Читать книгу Ostfriesland verstehen - Helga Ostendorf - Страница 7

4. „Seit Urzeiten …”

Оглавление

Geschlechterverhältnisse

„Was ist so falsch daran, sein Kind zu Hause zu betreuen, besonders in den ersten drei Jahren bis es zum Kindergarten geht? Seit Urzeiten wurde so verfahren und es hat den Kindern gutgetan; sie fühlten sich geborgen und geliebt” (Leserinnenbrief, OZ 2.7.2012).[16]

Es ist keineswegs seit „Urzeiten” so, dass kleine Kinder ausschließlich von der Mutter erzogen werden. Vielmehr entstand die Idee, dass Ehefrauen nicht erwerbstätig sein sollten, erst Ende des 19. Jahrhunderts. Die Realität sah vielfach anders aus. In Ostfriesland z.B. waren Frauen noch in den 1950er und 1960er Jahren zwar „zu Hause”, bewirtschafteten aber einen großen Gemüsegarten und zumeist waren auch ein Schlachtschwein, Hühner und Kaninchen zu versorgen. Zudem halfen sie auf den Bauernhöfen aus, um sich etwas hinzu zu verdienen. Heute ist in Ostfriesland die oben zitierte Auffassung häufiger anzutreffen. Im Ranking der Prognos-AG zur „Chancengleichheit am Arbeitsmarkt” schneiden die ostfriesischen Gebietskörperschaften weit unterdurchschnittlich ab.[17] Der Landkreis Aurich liegt auf dem vorletzten Platz der 402 Landkreise und Städte, der Landkreis Leer auf Platz 399, der Landkreis Wittmund auf Platz 389 und die Stadt Emden auf Platz 354.

Öffentliche Kinderbetreuung: Fehlanzeige

„Kindergarten bekommt Frühstücksraum”, heißt es in der Ostfriesen-Zeitung vom 5.4.2012. Nanu, können die Kinder nicht in dem Raum frühstücken, wo sie zu Mittag essen? Nein, zumindest nicht im Kindergarten der evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde in Flachsmeer. Dort werden 112 Kinder betreut, ein Mittagessen ist aber nicht vorgesehen. Dies ist wahrlich kein Einzelfall, weder in Ostfriesland noch anderswo. In Ostfriesland aber wird eine solche Regelung kaum in Frage gestellt.

Bundesweit haben Kinder ab drei Jahren einen Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz. Dies bedeutet allerdings nicht, dass ein Anspruch auf einen Ganztagsplatz bestünde. In Niedersachsen muss für 90% der Kinder ein Vormittags- oder ein Ganztagsplatz bereitgestellt werden. Lediglich hilfsweise kommt ein Nachmittagsplatz in Frage. Aufsehen erregte eine Klage eines Ehepaares aus der Gemeinde Moormerland. Aus beruflichen Gründen brauchte es einen Platz am Vormittag, erhielt aber nur die Zusage für eine Nachmittagsbetreuung. Der Moormerländer Bürgermeister meinte dazu:

„Im letzten Kindergartenjahr vor der Schule hätten in Oldersum aber alle Kinder einen Vormittagsplatz bekommen, deren Eltern einen wollten oder brauchten” (ebd.).

Doch wer bestimmt darüber, welche Eltern einen Vormittagsplatz „brauchen”? Der Landkreis garantiert für 90% der Kinder in diesem Alter mindestens Vormittagsplätze, hat die Ausführung aber an die Gemeinden abgegeben. Die Gemeinde Moormerland, zu der Oldersum gehört, meinte, 68% seien genug und verteilte die wenigen Plätze wie folgt: 1. Kinder im Jahr vor der Einschulung, 2. Kinder, die möglicherweise im nächsten Jahr eingeschult werden, 3. Kinder, deren Eltern beide berufstätig oder allein erziehend sind, 4. Kinder, die vorher einen Nachmittagsplatz hatten. Faktisch verkürzte die Gemeinde den Rechtsanspruch auf Fünfjährige, wobei zudem noch nachgewiesen werden musste, dass diese in einem Jahr schulreif sein würden.

