Gesicht und dann schnell zur Seite.

Johanna hielt sich die Nase fest zu und schloss die Augen. Sie hatte die Erfahrung gemacht, dass auch die Sehnerven Gerüche aufnehmen können. Was sie nicht verschließen konnte, war ihre Haut. Die Mädchen hatten ihr auch den Geruch des eigenen Urins, der ihr bislang ganz sympathisch gewesen war, verleidet. Nachdem sie sich entleert und übergeben hatte, fühlte sie sich etwas besser, sie konnte wieder Entschlüsse fassen. Leider war das Toilettenfenster vergittert. Im Laufe des Tages sollte sie sich noch mehrfach übergeben müssen. Dabei glang es ihr jedes Mal, ein wenig mehr Erinnerung auszuschwemmen.

Philippa las zwischendurch in einem Buch über Ameisen. Gelegentlich machte sie Johanna eine kurze Mitteilung über das Gelesene.

»Bei den Ameisen sitzt die Nase in den Fühlern«, sagte sie zum Beispiel. »Die Angehörigen eines Staates erkennen sich am Nestgeruch. Jeder Fremdling wird getötet.«

Johanna dachte daran, dass sie ein Fremdling war. Bevor die anderen sie töteten, wollte sie es lieber selber besorgen. Der Gedanke an das Entsetzen und schlechte Gewissen der Staatsangehörigen beim Anblick der Fremdlingsleiche gab ihr neuen Lebensmut.

»Du kannst ja schon wieder grinsen«, sagte Philippa befriedigt.

Vorerst wies Johanna noch jede Besserung von sich. »Das sieht nur so aus«, murmelte sie, »wie bei den Eseln zu Hause auf der Insel. Wenn die grinsen, bedeutet es, dass sie gleich zubeißen.«

Philippa fand das bemerkenswert, in Bezug auf die Esel wie auch auf Johanna. »Wen willst du denn beißen?«, fragte sie.

»Die andern.«

»Mich auch?«

»Darf ich ja wohl nicht, oder? Du hast meinen Nestgeruch.«

»Meinst du? Schließlich ist da immer noch der Klassenunterschied.«

»Das ändert nichts daran, dass du jetzt genauso ekelhaft stinkst wie ich.«

Danach standen die beiden Mädchen eine halbe Stunde lang unter der Dusche und seiften und bürsteten sich gegenseitig ab. Philippa meinte, dass es geholfen hätte. Johanna wusste es besser.

Auch während der nächsten Nacht baute Philippa mit ihrem voluminösen Körper in Johannas Bett einen Deich gegen spontane Eigenmächtigkeit. »Und dass du dich nicht von der Stelle rührst!«, sagte sie, »schließlich brauche ich auch gelegentlich meine Ruhe.« Diesmal zog sie sich wenigstens die Schuhe aus.

Johannas Gefühle schwankten zwischen Dankbarkeit, Zorn und Unbehagen. Ihr war zuvor nicht klar gewesen, dass die Anwesenheit einer zweiten Person das Bett zu solch einem Backofen macht.

Ihre Mutter hatte sie nie zu sich ins Bett genommen, obgleich dort weiß Gott Raum genug gewesen wäre. Die Lagerstatt der Eltern hatte gigantische Ausmaße und war von einem zeltförmigen schweren gestickten Vorhang umgeben, einer kostbaren Antiquität, an der einstmals, so behauptete jedenfalls die Mutter, eine wunderschöne Jungfrau sich bis zum Tag ihrer Eheschließung die Finger wund gearbeitet hatte.

»Bis zum Tag der Entjungferung«, hatte Johannas Vater gedröhnt, »und weil dabei Blut fließen muss, je mehr, umso besser, ist die Grundfarbe rot.«

Er hatte nach seiner Tochter gegriffen – damals war sie sieben oder acht Jahre alt –, hatte sie über seinen Kopf geworfen und mit ausgestreckten Armen wieder aufgefangen, so wie er es immer getan hatte, als sie noch sehr klein gewesen war. Inzwischen war ihr das eher unheimlich, doch hatte sie pflichtschuldig gejuchzt und ein fröhliches Gesicht gemacht.

»Leidenschaft, mein Töchterlein« (schon war sie wieder hochgeflogen), »die Wut des Begehrens« (da hatte er sie aufgefangen), »die Schmerzen der Hingabe, Schweiß und Tränen und das Geschrei der Lust« (und noch einmal hoch), »für all das steht die Farbe Rot« (Absetzen auf dem Boden). »Das Beige des Leinens dazwischen ist die eheliche Langeweile. Und je fleißiger ein Mädchen stickt, umso mehr wird sie später die Langeweile überdecken können mit Glut und Inbrunst und niemals endender Passion.«

Johanna, aus den großen Vaterhänden entlassen, hatte den Vorhang ihrer Eltern genauer inspiziert und festgestellt, dass die rote Stickerei tatsächlich fast den ganzen Stoff bedeckte.

»Dein Vater ist ein Genie«, hatte die Mutter lächelnd gesagt, »nicht nur als Maler, sondern auch als Redner. Niemand kann so gut wie er aus dem Alltäglichen Funken schlagen.«

Das Wort Genie hatte Johanna bereits mehrfach gehört, doch ein anderes, Entjungferung, war ihr fremd. Sie hatte die Mutter danach gefragt und die hatte ihr den Sinn ziemlich korrekt, wenn auch etwas ungeschickt erklärt.

Johanna hatte vor Abscheu und Entsetzen die Augen aufgerissen. Der Vater jedoch hatte schallend gelacht, aus der Zisterne einen Eimer Wasser gehievt und ihn sich über den Kopf gegossen.

