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1. „Menschen, die aus Deutschland zu uns kommen”
ОглавлениеOstfriesische Identität
Die Ostfriesen-Zeitung schrieb über den Bundesliga-Fußballer Jan Kirchhoff, er sei „halber Ostfriese” (OZ 9.1.2013). Dabei ist Kirchhoff weder in Ostfriesland geboren, noch dort aufgewachsen. Sein Vater stammt von dort, ist aber schon vor der Geburt des Sohnes ins Hessische verzogen. Der Status „Ostfriese” scheint auf ewig vergeben zu werden und sogar vererblich zu sein. Aber wie lange muss jemand ohne ostfriesische Wurzeln im Land wohnen, um dazu zu gehören? Nach den Erfahrungen des Emder Superintendenten der evangelisch-lutherischen Kirche dauert es fünf bis zehn Jahre. Dies dürfte anderswo genauso sein. In Ostfriesland aber geht es um mehr: Es gilt das Eigene zu bewahren und vor fremden Einflüssen zu schützen. Dabei war Ostfriesland immer schon ein Einwanderungsland und ist es auch heute noch.
„Minsken, de ut Düütskland bi uns komen, sünd för uns doch ok totrucken Lüü” (OZ 10.5.2012),
meint Cornelia Nath in einer plattdeutschsprachigen Kolumne (Menschen, die aus Deutschland zu uns kommen, sind für uns doch auch Zugezogene). Diese Abgrenzung hat historische Gründe: Das Königreich Hannover nahm 1815 das Land in Besitz und beraubte es seines jahrhundertealten Rechts auf Selbstverwaltung. Im Folgenden berichte ich von der Herkunft der Ostfriesen_innen und der Geschichte des einst so stolzen Landes. Mir scheint, dass die Abgrenzung zu „Düütskland” in jüngerer Zeit wieder zunimmt.
Die Herkunft der Ostfriesen_innen
Ostfriesen_innen hätten ein bestimmtes Gen, meinte Thilo Sarrazin, ehedem Berliner Senator und Vorstandsmitglied der Deutschen Bundesbank.[1] Zudem sei der Intelligenzquotient einiger Völker höher als der anderer. Seine Äußerungen wurden vom Ausschuss zur Beseitigung rassistischer Diskriminierung der Vereinten Nationen verurteilt. Doch Sarrazin scheint auch schlecht informiert zu sein. Untersuchte man die Gene der Ostfriesen_innen käme heraus, dass es sich um eine bunte Mischung handelt.
Ursprünglich siedelten westlich der Ems Friesen_innen und östlich Chauken_innen. Später wanderten Sachsen/Sächsinnen ein. (Die Chauken_innen scheinen irgendwie verschwunden zu sein.). Friesen_innen besiedelten vor allem die Marschgebiete östlich der Ems und die Niedersachsen/Niedersächsinnen die Geest. Seither gab es verschiedene Einwanderungswellen. Im 16. Jahrhundert fand in Ostfriesland eine größere Zahl calvinistischer Flüchtlinge aus den vom katholischen Spanien besetzten Niederlanden eine neue Heimat. Etliche davon kamen aus dem französischsprachigen Wallonien. Französische Familiennamen findet man deshalb häufig. Auch gab es bis 1940 zahlreiche Juden und Jüdinnen. Schon im 14. Jahrhundert sollen aus Italien Menschen jüdischen Glaubens ins Land geholt worden sein. Die erste Synagoge datiert von 1577[2] und in so manchem Stammbaum heutiger Ostfriesen_innen tauchen jüdische Namen auf. Auch aus dem Münsterland wanderten Menschen zu, u. a. nach Westrhauderfehn, Burlage, Flachsmeer und Diele, wodurch der katholische Glaube an Einfluss gewann (Bielefeld 1924, 215). Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen dann die Flüchtlinge aus den Ostgebieten, vor allem aus Schlesien. 1959 stellten sie 10,8% der Bevölkerung (Kurowski 1987, 394). In den 1960er und 1970er Jahren folgten die Arbeiter_innen aus den Anwerbeländern, anschließend die Spätaussiedler_innen aus Osteuropa und einige Asylsuchende aus der ganzen Welt. Auch von den Boat-People aus Vietnam, die zunächst Aufnahme in Norddeich fanden, sind einige geblieben. In den 1980er Jahren wurde Ostfriesland für Senioren_innen aus dem Ruhrgebiet attraktiv, und in den 2000er Jahren siedelten sich wegen der vergleichsweise niedrigen Immobilienpreise viele Niederländer_innen an. 42% der im Landkreis Leer wohnenden Ausländer_inen kommen von dort (OZ 12.6.2013). Der Anteil der Ausländer_innen ist in Ostfriesland dennoch gering: Emden 6,7%, Landkreis Aurich 3,0%, Landkreis Leer 4,3% und Landkreis Wittmund 3,3%. Ostfriesland liegt damit deutlich unterhalb des Bundesdurchschnitts von 9,1% (Regionalstatistik 2011, Tab. 173-41-4).