„Auf Dauer sinken die Zahlen. Vielleicht müsse man auch mal eine gewisse Zeit überbrücken”, sei die Meinung des Bürgermeisters (OZ 4.8.2012). Zwischenzeitlich zog die Klage des Elternpaares weitere Kreise. Eine Elterninitiative machte darauf aufmerksam, dass in Oldersum im September 2012 maximal 27 Kinder vom Kindergarten in die Grundschule wechselten, 39 Kinder aber auf der Warteliste des Kindergartens stünden. Die Klage und die Proteste scheinen gewirkt zu haben: Im Frühjahr 2013 stellte die Gemeinde für zwei Jahre einen Container auf und richtete eine zusätzliche Vormittagsgruppe ein. Eine Nachmittagsgruppe gibt es seither nicht mehr – mangels Nachfrage. Diese Geschichte zeigt zweierlei: Das Unverständnis mancher Ratsherren dafür, dass Mütter zumindest halbtags einer Erwerbstätigkeit nachgehen wollen, und gleichzeitig zeigt das Beispiel auch, dass es keine Nachfrage nach einer Ganztagsbetreuung gibt. Die Klage des Ehepaars wurde vom Verwaltungsgericht übrigens mit der juristisch spitzfindigen aber inhaltlich umso trefflicheren Begründung abgewiesen, nicht die Eltern, sondern die Kinder hätten einen Anspruch. Bei der öffentlichen Kinderbetreuung geht es eben nicht darum, welche Eltern nach Ansicht eines Bürgermeisters einen Kindergartenplatz „brauchen”: Kindergärten sind keine Aufbewahrungsanstalten, sondern Bildungsstätten. Auf der Landkarte des Statistischen Bundesamtes zur öffentlichen Kinderbetreuung ist Ostfriesland ein weißer Fleck.

In Kindertagesstätten betreute Kinder im Alter von drei bis fünf Jahren in Prozent 2010


Quelle: http://ims.destatis.de/indikatoren/Default.aspx?nsc=true&htt ps=1, Abruf 8.8.2012

Zusammengefasst: Ostfriesische Mütter sind nicht nur ein Jahr (während des Bezugs des Elterngeldes) zu Haus, sie sind auch nicht nur die ersten drei Jahre zu Haus, sondern während der folgenden drei Jahre müssen sie ihre Kinder mittags vom Kindergarten abholen: Zwischen „Kind(er) hinbringen” und „Kind(er) abholen” schaffen sie es vielleicht noch beim Supermarkt vorbeizugehen – aber dann müssen sie schon wieder das Mittagessen vorbereiten. Darauf, dass Mütter erwerbstätig sind, sind solche Kindergärten nicht ausgerichtet.

Ganztagsschule: erneute Fehlanzeige

Im Landkreis Leer gibt es 50 Grundschulen. Nur acht davon boten 2012 eine Nachmittagsbetreuung an, fünf an mindestens vier und drei an drei Nachmittagen der Woche (OZ 16.3.2012). Das Interesse der Familien an einer Ganztagsbetreuung sei beträchtlich, ist die Meinung in der Kreisverwaltung. Das Problem sei jedoch, dass kleine Schulen nicht in der Lage sind, die Nachmittagsbetreuung zu organisieren. Abhilfe soll die Volkshochschule schaffen; sie soll die Schulen beraten, welche Vereine etc. die Nachmittagsbetreuung übernehmen könnten.

Seitens der Schulen scheint das Interesse allerdings nicht allzu groß zu sein. Lediglich drei weitere Grundschulen haben zum Schuljahresbeginn 2012/13 eine Nachmittagsbetreuung aufgenommen. Damit wird an gerade Mal jeder fünften Grundschule eine solche angeboten und dies auch nur an drei oder vier Tagen. Mittlerweile haben 17 weitere Schulen einen Antrag gestellt, wovon 13 genehmigt wurden. Selbst wenn man die 17 Schulen hinzuzählt, wird mittelfristig immer noch nur jede zweite Schule eine Nachmittagsbetreuung anbieten.