»Liebster«, hatte die Mutter gesagt, »du sollst nicht so viel Wasser verschwenden.«

Die Vorhänge des Elternbettes waren immer fest zugezogen geblieben, auch im heißesten Sommer, wenn man jeden Luftzug dringend brauchte und der Vater meist nackt hinter der Staffelei stand. Das düster-rote Zelt hatte auf Johanna eine rätselhafte Faszination ausgeübt, wohl vor allem weil ihr der Eingang strikt verwehrt worden war. Ihr Mädchenbett hatte am anderen Ende der großen Banca gestanden, ganz und gar ohne Rätsel und allen Blicken preisgegeben. Sie hatte die Mutter gefragt, ob sie nicht auch einen Vorhang haben könnte, es bräuchte ja keine kostbare Antiquität zu sein. Die Mutter hatte verneint und dem Kind einen kleinen Vortrag über die Tradition der alten Insel-Häuser gehalten. Ursprünglich sei da immer nur ein einziger großer Raum gewesen, in dem geliebt, gekocht und gestorben worden sei, und die Bettenaufteilung habe man von jeher strikt bewahrt: vorn an der Feuerstelle das Bett der Großeltern, weil bekanntlich alte Leute leicht frieren. Links auf der Banca das verhängte Bett des jungen Paares, rechts das Bett der Kinder, unverhängt, damit die Mutter auf einen Blick die jeweilige Situation kontrollieren könnte. Die Vorstellung, mit ihrem strengen Großvater, von dem die Mutter stets nur mit einem Schauder in der Stimme sprach, in einem Raum zu leben, war Johanna abwegig erschienen. Und auch mit der Idee von den kontrollierenden Mutterblicken hatte sie kaum etwas anfangen können, denn wenn ihre Mutter erst einmal hinter dem Vorhang verschwunden war, kam sie so bald nicht wieder zum Vorschein, auch nicht blickweise.

In der zweiten Nacht, in der Johanna nicht allein in ihrem Bett lag, schlief Philippa schnell ein, Johanna blieb wach. Sie versuchte sich vorzustellen, dass der andere Körper der eines Mannes wäre. Der Versuch misslang, es war und blieb Philippa, die einen kratzigen Pullover trug und einen dreiviertellangen dicken Wollrock. Merkwürdig, dass sie dabei nicht ins Schwitzen geriet. Sie schien ihre Körperfunktionen perfekt zu kontrollieren. Johanna nahm sich vor, Philippa am nächsten Abend, falls sie immer noch auf ihrer Bewacherfunktion bestünde, zu bitten, wenigstens die Kleider abzulegen.

Sie drehte sich auf die Seite und schob eine Hand unter ihr schmerzendes Gesicht. Philippas Atem wehte ihr über den Nacken. Schließlich begann ihr die Anwesenheit des anderen Körpers Behagen zu bereiten, dann sogar Herzklopfen. Sie drückte ihren Rücken eng gegen Philippas weichen Bauch. Sie wollte sich nicht mehr aus dem Fenster stürzen, wollte auch nicht länger ein Fremdling sein.

Als Johanna am kommenden Abend Philippa vorschlug, sich doch ihrer Kleider zu entledigen – »dir muss ja furchtbar heiß sein in Rock und Pullover!« –, betrachtete Philippa sie mit zusammengekniffenen Augen.

»Mir ist nicht heiß«, sagte sie.

»Aber mir«, flüsterte Johanna, »wenn du mit deinen Wollsachen neben mir liegst.«

»Aha«, sagte Philippa. »Du bist also auf dem Weg der Besserung. Du brauchst mich nicht mehr. Ich werde wieder in meinem Bett schlafen.«

»Nur noch eine einzige Nacht«, flehte Johanna.

»Du spinnst wohl«, sagte Philippa. »Das Ganze ist doch kein Vergnügen!«

Sie begann sich auszuziehen. Ihre Bewegungen waren träge und provozierend. Stück für Stück strich sie die weiße Baumwollunterwäsche glatt und faltete sie zusammen. Als sie schließlich nackt war und quer durch das Zimmer ging, um ihr Nachthemd vom Haken zu nehmen, verhielt sie einen Augenblick bei Johannas Bett.

»Was starrst du denn so, als ob du nicht wüsstest, wie Frauen aussehen. Dreh dich gefälligst zur Wand und gönn mir meine Privatheit!«

Johanna schluckte. Dann holte sie tief Luft und sagte: »Gott, bist du fett. Wirklich ekelhaft.«

Philippa lächelte. »Armes geschlechtloses Wesen du!«

»Aber ich weiß, wie es funktioniert. Meine Mama hat es mir genau erklärt.«

Philippa, immer noch nackt vor Johannas Bett stehend, sagte: »Erklären reicht nicht, so etwas muss man gesehen haben. Ich hab zu Haus den Pferden zugeschaut und den Rindern. Und einmal sogar unserem Melker, wie der hinten im Kuhstall auf der kleinen Millie rumgeturnt ist. Die war bei uns zum Erdbeerpflücken und hat unter ihm geschrien und gequietscht wie ein Schwein, das auf den Schlachtwagen getrieben wird. Scheint ein ziemlich brutaler Vorgang zu sein, bei Tieren wie bei Menschen. Nichts für mich, das garantier ich dir. Übrigens hatte auch meine Mutter keinen Sinn dafür. Mein Bruder behauptet, dass wir durch künstliche Besamung entstanden sind, die gleiche Technik, die man heutzutage bei Kühen bevorzugt. Ich nehme an, es war ihr sehr recht, dass sie Zwillinge geboren hat, so musste sie ihren Körper nicht noch ein weiteres Mal bemühen. Obgleich ihr Körper groß genug war, ungefähr so wie meiner. Ihrem Mann schien er sehr zu gefallen, sonst hätte er sie ja wohl nicht geheiratet. Ihre Familie war nämlich sehr viel weniger alt und vornehm als seine. Dass sie ihn nach unserer Zeugung noch mal an sich rangelassen hat, kann ich mir nicht vorstellen. War ja auch nicht nötig. Die Pflückerinnen kamen mehrmals im Sommer zu den verschiedenen Obsternten. Und im Winter, wenn die Löhne billiger waren, hatten wir meist eine extra Küchenhilfe. Außerdem fuhr mein Vater oft nach London, um seinen Sitz im Oberhaus einzunehmen. Wie die meisten anderen Lords konnte er dort sehr gut schlafen, für fünfzig Pfund pro Sitzung plus Unkosten. Das war unsere einzige Einnahmequelle. Alles andere ging drauf für die Zinsen für unsere Bankschulden. Übrigens ist Brenton Hall der einzige Platz auf der Welt, den ich wirklich liebe. Um den Sitz meiner Vorväter endlich wieder zu dem zu machen, was er einstmals war, werde ich einen sehr reichen alten Mann heiraten müssen.«

»Und wenn du den nicht findest?«

»Dann werd ich mir etwas anderes einfallen lassen.«

Die Hüften schwingend, ging Philippa hinüber zu dem kleinen Zimmerwaschbecken und begann sich mit Wasser zu bespritzen. Als sie den Oberkörper hinunterbeugte, berührten die Spitzen ihres üppigen Busens den Rand des Waschbeckens. Sie nahm das Nachthemd vom Haken, betrachtete es einen Augenblick versonnen und hängte es dann wieder zurück. »Ich glaub, ich schlaf heut Nacht mal ohne«, sagte sie, »nach der Anstrengung der letzten Nächte habe ich etwas Entspannung verdient.«

Johanna beschloss zu werden wie Philippa und sich anzupassen. Es gelang ihr mehr schlecht als recht. Doch schaffte sie es wenigstens, weiteren Strafverfahren auszuweichen und sich vom Fremdling zum unengagierten Mitläufer zu mausern. Zuvor hatte sie im Unterricht entweder trotzig geschwiegen oder aber sich hervorgetan durch auftrumpfende, freche Zwischenrufe. Jetzt redete sie nur noch, wenn sie gefragt wurde, und sagte möglichst genau das, was ohnehin schon klar war. Sie wunderte sich, wie leicht das ging.

