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Kreuzkirche in Stapelmoor

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Foto: Rainer Knäpper, Lizenz Freie Kunst (http://artlibre.org/licence/lal/de)

Die Kirchen haben in Ostfriesland großen Einfluss: Vielerlei gesellschaftliche Aktivitäten finden unter ihren Dächern statt. In der Ostfriesen-Zeitung nimmt die Berichterstattung über kirchliche Veranstaltungen einen beträchtlichen Raum ein. Die Lokalausgabe Leer enthält durchschnittlich pro Ausgabe 2,2 redaktionelle Beiträge zu Kirchlichem und 6,6 Ankündigungen kirchlicher Veranstaltungen.[27] Jede vierte Veranstaltung, auf die die Zeitung hinweist, ist eine kirchliche. Hierbei geht es neben (zahlreichen) Bibelabenden und -wochen, Kindergottesdiensten und Andachten u.a. um Frauenkreise und Männerrunden sowie Chorsingen, Chi-Gong-Kurse, Laientheater, Altkleider- und Altpapiersammlungen und Flohmärkte. Selbst das, was anderswo eher in Alternativzirkeln anzutreffen ist, findet in Ostfriesland im Schoß der Kirche statt.

Die redaktionellen Beiträge sind vielschichtig. Nicht nur wird über die abgeschlossene Renovierung der Großen Kirche in Leer berichtet, was sicherlich viele interessiert, sondern auch – häufig mehrspaltig – über Aktivitäten kleiner Religionsgemeinschaften mit z.T. nur 30 Mitgliedern. Geradezu gefeiert wurde 2012 der Besuch des evangelisch-lutherischen Landesbischofs in Ostfriesland: Täglich berichtete die Zeitung, was er am Vortag unternommen hatte. Selbst Banalem, wie der Besichtigung eines Gewerbeparks, widmete sie fünf Spalten.

Kirchlich, staatlich, privat – alles dasselbe

Staat und Kirche werden in Ostfriesland häufig in eins gesetzt. Folgt man den Veranstaltungsankündigungen der Ostfriesen-Zeitung könnte man meinen, im kleinen Bauerndorf Potshausen gebe es fünf Bildungsstätten anstatt einer: das „Ostfriesische Bildungszentrum Potshausen”, die „Landvolkshochschule Potshausen”, das „Evangelische Bildungszentrum Potshausen” und das „Evangelische Bildungszentrum Ostfriesland-Potshausen”. Der Umgang mit dem Namen zeigt: Es ist völlig gleichgültig, ob der Bildungsträger einer bestimmten Kirche verpflichtet ist und die Seminarteilnehmer_innen von dieser Glaubensrichtung überzeugen will – evangelisch ist in Ostfriesland sowieso (fast) alles.

Doch auch staatliche Stellen nehmen es nicht so genau. So erklärte mir einmal eine offizielle Stadtführerin, in Leer gebe es zwei Krankenhäuser, das katholische und das evangelische. Das „evangelische” Krankenhaus aber gehört dem Landkreis und war nie in kirchlichem Besitz. Da das Krankenhaus in Konkurrenz zum katholischen steht, wird es – nicht nur, aber sogar – von einer offiziellen Stadtführerin als „evangelisch” bezeichnet. Ausgedrückt wird damit: Das gehört „uns” – und nicht den Fremden, den zugewanderten Katholiken_innen. Den Ostfriesen_innen ist ihre Kirche was wert.

Auch Kirchen brauchen Geld

Der evangelische Kirchentag 2012 kostete 111.000 Euro. Jedoch: „Man schreibe ‚eine schwarze Null’, berichtete der Geschäftsführer”, und der Präses der evangelisch-reformierten Kirche meinte, dies sei „’das klare Signal, mit dem Kirchentag weiterzumachen’”(OZ 16.7.2012). Kirchentage kann es also nur geben, wenn keine Kosten entstehen? Bei über 300.000 Mitgliedern in Ostfriesland sollte es doch eigentlich wohl „drin” sein, alle paar Jahre einen Kirchentag durchzuführen.

Die Ostfriesen-Zeitung machte mehrere Interviews mit führenden Vertretern der beteiligten Kirchen. Aussagen über die Inhalte und Botschaften der Predigten und Veranstaltungen finden sich darin nicht. Vielmehr lesen sich die Interviews, als ginge es den Kirchen vor allem ums Geld. Der evangelisch-lutherische Landesbischof Meister z.B. meinte, die Kirche müsse eine „’größere Offensive zeigen, in der Begegnung mit jungen Menschen, um sie zu begeistern’. Wichtig sei dabei eine lebendige Zusammenarbeit mit der Freiwilligen Feuerwehr und Vereinen”. Seine Begründung: Die Kirche müsse „mit weniger Finanzen auskommen” (OZ 6.7.2012).