Ob es wirklich nur an der Unfähigkeit oder am Unwillen der Lehrkräfte liegt, die Nachmittagsbetreuung zu organisieren? Oder schätzen die Lehrkräfte die Situation realistischer ein als die Kreisverwaltung, und die Nachfrage ist gar nicht so groß? In Hollen z.B. plädierten nur 22% der Eltern für die Einrichtung einer Ganztagsschule, in Leer allerdings 80%.[18] Möglicherweise sind Städterinnen eher an der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit interessiert als Frauen in den Dörfern.

„Faul” an dem Ganzen ist vor allem das in Niedersachsen verfolgte Konzept der „offenen Ganztagsschule”, d.h. nachmittags findet „Irgendwas” statt, aber kein Unterricht.[19] Auch die Hausaufgabenbetreuung bleibt weiterhin an den Eltern „hängen”. Seltsam muten auch die Zahlenverhältnisse an: acht von 50 Schulen macht 16%. Selbst wenn man alle Schulen einbezieht, die Interesse bekundet haben, sind es in Zukunft auch nur 56% – im niedersächsischen Durchschnitt aber 85%: Ostfriesland wird deutlich benachteiligt. Beachtet werden sollte dabei auch, dass der Arbeitslohn in Ostfriesland erheblich unter dem westdeutschen Durchschnitt liegt: So manche Mutter hat weder ein Auto zur Verfügung, um ihre Kinder nachmittags zum Musik- oder Reitunterricht zu fahren, noch hat sie das Geld, solche Kurse zu bezahlen.

Viele Kinder, junge Mütter

Ostfriesinnen bekommen vergleichsweise viele Kinder. Zwischen 2000 und 2005 ist die Geburtenrate zwar deutlich gefallen (und seither wieder etwas gestiegen), mit 74,8 Geburten pro 1000 Frauen ab 20 Jahren liegt Ostfriesland aber immer noch erheblich über dem Bundesdurchschnitt von 64,9.[20]

Auch bekommen ostfriesische Frauen ihre Kinder sehr früh. Fast jede vierte Mutter ist noch keine 25 Jahre alt und fast jede zwanzigste noch keine 20.[21] Von den ganz jungen Müttern dürften viele keine abgeschlossene Berufsausbildung haben und manche noch nicht einmal einen Schulabschluss.

„Die Volkshochschule Leer plant einen neuen Tageshauptschulkursus. Dabei richtet sich das Angebot an Interessierte, die schwangerschaftsbedingt, durch Kindererziehung oder aus anderen Gründen ihre Schullaufbahn unterbrechen mussten” (OZ 16.10.2012).

Doch auch wenn eine abgeschlossene Ausbildung vorliegt, haben viele der jungen Mütter erst wenig an Berufserfahrung sammeln können. Nach zehn Jahren ausschließlicher Kindererziehung – bei zwei und mehr Kindern auch länger – wird ein beruflicher Wiedereinstieg schwer. Ursache und Wirkung – ob die Mütter zu Hause bleiben, weil sie es für richtig halten, oder ob sie zu Hause bleiben, weil es an öffentlicher Kinderbetreuung fehlt – lassen sich nicht immer auseinander halten. Das Resultat ist in beiden Fällen eine geringe Erwerbsbeteiligung.


Quelle: Berechnet nach: www.regionalstatistik.de, Tabellen 173-21-4 und 178-31-4, Abruf am 3.8.2012. Die Geburten der Frauen, die älter als 44 Jahre sind, wurden bei den „bis 44-jährigen” mitgezählt.


Quelle: www.regionalstatistik.de, Tabelle 178-31-4, Abruf 8.8.2012.

Erwerbsbeteiligung von Frauen

In den Landkreisen Aurich und Leer (Arbeitsagentur Leer) sind nur 39 von 100 sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätzen mit Frauen besetzt; in Emden/Wittmund (Arbeitsagentur Emden) sind es auch nur knapp 42. Auf 100 sozialversicherungspflichtig erwerbstätige Männer kommen im Gebiet der Arbeitsagentur Emden 70 und der Arbeitsagentur Leer 66 Frauen. Ostfriesland liegt damit deutlich unterhalb des Durchschnitts.