Beharren auf Eigenständigkeit: Der nie verwundene Verrat
„Allen Neuerungen gegenüber ist er [der Ostfriese, H.O.] misstrauisch und vorsichtig, wie er sich auch dem hochdeutsch sprechenden Fremden gegenüber, den er den ‚Düütsken’ nennt, der ‚baben to’t Land herut is’ oder ‚ut’t Fürsteenenland kamen is’, sehr zurückhaltend und abwartend verhält. So neigen die Bewohner Ostfrieslands in dem erst spät dem Verkehre erschlossenen Ländchen zu einem durchaus geographisch bedingten Partikularismus, der sich durch den gesteigerten Verkehr der letzten Jahrzehnte erst langsam zu verwischen beginnt (Bielefeld 1924, 202).”
Diese fast 90 Jahre alte Einschätzung ist durchaus nicht überholt. Zugewanderte aus Nordrhein-Westfalen sind nicht etwa Rheinländer_innen oder Westfalen/Westfälinnen, sondern vorrangig „Düütske”. Eine solche Abgrenzung ist häufiger anzutreffen. Z.B. heißt es auf der Website eines Maschinenbaubetriebes zum Generationswechsel in der Geschäftsführung:
„Wie sein Vorgänger ist er gebürtiger Ostfriese, sodass auch in dieser Hinsicht der Staffelstab weitergereicht wird: Die Leeraner Maschinenbauer bleiben ein bodenständiges, unabhängiges Unternehmen”.[3]
Warum ist es einer Firma, die bundesweit tätig ist, wichtig zu erwähnen, dass der Nachfolger gebürtiger Ostfriese ist? M.E. ging es um mehr als lediglich um Vertrauensbildung: Ein Verkauf eines alteingesessenen Familienunternehmens an einen Fremden, insbesondere an einen „Düütsken” oder gar an einen anonymen Konzern, wäre als Verrat an Ostfriesland empfunden worden. Selbst zu den unmittelbaren Nachbarn gab es noch bis in die jüngste Zeit klare Abgrenzungen. So berichtet die Ostfriesen-Zeitung aus einer Rede von Wilhelm Leeling, Geschäftsführer eines international tätigen Emder Logistikunternehmens und Mitglied des Vorstands der Unternehmensvereinigung „Ems-Achse” (OZ 13.4.2012):
„Vor einiger Zeit sei es für ihn noch undenkbar gewesen, einen Emsländer mit dem Transport von Papier zu betrauen (…). ‚Jetzt arbeiten wir viel mit denen zusammen – alte Tabus gibt es nicht mehr’”,
Eine Firma aus Emden, einer Stadt mit einer langen Tradition im Welthandel, hielt es bis hinein ins dritte Jahrtausend für „undenkbar” mit Unternehmen aus dem benachbarten Emsland zusammenzuarbeiten! Um 1600 soll der Emder Hafen sogar der größte Seehafen Nordeuropas gewesen sein. Nach wie vor ist der Emder Hafen bedeutend und Leer ist (nach Hamburg) sogar der zweitgrößte Reedereistandort Deutschlands. Ostfriesische Unternehmen arbeiten immer schon mit ausländischen Unternehmen zusammen. Von den unmittelbaren Nachbarn aber grenzt(e) man sich ab: vom oldenburgischen Ammerland und dem Cloppenburger Land ebenso wie vom Emsland und selbst von Friesland, das seit 1575 zu Oldenburg gehört. Ostfriesland ist anscheinend tatsächlich eine „besondere Welt” wie Danielzyk/Krüger/Schäfer in ihrem 1995 erschienenen Buch behaupten.
U.a. auf der Grundlage von Interviews in Ardorf, Leer und Holterfehn stellen die Autoren eine „verbreitete Disposition (…) zum Rückzug in eine alltagsweltliche Geborgenheit” fest (S. 279). Das ostfriesische Ethos setze sich aus Selbstbehauptungswillen, Selbstgenügsamkeit und Selbstbewusstsein zusammen. Die Autoren gingen den Entstehungsgründen nach.
Die „Selbstgenügsamkeit” (ebd., 286) sei ein „gemeinsames Band an Alltagserfahrungen”. Die Geestbauern/-bäuerinnen konnten zwar eine bescheidene Autarkie erreichen, waren den Bauern und Bäuerinnen in der Marsch aber unterlegen. Unterhalb der „bäuerlichen Selbstachtung” waren die Moorkolonisten_innen angesiedelt und als weitere benachteiligte Gruppe kamen die Landarbeiter_innen hinzu. Selbstgenügsamkeit sei daher tief in das Ethos sehr breiter Schichten der heutigen Bevölkerung Ostfrieslands eingeschrieben.