„’In die Gemeinden geht ein Impuls der Vergewisserung’, sagte [der Präses der ev.-ref. Kirche] Klüver. (…) Weil das Geld knapper werde, sei dieses Gefühl der Stärke umso wichtiger, sagte [der ev.-luth. Landessuperintendent] Klahr.” „Die Leute suchen wieder nach Sinn”, meinten beide (OZ 16.7.2012).

Möglicherweise haben die evangelischen Kirchen sich diese Strategie bei der römisch-katholischen abgeguckt. Diese will sich durch eine „Neuevangelisierung” säkularisierter Länder wie Deutschland zusätzliche Finanzquellen erschließen und setzt dabei auf die Offenheit der Menschen für „Spiritualität und Sinndeutungen” (Vollversammlung 2011, 2). Ihre Zielgruppe sind vor allem die deutschlandweit 34% Konfessionslosen. In Ostfriesland aber könnten die Kirchen sich allenfalls gegenseitig Mitglieder abwerben. Dies scheint die evangelisch-lutherische Kirche 2010 in der Krummhörn versucht zu haben.

Der Krummhörner Kirchenkrieg 2010

Der Bürgermeister Pewsums, ein SPD-ler, beabsichtigte, die Haupt- und Realschule zusammenzulegen und in eine integrierte Gesamtschule umzuwandeln. Da die damals CDU-geführte Landesregierung aber nur integrierte Gesamtschulen zuließ, wenn mindesten fünf Parallelklassen existierten, tat der Bürgermeister sich mit seinem Kollegen in Hinte zusammen. Aber die Zahlen reichten trotzdem nur für vier Klassen. Daraufhin wandten sich die Bürgermeister an die evangelisch-lutherische Landeskirche. Nach dem niedersächsischen Schulgesetz können private Träger auch dann integrierte Gesamtschulen einrichten, wenn nur eine Vierzügigkeit gewährleistet ist. Im Januar 2010 einigte man sich; die Lutheraner sollten die beiden Schulzentren übernehmen.

Der evangelisch-lutherischen Landeskirche war dieses Angebot sicherlich sehr willkommen, betrachtet sie kirchliche Schulen doch als „wichtige Zukunftsinvestition” (EKD 2008, 30):

„In Schulen in evangelischer Trägerschaft kommen Heranwachsende mit dem christlichen Glauben in Berührung, was in Zeiten rückläufiger kirchlicher Sozialisation im Elternhaus von hoher Bedeutung ist. Darüber hinaus können hier auch Jugendliche, die nicht evangelisch sind, den christlichen Glauben kennen lernen. (…) Schulen in evangelischer Trägerschaft haben eine ausgeprägte Multiplikatorenfunktion für die Tradierung christlichen Glaubens und christlicher Werte” (ebd.).

Die lutherische Kirche wollte Kinder und Eltern in einem Gebiet erreichen, wo nur eine Minderheit der Bevölkerung zu ihren Mitgliedern zählt. Lediglich 17% gehören in den Gemeinden Krummhörn und Hinte dieser Glaubensrichtung an, 59% aber der evangelisch-reformierten Kirche.[28]

Widerstand gab es zunächst vor allem dagegen, dass ein Schulgeld von 45 Euro monatlich erhoben werden sollte. Mit Verweis auf den Grundsatz der Chancengleichheit lehnte das Leitungsgremium der evangelisch-reformierten Kirche das Vorhaben bereits wenige Wochen nach Bekanntwerden ab. Auch der SPD-Unterbezirk kritisierte die Schulgeldforderung. Beide Organisationen verwiesen zudem darauf, dass die schulische Versorgung öffentliche Aufgabe sei, und – so die reformierte Kirche – kirchliche Schulen die öffentlichen nicht ersetzen dürften. Auch viele Lehrkräfte und die örtliche GEW wandten sich gegen die Übernahme durch die lutherische Kirche. Zwar hatte die Kirche versprochen, das Personal weiter zu beschäftigen, doch in kirchlichen Einrichtungen gelten die allgemeinen Gleichheitsgrundsätze nicht, und so manche Lehrkraft hätte um Posten und Beförderungschancen bangen müssen. Schließlich wird in evangelisch-lutherischen Schulen von ihnen verlangt, dass sie „Repräsentanten” der evangelisch-lutherischen Kirche sind (ebd.).