Zu der verbreiteten Norm der ausschließlich häuslichen Kindererziehung und des damit zusammenhängenden Mangels an öffentlichen Kinderbetreuungsangeboten kommt hinzu, dass Arbeitsplätze wegen des unzureichenden öffentlichen Nahverkehrs häufig schwer zu erreichen sind. Das eine zieht das andere nach sich: Wo es keine Nachfrage nach öffentlichem Nahverkehr oder nach öffentlicher Kinderbetreuung gibt, wird solches auch nicht eingerichtet – und wo es diese Angebote nicht gibt, wird die Nicht-Erwerbstätigkeit von Müttern zur Normalität. Hinzu kommt, dass viele Frauen (nicht nur in Ostfriesland) Berufe wie Friseurin, Verkäuferin, Sprechstundenhelferin, Restaurantfachfrau und Hotelfachangestellte gelernt haben, in denen die Zahl der Ausbildungsabsolventinnen regelmäßig erheblich höher ist als die Nachfrage nach Fachkräften. Keinen ausbildungsgemäßen Arbeitsplatz finden zu können, erhöht die Bereitschaft zum Zuhausebleiben. Schließlich ist die Entscheidung auch abhängig von der erreichbaren Lohnhöhe (Krüger 1998, 147).


Quelle: Statistik der Bundesagentur für Arbeit. Arbeitsmarkt in Zahlen. Sozialversicherungspflichtig und geringfügig entlohnte Beschäftigung. Nürnberg, Stichtag jeweils 30.9, eigene Berechnungen.


Quelle: Berechnet nach: Statistik der Bundesagentur für Arbeit. Arbeitsmarkt in Zahlen, Sozialversicherungspflichtig und geringfügig entlohnte Beschäftigte, Nürnberg, Stichtag 31.12.2011, Ausgaben für die Arbeitsagenturen Emden und Leer.


Wichtig sein dürfte darüber hinaus auch die relative Attraktivität von 450-Euro-Jobs im Vergleich zum erreichbaren Netto-Verdienst in einem versicherungspflichtigen Arbeitsverhältnis. Eine erhebliche Anzahl ostfriesischer Frauen arbeitet auf der Basis solcher Verträge. Im Jahr 2011 waren 69.000 Frauen sozialversicherungspflichtig erwerbstätig und fast noch einmal halb so viele – 33.000 – auf (damals) 400-Euro-Basis: Frauen die etwas „hinzuverdienen”, die keinen oder nur einen minimalen Rentenanspruch erwerben und die nicht krankenversichert sind, es sei denn, sie sind verheiratet und bei ihrem Mann mitversichert. Angesichts des niedrigen Frauenlohns in Ostfriesland „rechnet sich” dort eine nicht-versicherungspflichtige Erwerbstätigkeit besonders. Im Landkreis Leer z.B. beträgt der durchschnittliche Verdienst Vollzeit erwerbstätiger Frauen brutto 1.874 Euro und der von Männern 2.525 Euro, (vgl. Kapitel 10). Arbeitet eine Frau halbtags (86 Std., Steuerklasse V) hat sie 637 netto.[22] Rechnet sie gegen, dass sie mit 40 Arbeitsstunden im Monat 400 Euro netto verdienen könnte, bringen ihr die zusätzlichen 46 Arbeitsstunden 237 Euro ein.

Nach dem Lohnsteuerjahresausgleich sieht die Bilanz einer sozialversicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit zwar deutlich besser aus: Der Mann (Steuerklasse III) hat übers Jahr zu wenig Steuern bezahlt und die Frau (Steuerklasse V) erheblich zu viel.[23] Da aber aufgrund des Splitting-Verfahrens mit jedem Zuverdienst der Frau dem Mann Steuervorteile verloren gehen, bringt die Halbtagsarbeit übers Jahr lediglich ein Plus von 6.351 Euro (monatl. 529,23 Euro). Werden davon Kindergarten-/Krippengebühren und Fahrtkosten abgezogen, arbeitet die Frau für fast nichts. Und wenn dann noch Anspruch auf Betreuungsgeld besteht, wird das Zuhausebleiben endgültig attraktiv.