Philippa wurde ihr Leitstern. Da Gefühle bei ihr keine Rolle zu spielen schienen, verbiss sich Johanna ihren Wunsch nach Liebe und begnügte sich mit Philippas Zuverlässigkeit und Loyalität. Sie entwickelte eine gewisse Geschicklichkeit, die Freundin auf angeblich neutrales Terrain zu leiten und ihr dort höchstpersönliche Geständnisse zu entlocken. Am besten eignete sich hierfür Philippas ausgeprägtes Interesse an Tieren.

»Zu Hause in Griechenland begießen wir die Ameisenstraßen immer mit kochendem Wasser«, erzählte Johanna zum Beispiel. »Meine Mutter muss sich dabei die Ohren zuhalten, weil sie das Geschrei nicht ertragen kann.«

»Blödsinn«, sagte Philippa, »Ameisen sind stumm.«

»Mein Vater hört es auch. Aber statt sich die Ohren zuzuhalten, übertönt er den Todeslärm mit Gelächter. Weil es ihm Freude macht, überlegen zu sein.«

»Oberklasse«, sagte Philippa. »Dein Vater ist in Ordnung.«

Immer trug Johanna einen kleinen Zeichenblock in der Tasche. Darauf notierte sie mit knappen Skizzen und mit den chiffrierten Kürzeln ihrer persönlichen Geheimsprache, was sie sah und was sie dazu dachte. Ihr Zeichenlehrer hielt sie für begabt. Wozu denn die Schrift am Rande nötig sei, fragte er. »Das ist, um aus dem Alltäglichen Funken zu schlagen«, antwortete Johanna. Der Lehrer, der nicht wissen konnte, dass Johanna hier nur ihre Mutter zitierte, räusperte sich. »Soso«, sagte er, »also rein dekorativ?« Johanna dachte an ihren fernen Vater. »Auch das«, sagte sie, »auch dekorativ.«

»Und was sonst?«, erkundigte sich der Lehrer.

»Gedankenstütze«, sagte Johanna.

Die Ferien verbrachte Johanna mit ihrem Großvater. Als sie das erste Mal bei ihm in die Frankfurter Wohnung gekommen war und allein in seinem stillen, grau-rosa Gästezimmer übernachtet hatte, war sie zum Fenster hinausgesprungen. Da Großvaters Wohnung im ersten Stock lag, in der Beletage, wie er sagte, hatte Johanna sich dabei nichts weiter eingehandelt als einen Sicherheitsriegel mit Schloss am Fenster und die Dienste eines Psychotherapeuten. Dieser, den sie bei seinem Vornamen Friedrich-Karl nennen sollte, war ein sanfter, bebrillter Mensch, flexibel wie eine Gummiwand. Er kam jeden Tag für genau fünfzig Minuten. Während der Schulzeit war Johanna angehalten, ihm einmal in der Woche einen Brief von mindestens hundert Worten zu schreiben, auf den er dann in mindestens doppelter Länge antwortete.

Johanna log das Blaue vom Himmel herunter und Friedrich-Karl nickte dazu. Als er einmal seine Brille abnahm, um sie zu putzen, sah Johanna, dass er Rattenaugen hatte.

Im Dorf auf der Insel war einmal eine Ratte unter die Banca geraten. Der Vater hatte sie in einer altmodischen hölzernen Käfigfalle gefangen und seiner Tochter geschenkt. »Kannst ja versuchen, dich mit ihr anzufreunden.« Johanna hatte dem Tier in die Augen gesehen und gedacht: Das wird nichts. Immerhin hatte sie zwei Tage lang eine Menge Brot und Käse in den Käfig geschoben. Am dritten Tag hatte ihr die Ratte dabei in den Finger gebissen und Johanna war zu einer schmerzhaften Tetanusspritze verdonnert worden. Sie hatte den Käfig mit einem Stein beschwert und ihn samt Ratte ins Meer geworfen. Dummerweise war ihr danach für eine ganze Weile das Baden verleidet gewesen.

Auch der sanfte Friedrich-Karl war in der Lage, Johanna einiges zu verleiden. So zum Beispiel einen Besuch bei ihren Eltern. »Dafür kann ich die Verantwortung nicht übernehmen«, sagte er zum Großvater. Dieser hielt zwar nicht viel von Psychologie und bedachte Friedrich-Karl, wenn er gegangen war, mit abfälligen Bemerkungen, aber die Verantwortung wollte er ihm schon auflasten: »Dafür wird er schließlich bezahlt.«

Friedrich-Karl fragte Johanna, ob sie sich von ihren Eltern geliebt fühle. Johanna war auf der Hut. Sie gab sich aufrichtig und kooperativ. »Selbstverständlich«, antwortete sie, »schließlich bin ich ihr einziges Kind.«

»Wie geliebt?«, fragte Friedrich-Karl.

»Eben wie ein einziges Kind.«

»Mehr von der Mutter oder vom Vater oder von beiden gleich viel?«

»Wieso, ich bin doch für jeden von ihnen das einzige Kind.«

Friedrich-Karl seufzte. »Deshalb könnten deine Eltern ja dennoch deiner Einzigartigkeit verschiedenen Tribut zollen.«

»Wie bitte?«

»Ich meine: Mutterliebe wird oft anders empfunden und ausgedrückt als Vaterliebe.«

»Wie denn?«

»Zum Beispiel: Eine Mutter fasst ihr Kind anders an als der Vater. Wie fasst deine Mutter dich an?«

»Überhaupt nicht.«

»Und dein Vater?«

»Der wirft mich hoch und fängt mich wieder auf. Er lässt mich fliegen.«

Der Psychologe nickte befriedigt und machte sich eine Notiz. Den Blick auf den Schreibblock gerichtet, fragte er mit sanfter Stimme: »Ist das Fliegen schön?«

Johanna biss sich auf die Lippen und zuckte die Schultern. Aus war’s mit ihrer Kooperation. Bis zum Ende der Fünfundvierzigminutenstunde machte sie den Mund nicht mehr auf.