Ins Gesetz geschaut hatten die beiden Bürgermeister anscheinend nicht. Oder wollten sie die Bestimmungen des niedersächsischen Schulgesetzes bewusst umgehen? Das Kultusministerium jedenfalls war keineswegs bereit, Landkreis und Gemeinden aus der Pflicht zu entlassen, eine nicht-religionsgebundene Schule anzubieten. Kirchliche Schulen sind in Niedersachsen lediglich als „Ergänzung” möglich. Zumindest hatten die Bürgermeister sich nicht mit der Landesregierung ins Benehmen gesetzt. Erst auf eine Petition eines Pewsumer Bürgers hin, befassten sich Ministerium und Landtag mit der Angelegenheit. Das Kultusministerium schrieb dem Bürger am 10.11.2010 – als in Pewsum und Hinte schon fast ein Jahr heftigst gestritten wurde –, ihm seien entsprechende Bestrebungen aus Presseberichten bekannt, ein Antrag liege aber nicht vor. Weiterhin wies das Ministerium darauf hin, dass die Erforderlichkeit einer integrierten Gesamtschule zu begründen sei, wobei darzulegen sei, „wie die (…) Schulträger eine Beschulung der Schüler- und Schülerinnen ihres Verantwortungsbereichs an öffentlichen Schulen künftig gewährleisten” wollten.

Gescheitert ist das Vorhaben an zwei Dingen: Die SPD-Fraktion des Kreistages, die dort die Mehrheit hat, beschloss, privaten Schulen keine Zuschüsse[29] zu zahlen. 2010 hatten die beiden Schulen immerhin 383.000 Euro erhalten. Hinzu kam, dass die reformierte Kirche am 22.11.2010 dem Kultusministerium mitteilte, dass sie eine Zusammenarbeit mit der lutherischen bei diesem Schulprojekt ablehne. Am selben Tag noch zog die lutherische Landeskirche ihr Angebot zurück. Ohne Schullastenausgleich rechnete sich die „Zukunftsinvestition” anscheinend nicht.

Pewsum (sowie Woquard und Loquard) sind lutherische Inseln in einem reformierten Umfeld. Im 16. Jahrhundert hatte Katharina von Wasa, schwedische Königstochter und Ehefrau des Pewsumer Grafen Edzard II, durchgesetzt, dass vakante Pfarrstellen mit Lutheranern besetzt wurden. Eine weitere Lutheranisierung der Region ist ihr jedoch nicht gelungen – und den beiden Bürgermeistern 500 Jahre später auch nicht. Mittlerweile gibt es übrigens eine integrierte Gesamtschule – in staatlicher Trägerschaft. Insofern waren die Bürgermeister letztlich doch erfolgreich. Geführt wurden die Auseinandersetzungen vornehmlich von den Kirchen und den Lehrkräften der betroffenen Schulen. Die Bevölkerung aber schaute relativ teilnahmslos zu. Hat Kirchliches vielleicht doch keinen so großen Stellenwert?

Auch in Ostfriesland nachlassende Bedeutung der Kirchen?

Nimmt man die Zahl der in der Ostfriesen-Zeitung abgedruckten Veranstaltungsankündigungen und redaktionellen Beiträge zu kirchlichen Themen, drängt sich der Eindruck auf, die Ostfriesen_innen würden sich samt und sonders in einer der vielen Kirchen engagieren. Innerhalb Ostfrieslands gibt es jedoch erhebliche Unterschiede. An den Wahlen der Kirchenvorstände der evangelisch-lutherischen Gemeinden 2012 beteiligten sich in Leer 18% der Wahlberechtigten, in Rhauderfehn 20%, in Amdorf aber 68%. Ähnliches zeigte sich auch bei den Wahlen der evangelisch-reformierten Kirchenvorstände im Herbst desselben Jahres: In 15 der 36 Gemeinden ging höchstens jede_r Fünfte zur Wahl, in fünf Gemeinden aber mehr als jede_r Zweite.

Auch die Beteiligung am 6. Ostfriesische Kirchentag gibt zu denken: Teilgenommen haben über 15.000 Menschen, was zunächst eine große Zahl zu sein scheint. Dies sind jedoch nur 4% der Mitglieder. Zum Auricher Stadtfest im Spätsommer desselben Jahres kamen hingegen 100.000. Die Zahl derer, die Religiosität leben, ist in Ostfriesland beträchtlich, aber längst nicht jedes Kirchenmitglied engagiert sich auch für die Kirche. Von Bedeutung sind die Kirchen vor allem als Organisatorinnen des dörflichen Gemeinschaftslebens.

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