Den Selbstbehauptungswillen leiten die Autoren aus der Friesischen Freiheit ab, wobei es im ostfriesischen Parlament (der „Landschaft”, s.u.) historisch weniger um ein – im heutigen Sinne – demokratisches Aushandeln von Interessen ging, als um die Abwehr von Herrschaftsansprüchen des seit dem 14. Jahrhundert aufkommenden Adels. „Freiheit” bedeute für die Ostfriesen_innen daher nicht demokratische Teilhabe, sondern gründe „auf eigenen Besitz und dem freien Umgang mit ihm” (ebd., 282). Die Friesische Freiheit verwandelte sich in einen Selbstbehauptungswillen, der sich nicht in einer nach außen getragenen Widerständigkeit äußerte. Zum Widerstand gegen fremde Mächte war Ostfriesland allein schon wegen des Patts zwischen den Herrschaftsansprüchen des 1464 inthronisierten Grafen von Ostfriesland und der Ostfriesischen Landschaft nicht in der Lage. Ostfriesland fiel in „Ohnmacht” (van Lengen 1987, 56).
Die dritte Komponente, Selbstbewusstsein und Stolz, machen Danielzyk u.a. sowohl bei wohlhabenden Marschbauern und -bäuerinnen als auch bei den Menschen auf den Fehnen aus. Marschbauern/-bäuerinnen hätten einen Hang zur Autonomie, aber auch „Züge des Besonders-Seins” (ebd. 287): Sie grenzten sich von den Landarbeiter_innen und von den Bewohner_innen der Sielorte ab. Selbstbewusstsein und Stolz finden sich ebenso bei den Nachkommen der Moorkolonisten_innen. Deren Herkunft ist nicht eindeutig geklärt. Eilert Ommen (1992, 216) geht davon aus, dass es sich um nicht-erbberechtigte Kinder von Bauern/Bäuerinnen und um Nachkommen von Inhabern_innen kleiner Landstellen handelte. In den Mooren gelang ihnen als Bauern/Bäuerinnen, Torfschiffer_innen, Werftunternehmer_innen und in der Seeschifffahrt ein bescheidener Aufstieg; es sei „das Selbstbewusstsein der einmal zu kurz Gekommenen” (Ommen 1992, 51). Auch wenn die Fehne ebenso wie die Siedlungen der Landarbeiter_innen heute zu Arbeiterdörfern geworden sind, bleibt der Rückbezug zum Besitz: Die „Entfaltungsmöglichkeiten individueller Lebensinteressen auf eigenem Land führen dazu, dass viele Menschen in Ostfriesland Haus und Garten (inkl. Basteln und Heimwerken) zum lebenslangen Hobby erkoren haben” (Danielzyk u.a 1995, 282). „Haus und Garten sind entscheidende Prestigeobjekte” (Ommen 1992, 219).
Auch heute gibt es keine Stimmen oder gar Bewegungen, die dafür plädieren, dass Ostfriesland ein eigener Staat werden solle, aber eine Abgrenzung gegenüber dem, was aus „Düütskland” oder „von oben” kommt, besteht nach wie vor und die „Friesische Freiheit” im politischen Sinne wird durchaus wach gehalten. So veranstaltet die Ostfriesische Landschaft am Pfingstdienstag – dem Tag, an dem das Parlament der „Freien Friesen” tagte – regelmäßig Tagungen oder Ähnliches. Auch an den Tag, an dem die Grafschaft Ostfrieslands ihre jährliche Landesrechnungsversammlung abhielt, wird alljährlich erinnert (10. Mai). Endgültig genommen wurde den Ostfriesen_innen die politische Freiheit 1815, als das Königshaus Hannover das Land besetzte. Abgrenzungen gegen „oben” und dem „Fürstenland” richten sich noch heute vorrangig gegen Entscheidungen aus „Hannover”.
Die Friesische Freiheit
Im Gegensatz zu den übrigen Regionen Europas (mit Ausnahme einiger Gebiete der Schweiz) gab es in Ostfriesland nie eine Feudalherrschaft. Die Friesen organisierten sich in autonomen Landgemeinden. Deren gewählten Vertreter kamen alljährlich am Pfingstdienstag am Upstalsboom in Rahe (nahe Aurich) zusammen, sprachen Recht und schlichteten Streit unter den 27 Provinzen der Frieslande, die in der Blütezeit um 1300 von der Rheinmündung bis zum Land Wursten reichten. Die Entstehung der „Friesische Freiheit” ist nicht eindeutig geklärt. Heute wird sie Karl dem Dicken zugeschrieben, der sie den Ostfriesen_innen 885 als Dank für die Vertreibung der Normannen zugesprochen haben soll. Schon der Einfall der Wikinger hatte um 800 dazu geführt, dass die Friesen zwar verpflichtet wurden, ihr Gebiet zu verteidigen, dafür aber vom Militärdienst auf fremden Territorien freigestellt waren. Eine wesentliche Rolle spielte auch das Erfordernis des Deichbaus. „Wer nich will dieken, mut wieken”, heißt ein alter Spruch. (Wer sich nicht an der Eindeichung beteiligt, muss gehen.) Pest und Sturmflutkatastrophen ließen dieses Ständesystem verfallen und reiche Familien („Häuptlinge”) gewannen die Oberhand. Sie etablierten zwar ein Gefolgschaftssystem, leibeigen aber waren die Menschen in Ostfriesland nie.[4]