Später in der Schule, als Pippa sich wieder einmal darüber erging, wie mühsam sie den Vollzug der menschlichen Fortpflanzungsverpflichtung fände, sagte Johanna zu ihr: »Mein Therapeut hat unreine Gedanken.«

Pippa fand das nicht überraschend. Sie hätte kürzlich in einer Zeitschrift gelesen, dass zwischen zehn und zwanzig Prozent aller Therapeuten ihre Patienten sexuell belästigten.

»So meine ich das doch nicht«, sagte Johanna heftig.

»Wie denn?«

Johanna wollte eine schnelle Antwort geben, besann sich jedoch anders und sagte nur: »Ach, vergiss es, nicht so wichtig.«

»Da hast du Recht«, sagte Philippa, »je weniger wichtig wir die unreinen Gedanken der Männer nehmen, desto besser.«

Großvater führte seine Enkeltochter ins Museum, ins Theater und in die Oper. Einiges davon gefiel ihr sogar. Und er gab ihr Bücher zum Lesen, Tolstoi und Dostojewski, Fontane und Theodor Storm, Jane Austin, Dickens und Mark Twain. »Alles mit schön viel Handlung, damit du auch dran bleibst!« Anfangs bezahlte er ihr für das Lesen Zeilenhonorar, dann Seitenhonorar und dann, als nicht mehr zu übersehen war, dass sie auch ohne Belohnung liebend gern weiterlas, bezahlte er sie überhaupt nicht mehr. Verschwendung konnte er sich nicht leisten.

Der Großvater war ein schlanker, zarter Mann, der sehr leise sprach und tagsüber immer ein Jackett trug, am frühen Vormittag jedoch einen schönen, seidenen Morgenrock. Auch für Johanna hatte er hübsche Kleider gekauft, sie durfte sie sogar selbst aussuchen.

Schon im ersten Jahr, kurz nach dem missglückten Fenstersprung, hatte er ihr einen Wohnungsschlüssel anvertraut. »Dies ist jetzt dein Zuhause«, hatte er gesagt, »ich möchte, dass du das weißt.«

»Dann gib mir auch einen Schlüssel zu meinem Fensterriegel, ich kriege nachts nicht genügend Luft.«

»Warum lässt du nicht die Tür zum Flur offen?«

»Großvater«, hatte Johanna gesagt, »wenn ich noch einmal springen wollte, dann könnte ich es auch vom Wohnzimmerfenster aus tun.«

Der alte Mann hatte sie nachdenklich angeschaut und dann gemurmelt: »Die Intimität eines nächtlichen Schlafzimmers verführt leichter zu unüberlegten Handlungen als ein neutraler Wohnraum.«

Dieser Satz hatte Johanna irritiert und so hatte sie vorerst nachgegeben und nicht weiter insistiert. Dann jedoch, als die Gelegenheit einmal günstig gewesen war, hatte sie Frau Seidler für ein paar Stunden den Schlüssel weggenommen und eine Kopie herstellen lassen. Dieser geheime Schlüssel war für sie zu einem Symbol ihrer Selbstbestimmung geworden. Sie hatte ihn mit einer Schnur aus blauen Keramikperlen verziert und immer bei sich getragen. Als Frau Seidler nach Johannas fünfzehntem Geburtstag dazu übergegangen war – gewiss auf Geheiß des Großvaters –, den Riegel offen stehen zu lassen, hatte Johanna den Schlüssel als Talisman behalten.

Im Laufe der Zeit fand sie ihren Großvater ganz nett. Sie hatte keine Angst mehr vor ihm, aber sie befürchtete, ihn zu stören. »Wenn du ihn stören würdest, hätte er dich nicht zu sich genommen«, sagte Friedrich-Karl. Johanna war sich da nicht ganz so sicher.

Großvaters Haushälterin, Frau Seidler, kam jeden Tag ein paar Stunden. Aus ihr versuchte Johanna Verschiedenes herauszufragen, worüber der Großvater nicht sprach. Leider war Frau Seidler auch nicht sehr ergiebig. Dabei waren Johannas Fragen ganz unverfänglich. Sie wollte zum Beispiel wissen, ob Frau Seidler die Großmutter gekannt hätte.

»Jawohl.«

»Wie ist die denn so gewesen?«

»Nett.«

»Und warum musste sie so früh sterben?«

»Die Nerven.«

»Was heißt denn das, war sie verrückt?«

»War sie nicht.«

»Was dann?«

»Sag ich doch, die Nerven.«

»Haben Sie denn auch meine Mama gekannt?«

»Hab ich.«

»Und wie war die?«

»Nicht so nett.«

»Wieso nicht?«

»Sie ist weggegangen.«

Mehr war nicht herauszubekommen, und konfrontiert mit Frau Seidlers Lakonie, versickerte Johannas Neugier wie griechischer Augustregen im Sand der großen Bucht.

Ach, die große Bucht! Die totenblassen Sommerlilien, die aus dem heißen Sand herauswachsen, der Vater, riesengroß und halb nackt, schiebt das Boot ins Wasser. Auf der Bank vorn hockt das Kind, auf den Bodenbrettern liegt lang ausgestreckt die Mutter. Sie hat sich mit einem grünen Tuch die Augen verbunden. Das viele Blau macht ihr Sorgen. »Es ist nicht gut, wenn die Gedanken zu frei ausschweifen, dann könnte man sie verlieren.« Wenn sie sich weit genug vom Strand entfernt haben und keine Fischerboote in der Nähe sind, wickelt der Vater die blinde Mutter aus ihren Tüchern und setzt sie wie eine Galionsfigur vorn auf die äußerste Spitze. Er lässt das Boot treiben, holt seinen Skizzenblock hervor und beginnt zu zeichnen. Später zu Hause wird aus der Zeichnung ein Bild. Der grüne Schal schneidet hart in das Porzellanweiß des Gesichtes. Hinten auf das fertige Bild schreibt der Vater: »Weib mit gefesselten Gedanken.«

Die Briefe und Postkarten der Mutter kamen bald seltener und schließlich überhaupt nicht mehr. Oft erkundigte sich der Großvater bei Johanna nach dem Befinden ihrer Eltern. Zuerst dachte sie sich etwas aus, erzählte lustige kleine Geschichten. Dabei wurde das Insel-Haus immer prächtiger, ein vielzimmriges Gemäuer, fast schon ein Schloss, in dem üppig gespeist wurde und interessante Leute ein und aus gingen.