Sprache ist – hoffentlich nicht! – das Spiegelbild des Denkens

Zeitungen geben nicht unbedingt eins zu eins die Meinung ihrer Leser_innen wider. Indem sie aber über bestimmte Dinge berichten und über andere nicht und gleichzeitig auch die Dinge bewerten, sind sie ein wichtiges Medium der Meinungsbildung. Kein Zweifel: Der Ostfriesen-Zeitung ist viel gut recherchiertes Spannendes und auch Kritisches zu entnehmen. Zu Frauenfragen aber hat die Zeitung eine sehr eigenartige Haltung. Unter „Frauenemanzipation” versteht die Redaktion „gute Heiratschancen”. Auch Frauenfeindliches kommt des Öfteren vor.

Jeden Freitag gibt es in Zeitung eine Kolumne, in der es heißt: „Wieder eine Woche auf dem Weg zur Emanzipation geschafft”. Meist geht es um Belanglosigkeiten. Aufschlussreich ist jedoch die Ausgabe vom 3.8.2012. Die Autorin befasst sich mit der Nachricht, dass der 93-jährige Altbundeskanzler Helmut Schmidt eine neue Lebensgefährtin hat, eine 78-jährige. Die Autorin begrüßt, dass Schmidt nicht Müntefering und Altkanzler Kohl nacheifere:

„Dies macht Hoffnung. Vielleicht erkennen die Männer ja jetzt, dass es gar nicht nötig ist, sich eine junge Frau zu suchen, sondern dass man mit einer gleichaltrigen viel besser klarkommen kann. Man hat mehr Gemeinsamkeiten”.

Die Erkundung „von welligen Oberflächen” sei „mit Sicherheit sehr viel spannender als das Streicheln über glatte Haut.” Die Quintessenz ist:

„Die Frau am Freitag wäre froh, wenn mehr Männer den Schmidt und nicht den Münte machen würden. Dann müssten auch nicht mehr so viele Frauen im Alter alleine (…) bleiben.”

Das Ziel der Frauenemanzipation ist dieser Kolumne zu Folge also, dass Frauen einen Partner finden, und nicht etwa, dass Frauen eigenständig entscheiden können, ob sie mit einem Mann zusammenleben wollen und wenn ja, mit wem. Die Göttinger Professorin Ilona Ostner (1995) brachte demgegenüber die Kriterien „loyality”, „voice” und „exit” ins Spiel: Wer die Freiheit zum Ausstieg (exit) hat, hat die Freiheit, die Stimme (voice) zu erheben und hat auch die Freiheit, sich zu fügen (loyality). Wer diese Freiheit aber nicht hat, muss sich fügen. Die Ostfriesen-Zeitung geht davon aus, dass Frauen sowieso keine Exit-Möglichkeit haben.

Über Aktivitäten der örtlichen Gleichstellungsbeauftragten sowie der in Ostfriesland zahlreichen Hausfrauen- und Landfrauenvereine wird höchst selten berichtet. Erinnern kann ich mich nur an einen einzigen Artikel, in dem es um eine berufliche Wiedereingliederungsmaßnahme einer Gleichstellungsstelle ging. Auch die Hausfrauen- und Landfrauenvereine machen durchaus Interessantes. Etwa organisieren sie Vortragsveranstaltungen zu alternativen Heilmethoden, neuen Erkenntnissen zur Kindererziehung, Gartengestaltung oder zum Pflanzenschutz. Diese Termine sind allenfalls im Veranstaltungskalender zu finden. So trafen sich z.B. 2012 die Frauen des „Interfriesischer Rates” in Leer. Das Treffen dieses Zusammenschlusses der Friesinnen der Niederlande, Schleswig-Holsteins, Frieslands und Ostfrieslands wurde vorab zwar angekündigt, berichtet wurde darüber aber nicht. Gleichzeitig wird jede Jahreshauptversammlung einer Dorf-Feuerwehr mit vier Spalten plus Foto gewürdigt.