»Wann hast du den letzten Brief bekommen?«, fragte der Großvater dann.

Und Johanna bekannte wahrheitsgemäß, dass dies schon eine Weile her sei. »Aber bestimmt geht es meiner Mutter gut, sie hat doch den Papa.«

»Meinst du, wir sollten sie vielleicht einmal besuchen? Wir könnten ja zusammen auf diese Insel fahren, du und ich. Sogar dein Friedrich-Karl hätte nichts dagegen einzuwenden.« Sekundenlang benebelte ein freudiger Schrecken Johannas Gehirn. Dann musste sie plötzlich an die alte Geschichte mit dem Großelternbett neben der Feuerstelle denken.

»Besser nicht«, sagte sie schnell, »es wäre dort viel zu heiß für dich. Aber ich allein, nur für ein paar Tage, um nach dem Rechten zu sehen …«

»Wenn ich nicht fahre, fährst du auch nicht, das ist dir ja wohl klar. Mit mir gemeinsam allerdings ließe es sich vielleicht machen.«

Johanna zögerte. Vor ihren Augen tauchte die Sala auf, prachtvoll zwar, aber außer der Küche, dem voll gestellten Winterraum und dem alkoholdurchtränkten Kapitänszimmer leider der einzige Raum ihres Elternhauses. Der Vater steht neben dem großen Holztisch und erzählt von der Geburt seiner Tochter, während die Mutter mit langsamen, fast schwebenden Schritten auf den rot bestickten Vorhang zugeht. Sie ruft nach ihrem Mann. Es klingt eher wie ein Seufzer, aber ihr Mann hat verstanden. Er lacht und folgt seiner Frau zum Bett des jungen Paares. Als sich der Vorhang für den Bruchteil einer Sekunde öffnet, quillt eine Wolke Weihrauch hervor. Früher einmal hat Johanna Weihrauch sehr geliebt, inzwischen fand sie ihn, um es mit Philippas Worten zu sagen, aufdringlich und geschmacklos, etwas für diejenigen, die es nötig haben.

»Also gut«, sagte Johanna tapfer, »dann fahren wir eben beide nicht.«

Der alte Herr wendete den Blick von ihr und vertiefte sich wieder in sein Buch.

»Lass es mich wissen, wenn du die nächste Nachricht von deinen Eltern erhältst«, sagte er.

Diese Nachricht kam in der Mitte von Johannas drittem englischem Schuljahr, und zwar nicht per Brief, sondern in Form eines Anrufs. Die Hausmutter schickte nach Johanna. Diese, daran gewöhnt, dass außer dem Großvater nie jemand bei ihr anrief, begab sich ohne Eile in die kleine Telefonkabine im Erdgeschoss und sagte: »Hallo, Großvater, wie geht es dir?«

Das schallende Gelächter am anderen Ende der Leitung versetzte ihr einen Stich in den Magen. Langsam rutschte sie an der Wand neben dem Telefon hinunter und blieb auf dem Boden hocken. »Hast du mich etwa zum Großvater gemacht?«, dröhnte der Vater. »Ziemlich früh, finde ich. Aber mir soll’s recht sein. Niemand lässt ja gerne etwas anbrennen, eine Tochter von mir ganz sicher nicht.«

Und dann erzählte er ihr, dass er eine Ausstellung in London habe, die Hälfte der Bilder sei bereits verkauft. Ob sie denn gar keine Zeitung lese. Und übermorgen würde er sie in ihrem feinen Internatsschuppen besuchen kommen.

Anfangs war Johanna ganz wild vor Freude. Doch dann wuchsen ihre Bedenken. Wie wird er aussehen, wie wird er sich benehmen? Wird er sie etwa wie früher um die Taille packen und ohne Rücksicht auf Zuschauer in die Luft werfen?

Die Bedenken erwiesen sich als überflüssig. Der Vater machte eine erstaunlich gute Figur, braun gebrannt, mit frisch geschnittenen Haaren und in einem lockeren Tweedjackett, das ihn aussehen ließ wie einen englischen Country Squire. Seine Länge von über ein Meter neunzig, die ihn in Griechenland immer so exotisch hatte wirken lassen, wirkte hier stattlich.

»Achte mal drauf«, hatte Philippa zu Johanna gesagt, »die Mitglieder der Oberklasse werden von Generation zu Generation größer, dehnen die Brust und beanspruchen freiweg den ihnen zustehenden Raum. Während die Menschen der Unterklasse schrumpfen, verständlicherweise, da sie immerfort etwas auf den Kopf kriegen.«

Der Vater betrachtete sein einziges Kind mit schräg gelegtem Kopf und zusammengekniffenen Augen. »Zwar bist du immer noch spindeldürr«, sagte er, »absolut unterentwickelt, aber in die Luft werfen sollte ich dich wohl lieber nicht.«

Johanna hatte plötzlich nichts mehr dagegen, in die Luft zu fliegen, und ob die Mitschüler zuschauten oder nicht, war ihr egal.

»Papa …?«

Er näherte sich zögernd, ganz so, als könne er sich nicht mehr an normale Begrüßungsformeln erinnern.

»Yazou Joannamou …«, murmelte er.

Johanna spürte ein heißes Brennen in der Kehle.

»Bestimmt bin ich inzwischen viel zu schwer, du würdest mich gar nicht mehr vom Boden wegbringen«, flüsterte sie.

In seinen Augen blitzte es. »Also dann …« Er packte sie bei der Taille, schleuderte sie hoch über seinen Kopf und fing sie geschickt wieder auf, ganz so wie früher. Johanna klammerte sich an seinen Hals. »O Papa …«, schluchzte sie, »ogottogottogott Papa …!«

Der Vater hielt sein Kind an sich gedrückt. »Noch dicker darfst du aber wirklich nicht werden, sonst brichst du mir das Rückgrat.«

»Ich dachte, ich sei spindeldürr?«

»Bis auf gewisse Formen, und um die geht’s ja im Leben.«

Seine Jacke roch weder nach Terpentin noch nach Ölfarben, sondern nach Tabak und einem fremden Parfüm.

»Papa«, sagte Johanna erschrocken, »bist du etwa kein Maler mehr?«

»Wie kommst du denn darauf? Man kann kein gewesener Maler sein, das klingt fast so absurd wie ein gewesener Liebhaber. Hat man sich einmal darauf festgelegt, muss es irgendwie immer weitergehen, ob man will oder nicht.«

»Du bist traurig, Papa, stimmt’s?«

»Warum sollte ich traurig sein? Ich stelle aus, man bedenkt mich mit guten Kritiken, ich verdiene mein Geld und habe eine schöne kleine Tochter.«

Und die Mama?, wollte Johanna fragen, aber sie schwieg und strahlte ihren Vater an. In diesem Moment hätte sie alles dafür gegeben, tatsächlich schön zu sein, nur um ihn nicht Lügen zu strafen. »Ich bin nicht schön, leider. Aber ich gebe mir große Mühe. In den Romanen steht immer wieder, dass Schönheit von innen nach außen wirkt. Fragt sich bloß, wie sie denn in einen hineinkommt, die Schönheit. Angeblich durch die Liebe. Na ja, und woher krieg ich die?«

Der Vater lachte. »Die Sache mit der Liebe wird sehr überschätzt, mein Kind. Also lass dir nur nichts einreden. Versuch’s erst mal mit viel frischer Luft und Vollwertkost. Das soll angeblich Wunder wirken. Und was machen die Schülerinnen hier so, wenn sie Besuch haben? Ich meine, was wird heute von mir erwartet?«

»Spazieren gehen am Fluss«, sagte Johanna eifrig. »Und danach Five o’Clock Tea im Horse and Farrier.«

Sie konnte es kaum fassen, dass der Vater so normal mit ihr redete, dass er weder schrie noch donnerte noch sie auslachte. Am liebsten wäre sie jetzt in seine Arme gesprungen, um sich von ihm tragen zu lassen, so wie er die Mama oft getragen hatte.

Ein heiterer Frühlingstag. Im Wald und am Fluss blühten die Bluebells. Vater und Tochter wanderten Arm in Arm. Johanna war ganz benommen von dem ungewohnten Gefühl, zu jemandem zu gehören. Dennoch machte er ihr nach wie vor Angst, aber es war nicht mehr die hilflose Kinderangst, die sie empfand, eher war es Sehnsucht und Aufregung.

Später breiteten sie ihre Jacken über den Blumenteppich und setzten sich einander gegenüber, jeder an einen Baum gelehnt. Die Frage nach der Mutter ließ sich nicht mehr aufschieben.

»Warum ist sie nicht mitgekommen?«

»Es geht ihr nicht gut.«

»Und du hast sie allein gelassen, bist einfach fortgefahren?«

Johannas Herz begann wild zu klopfen.

»Panajota kümmert sich um sie.«

»Nur Panajota, Agatha nicht auch?«

Aus alter Gewohnheit vertraute sie Agathas Kräften immer noch mehr als denen Panajotas.

»Agatha …?«, fragte der Vater. Er sprach den Namen so gedehnt aus, als könnte er sich nur schwer an die dazugehörige Person erinnern. »Ach so, Agatha. Nein, die nicht. Die hat wohl inzwischen anderes zu tun. Außerdem kann Mama sie nicht leiden und will sie nicht im Hause haben. Eigentlich will sie überhaupt niemanden im Hause haben, nur noch sich selbst. Aber Panajota hat inzwischen einen Schlüssel und kommt, ob Mama will oder nicht, jeden Tag ein paar Stunden, um sie zu versorgen.«

Johanna presste sich die Hand gegen die Kehle, um den Herzschlag zurückzudrängen.

»Wieso muss sie versorgt werden, ist sie krank?«

»Nicht direkt krank.«

»Was denn sonst?«

»Das verstehst du nicht. Keiner kann es wirklich verstehen.«

»Papa«, schrie Johanna, »Papa, sag es mir, verdammt!«

Der Vater schloss die Augen.

»Angeblich hat sie Depressionen. Aber was heißt das schon, Depressionen!«

Er spuckte das Wort aus, als handle es sich um eine verdorbene Frucht.

»Dieser Idiot von einem Athener Spezialisten jedenfalls war ganz hingerissen von seiner Diagnose und hat auch gleich das Gegenmittel aus seiner Medikamentenkiste gezaubert. Reduktion aufs gesunde Mittelmaß, Höhen und Tiefen chemisch ausgeblendet. Aber deine Mutter will keine Pillen. Sie will auch nicht aufstehen und sich waschen und die Haare kämmen. sie will im Bett bleiben und die Decke über den Kopf ziehen. Und sie bindet sich jetzt fast immer ein Tuch über die Augen, nicht um ihre Gedanken festzuhalten, sondern weil sie nichts mehr sehen will.«

»Dich auch nicht?«

»Mich vor allem nicht. Und Panajota nicht und Agatha nicht.«

»Ich denke, Agatha kommt sowieso nicht mehr.«

»Nein, inzwischen kommt sie nicht mehr.«

Plötzlich hörte sich Johanna etwas sagen, das sie überhaupt nicht überlegt hatte.

»Hast du sie etwa wieder geschlagen?«

Die Sonnenbräune des Vaters wirkte nur noch fahl, wie Schminke, oberflächlich über die Haut gepinselt. Johanna wusste, dass sie ihn schon einmal so gesehen hatte, das war vor langer Zeit gewesen, als sie beim wilden Spiel von hinten in seine Leinwand gefallen war und ein Bild zerstört hatte. Damals war er über seine kleine Tochter hergefallen und hatte blindlings auf sie eingeprügelt, und weil die Mutter dazwischengegangen war, hatte die auch ihr Teil abgekriegt. Als es vorüber gewesen war, hatte die Mama sich wie tot unter den Zitronenbaum gelegt und ein Tuch über das Gesicht gezogen. Den ganzen Tag war sie dort liegen geblieben und auch noch während der Nacht. Papa hatte sie nicht angerührt. Er hatte neben ihr gesessen und gefleht, sie möge ihm vergeben und ihn wieder anschauen. Am nächsten Morgen hatte Panajota umsonst an der Tür gerüttelt. Gegen Mittag endlich war es Papa zu viel geworden.

Er hatte die große Metallbadewanne in den Hof geschleppt und sie nach und nach mit viel heißem Wasser gefüllt. Dann hatte er seine Frau aus den Tüchern gewickelt. Ihre Gegenwehr hatte ihr nicht das Geringste genutzt.