Auch Blondinenwitze sind in der Ostfriesen-Zeitung nicht selten. Sie werden ihr von Kindern zugesandt und ausgerechnet auf der Kinderseite abgedruckt. Ein Kommentar zur Wahl einer Kandidatin für die Landtagswahl zeugt gleichfalls von hintergründiger Frauenfeindlichkeit:

„Keine Frage: Die Sozialdemokraten im Landkreis Leer ziehen mit breiter Brust in den Wahlkampf” (OZ 20.2.2012).

Zu diesem Artikel gab es ein Foto, auf dem der Spitzenkandidat der niedersächsischen SPD (und jetziger Ministerpräsident) Stephan Weil die Kandidatin und den Kandidaten präsentiert. Weil hat den rechten Arm angewinkelt und die Handfläche nach oben gedreht. Auf dem Foto sieht es aus, ab ob er die Brust der Kandidatin stützt.

Manchmal jedoch muss selbst „frau” schmunzeln: „Eigene Kleidung für Schüler des TGG”, heißt es in der Ostfriesenzeitung (14.1.2012). Neuerdings also dürfen dortige „Schüler” eigene Kleidung tragen? Durften sie die Schule bis dahin nur in muffigen Leihklamotten besuchen? Hier lässt sich tiefgründig weiterspinnen: Übten sich die Lehrerinnen gar im Geschlechterkampf gegen männliche Schüler? Schließlich war diese Schule bis 1972 noch ein Mädchengymnasium. (Sie zählt übrigens zu den ältesten höheren Mädchenschulen Deutschlands, wurde 1849 gegründet und hat seit 1909 die Abiturberechtigung.) Sicherlich übertreibe ich hier ein wenig. Mitteilen wollte die Zeitung, dass die Schule jetzt T-Shirts und Base-Caps mit ihrem Logo an die Schüler – und sicherlich auch an die Schülerinnen – verkauft.

Belustigend ist gleichfalls ein Bericht über eine Fördermaßnahme zugunsten von Jungen: Ein Tischler besucht für jeweils eine Woche einen Kindergarten und bringt den Kindern den Umgang mit Holz bei. Auf dem beigefügten Foto beschäftigt sich aber ausgerechnet ein Mädchen am eifrigsten mit einem Werkstück.[24]

„Grundidee ist, in überwiegend von weiblichen Erzieherinnen geprägten Kindergärten besonders Jungen geschlechtsspezifisch in ihrer Entwicklung zu unterstützten” (OZ 5.3.2012).

Die These, dass weibliche Erzieherinnen und Lehrerinnen Jungen unterdrückten und Jungen deshalb häufiger zu Schulversagern würden, hat allmählich einen ellenlangen Bart. Sie ist Allgemeingut – aber wissenschaftlich nicht belegt. Die Ostfriesen-Zeitung wiederholt distanzlos die Argumentation der Projektverantwortlichen.[25]

Durchaus nicht alle Ostfriesen_innen teilen die Meinung, dass Frauen „ins Haus” gehören. So planen sowohl das Emder VW-Werk als auch der Großefehner Baustoffhandel Trauco einen Betriebskindergarten einzurichten. Auch lud das VW-Werk zum Girls’ Day 2012 250(!) Siebt- bis Zehnklässlerinnen ein. Das Ziel war, ihnen Berufe vorzustellen, in denen Frauen seltener vertreten sind. Das Emder VW-Werk ist schon seit langem dafür bekannt, dass es überdurchschnittlich viele Mädchen in metall- und elektrotechnischen Berufen ausbildet und sie selbstredend hinterher ausbildungsgemäß beschäftigt.[26] Während die Ostfriesen-Zeitung so manchen Schulausflug mit einer Reportage würdigt, ist ihr der Girls’ Day des VW-Werks gerade mal eine knappe Ankündigung wert. Dass Frauen gut bezahlte (Männer)-Berufe lernen und ausüben, passt nicht in das Weltbild der Zeitung – und auch nicht in das vieler Ostfriesen_innen. Dabei sind die Haltungen der Ostfriesen_innen durchaus vielschichtig und auch gegensätzlich: Die einen ziehen für einen Kindergartenplatz vor Gericht, die anderen wollen ihre Kinder weder in einen Kindergarten noch in eine Ganztagsschule schicken.

Ostfriesland verstehen

Подняться наверх