Ach, welch ein Schauspiel! Die Mama in der Badewanne, festgehalten von Papa, der ihr die Schminke vom Gesicht wäscht, die Lidschatten und die dicke schwarze Augenumrandung. Zum Schluss hatte er sie aufrecht hingestellt und mit einem Eimer voll kalten Wassers aus der Zisterne begossen. Da hatte sie laut aufgeschrien und ihr Gesicht sah dabei schrecklich entstellt aus. Dann hatte sich der Papa die Mama wie einen Mehlsack über die Schulter geworfen und in die Sala zum Bett getragen. Und die Mama hatte immer weiter geschrien, auch noch, als der Vorhang längst geschlossen war.

Jetzt saß Johanna bewegungslos vor ihrem Vater. Es gab vieles, was sie von ihm wissen wollte, aber sie schwieg. Zeit verging. Blätter bewegten sich, Äste knackten, Vögel zwitscherten. Es gibt immer was, worauf man hören kann.

Schließlich fragte Johanna: »Und was ist mit dem Zitronenbaum?«

»Was soll schon sein? Sie hat so viele schwarze Tücher drüber gehängt, dass es keine Blüten mehr gibt und also auch keine Früchte.«

»Kein Zitronenduft mehr?«

Der Vater nickte. »Kein Zitronenduft. Dafür ist das Haus inzwischen etwas größer geworden, wir haben einen Raum angebaut. Das ist gut so, für deine Mutter. Sie hat jetzt ihr eigenes Zimmer.«

»Schläft sie nicht mehr bei dir hinter dem roten Vorhang?«

»Den Vorhang habe ich abgenommen, es war sehr heiß im letzten Sommer. Und wir sind ja inzwischen kein junges Paar mehr.«

»Es gibt doch noch kein jüngeres Paar«, wandte Johanna ein.

»Das wird es auch nicht geben. Du willst ja wohl nicht bei uns einziehen, oder?«

»Jedenfalls nicht als Paar«, sagte Johanna.

Der Vater nahm aus der Jackentasche einen Zeichenblock, der in Form und Größe jenem glich, den Johanna bei sich trug.

Die Konzentration, mit der ihr Vater sie betrachtete, erschien ihr lieblos, fast aggressiv. Sein Blick war wie eine Pumpe, die ihr Inneres an die Oberfläche saugen wollte. Es war ihr peinlich. Umständlich beleckte der Vater die Spitze seines Bleistiftes, bevor er zu zeichnen begann.

»Deine Bluse ist hässlich«, sagte er, »woher hast du die denn?«

»Von Großvater. Sie hat über hundert Mark gekostet.«

Der Vater schnaubte verächtlich. »Natürlich. Immer wieder vergesse ich den lieben Großvater. Dabei ist er es ja, der für dich sorgt. Mach die oberen Knöpfe auf. Noch einen. Noch einen. Du bist mein Kind, verstehst du, meins! Die Verpackung deines Großvaters ödet mich an.« Er sprang auf und schob ihr mit einer heftigen Bewegung die Bluse von den Schultern. Dann hockte er sich ihr gegenüber auf den Boden. Unter dem Druck seiner Hand brach ihm der Bleistift weg. Ungeduldig fischte er sich einen anderen aus der Tasche.

Die Mutter hatte jetzt ein eigenes Zimmer. Sie hatte Depressionen. Keiner weiß genau, was Depressionen sind, nur dass sie den Menschen dumpf und schwer und lebensfremd machen, das weiß man. Johanna öffnete einen weiteren Knopf. Da hatte die Bluse plötzlich keinen Halt mehr, sie rutschte hinunter und kringelte sich in der Taille zusammen.

»Sitz gefälligst still«, schnauzte der Vater.

Johanna saß still, mit bloßem Oberkörper. Sie erinnerte sich an die vielen Aktbilder, die der Vater gemacht hatte, darauf sah die Mutter immer viel runder und üppiger aus als in Wirklichkeit.

Als der Künstler fertig war, warf er den Block mit großer Geste zur Seite und ließ sich zurückfallen auf den Waldboden. Die Arme schob er unter den Kopf und starrte hinauf in die Blätter und in den Himmel darüber.

»Schön habt ihr’s hier.«

Das »ihr« klang abweisend, so als hätten Vater und Tochter nichts mehr miteinander zu tun. Dabei könnte er sie doch jetzt mit nach Hause nehmen, dachte Johanna, jetzt, wo er so viele Bilder verkauft hat. Sie knöpfte die Bluse wieder zu, bis ganz nach oben. Dann schaute sie sich das Werk an. Sie war enttäuscht. Ein langweiliges, nicht einmal gut getroffenes Porträt, nur Kopf und Schulteransatz.

»Warum sollte ich eigentlich die Bluse runterziehen?«, fragte sie wütend.

»Weil sie hässlich ist. Und weil dieser tyrannische alte Mann sie dir aufgezwungen hat.«

»Von dir jedenfalls hab ich noch nie etwas zum Anziehen gekriegt.«

Der Vater lachte. »Es wäre mir auch unmöglich, deinen schlechten Geschmack zu treffen.«

Johanna sann auf Rache. Auch sie hatte ihren Skizzenblock dabei. Aufrecht neben dem Vater stehend, fing sie an zu zeichnen. Sie setzte die Striche schnell und sicher. Noch nie war ihr etwas so gut gelungen, fand sie. Es war die Karikatur einer Riesenameise mit dem Gesicht ihres Vaters. Das Tier lag hilflos auf dem Rücken und streckte die Beine von sich. Johanna ließ die fertige Skizze auf ihren Vater hinunterflattern, drehte sich um und wanderte den Weg zum Internat zurück. Kurz vor dem Schultor holte er sie ein.

»Nicht schlecht«, sagte er, »du bist begabt, mein Kind. Aber warum eine Ameise?«

»Meine Freundin Philippa schwärmt für Ameisen. Wegen des Klassensystems. Nach der Paarung sind die Männchen für nichts mehr gut, sagt sie, man lässt sie verhungern oder bringt sie um. Und wenn die englische Unterklasse sich paart, dann schreit und quietscht die Frau dabei wie ein Schwein, bevor es abgestochen wird.«

»Deine Freundin Philippa scheint ja reizend zu sein. Hübscher Name übrigens, Philippa, gefällt mir.«

»Sie sagt auch, dass du ihr gefällst.«

»Wieso denn das?«

»Sie hält dich für Oberklasse. Natürlich nicht wie bei den Ameisen, dazu müsstest du schon weiblich sein. Sondern so wie im englischen Klassensystem. Sie selbst ist alter Adel.«

»Möchte wissen, was du ihr von mir erzählt hast«, brummte der Vater.

»Dass du die Ameisen mit kochendem Wasser übergießt und dass es dich nicht stört, sie dabei schreien zu hören.«

»Was sind denn das für Geschichten?«, fragte der Vater lächelnd. Er legte den Arm um die Schultern seiner Tochter und zog sie an sich. »Ach, mein kleines, fremdes Kind«, seufzte er, »ich hoffe wirklich, du kommst gut durch.«

»Nimm mich mit dir zurück, Papa, jetzt wo du Geld hast«, flehte Johanna. »Ich könnte etwas für Mama tun, bestimmt. Es würde wieder so sein wie früher.«

»Es würde nicht so sein wie früher«, sagte er, »nie mehr.«

Schweigend gingen sie durch das Schultor. Der Vater streichelte ihre Schultern. Die im Hof herumstehenden Schüler schauten alle zu ihnen hin.

Johanna sah Philippa. »Das da ist Philippa. Meine Freundin«, sagte sie. »Aber eigentlich kann ich sie überhaupt nicht leiden.«

Der Vater nickte. »Verstehe.«

Philippa kam auf sie zu. Sie wiegte sich in den Hüften, und ihr streng verschnürter Busen sah plötzlich so aus, als wollte er die Verpackung sprengen.

»Um Gottes willen«, sagte der Vater. »Die sollte man hinter Gitter bringen.«

»Sie ist für künstliche Befruchtung«, flüsterte Johanna, »absolut keine Paarung!«

»Dann muss nachher wenigstens auch niemand umgebracht werden.«

Johannas Vater begrüßte Philippa mit einer formvollendeten kleinen Verbeugung und sagte: »Guten Abend, Philippa. Ich freue mich, Sie kennen zu lernen. Meine Tochter hat mir von Ihnen erzählt.«

»Und mir von Ihnen«, sagte Philippa spitzmündig. Ihre ohnehin schrille Stimme klang noch etwas schriller.

»Hat sie Ihnen gesagt, dass ich mich am Geschrei der Ameisen erfreue?«

Philippa nickte.

»Und hat sie nicht erwähnt, dass mich das Quietschen der tot geweihten Schweine noch mehr amüsiert?«

Philippa starrte ihn mit ihren weiß bewimperten Augen an und schüttelte den Kopf. Langsam kehrte sie sich ab. Der Weg zur Haustür betrug mindestens vierzig Meter. Philippas Körperbeherrschung war vollendet, ihr langer Abgang perfekt.

»Aber sie ist wirklich für künstliche Befruchtung, Papa«, betonte Johanna noch einmal.

»Jaja«, sagte der Vater, »so was gibt’s. Eine zynische Unflätigkeit der Natur, mit der sie sich für etwas rächt, das sie selbst verursacht hat.«

»Findest du sie hübsch, Papa? Würdest du sie malen?«

»Ach, ich weiß nicht. Das Vernünftigste wäre sicher, sie in den Eisschrank zu stellen und Pfund für Pfund zu verkaufen. Soll ich dafür sorgen, dass du in ein anderes Zimmer kommst?«

»Sie ist nicht so schlecht als Zimmergenossin, sehr zuverlässig. Die anderen haben Respekt vor ihr.«

»Und du?«

»Ich bin ihr dankbar. Sie hat mich beschützt.«

»Wovor?«

»Vor den anderen. Und vor mir selbst.«

»Wer war gefährlicher, die anderen oder du?«

Johanna kicherte etwas unsicher. Sie blickte zu ihrem Vater auf, sah nicht sein Gesicht, nur den sehnigen Hals und das vorgestreckte Kinn. »Was denkst du denn, Papa! Ich werd mir doch von den anderen nicht den Rang ablaufen lassen.«

Das Kinn senkte sich, jetzt konnte sie seine lächelnden Augen sehen. »Gut gebrüllt, kleine Löwin. Und wenn deine Beschützerin dir zu nahe kommt, dann beißt du kräftig zu. Man sollte Dankbarkeit nie übertreiben.«

»Die kommt niemandem zu nahe«, antwortete Johanna. »Dazu ist sie sich zu schade.«

Der Vater blieb drei Tage. Er wohnte in Good Ol’Henrys Gästezimmer und sagte, dass die fünf Jahre seiner eigenen Schulmeisterzeit doch nicht die schlechtesten in seinem Leben gewesen seien.

Er malte ein langweiliges Porträt von Good Ol’Henry und schenkte es ihm. In der Aula hielt er einen kleinen Vortrag über die Maler der Bloomsbury-Gruppe. Johannas Image stieg in schwindelnde Höhen.

Er benahm sich so korrekt, dass es Johanna Angst und Bange wurde.

»Das ist das Einzige, was ich für dich tun kann, meine Tochter«, sagte er.

Philippa schnürte sich das Korsett immer enger und sie verpasste keine Gelegenheit, sich mit abweisender Miene und rollenden Hüften Johannas Vater zu präsentieren. Am Morgen des dritten Besuchstages blieb Philippa dem Unterricht fern, ihr sei nicht gut, hatte sie gesagt. Während der kleinen Pause zwischen Mathematik- und Englischunterricht sah Johanna ihren Vater zum Schultor hinauswandern, in Richtung Fluss. Unter dem Arm trug er einen großen Skizzenblock.

Beim Abschied klammerte sich Johanna an ihn und schluchzte herzzerreißend. Er löste ihre Arme und machte sich davon.

Mit ihrer allerschrillsten Stimme sagte Philippa zu der verzweifelten Johanna: »Du bist in deinen Vater verliebt, das finde ich pervers!«

»Und wie du dich vor ihm aufgeführt hast, finde ich noch viel perverser«, schrie Johanna.

Als Philippa am nächsten Nachmittag Gartendienst hatte, durchsuchte Johanna ihren Schrank. Ganz hinten, verborgen unter festen Büstenhaltern, Hüftgürteln und einer Unmenge baumwollener Schlüpfer fand sie ein aufgerolltes großes Skizzenblatt. Nackt lag Philippa zwischen den Bluebells, ihre Augen waren halb geschlossen, ihr Mund leicht geöffnet. Johanna hätte nie gedacht, dass Philippa so schön aussehen könnte. Sie überlegte, ob sie das Blatt zerreißen sollte. Dann rollte sie es wieder auf und schob es an den alten Platz.

Der fremde Bruder

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