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Namen geben, Zeichen setzen
ОглавлениеAm 17. Januar ertränkte sich in Weimar ein Mädchen in der Ilm. Ihren Leichnam fand man, wie es hieß, nahe des Hauses von Josias von Stein, dem Gatten von Goethes Charlotte. In der Tasche des Kleides der jungen Toten steckte eine Ausgabe von Die Leiden des jungen Werthers.
Goethe suchte noch am selben Abend die Eltern auf.
Am gleichen Tag berichtete Mozart dem Vater zum ersten Mal von der Mannheimer Familie Weber, deren Bekanntschaft er bereits im Spätherbst gemacht hatte. Er werde, ließ er wissen, mit einem »gewisse(n) H. weber« eine Konzertreise nach Kirchheimbolanden unternehmen. Bei besagtem H. Weber handelte es sich um den 45-jährigen Fridolin Weber, den jüngeren Bruder des Komponisten Franz Anton Weber. Letzterer wurde später Vater des weit berühmteren Komponisten Carl Maria von Weber.
Als Vorstand einer großen Familie verdiente Fridolin Weber das immer knappe Geld als Basssänger, Souffleur und Notenkopist für den Mannheimer Hof. Aloisia, eine von Webers vier Töchtern, die alle eine Ausbildung als Sängerinnen erfuhren, erwähnte Mozart in dem Brief ebenfalls: »sie singt halt recht vortrefflich, und hat eine schöne reine Stimm«.
Kurzum, Mozart hatte sich wieder mal verliebt.
Am 18. Januar erreichte James Cook Kaua’i, eine der Hauptinseln des heutigen Hawaii, und nahm als erster Europäer Kontakt mit den Bewohnern auf. Erstaunt bemerkte er die Verwandtschaft der Kultur und Sprache der Hawaiianer mit der von den Bewohnern des weit entfernten Tahiti. Er nannte die Inselgruppe aus üppigem Grün und mit leuchtend weißen Stränden Sandwich-Inseln und gab damit doch noch einer hübscheren Inselgruppe als den schroffen Eilanden im Südatlantik den Namen seines Förderers. Cook blieb bis zum 2. Februar. Dann setzte er Segel und nahm Kurs auf die Nordwestküste von Amerika.
Im Februar veröffentlichte Georg Forster in London auf Drängen seines Vaters einen Appell an die Öffentlichkeit. Damit wollte er auf den Earl of Sandwich und den König Druck ausüben, die Jahre der Cook-Reise doch noch mit Geld zu entlohnen. Die finanziellen Verhältnisse der Familie hatten sich weiter verschlimmert. Reinhold durfte wegen seiner Schulden England nicht verlassen, und die Schwestern trauten sich wegen ihrer zerschlissenen Kleider nicht mehr aus dem Haus.
Georgs Appell brachte nichts ein außer Literaturkritik. Man bescheinigte ihm einen herausragenden Stil, aber auch zuweilen überbordendes Pathos. Sandwich und George III. plagten derweil andere Sorgen. Am 6. Februar hatten Frankreich und die Vereinigten Staaten eine Allianz geschlossen. Um die Sache Großbritanniens in Nordamerika stand es immer schlechter.
Mit seinen Sympathien für die Amerikaner hielt Georg Forster nicht hinter dem Berg. Die Idee einer Gesellschaft in Freiheit und Gleichheit begeisterte ihn, und er fühlte sich und seine Familie von England nicht angenommen. Vielleicht, so überlegte er mehr und mehr, lag seine Zukunft doch im Land seiner Herkunft: in Deutschland. Er nannte sich nun mit klarem Bekenntnis einen Deutschen. Seinen Vornamen schrieb er immer öfter »Georg« statt »George«.
Mozart hatte in Mannheim noch wenig erreicht. Das Leben war teuer, das Geld knapp. Maßhalten aber kam nicht in Frage. Während der Vater zu Hause weitere Kredite aufnehmen musste, gab der Sohn jeden Kreuzer sofort aus. Seine Unterkunft im Pfälzischen Hof hatte er Ende des Vorjahres aufgeben müssen und ein Zimmer bei dem Hofkammerrat Serrarius bezogen. Seinen neuen Vermieter hielt er schadlos, indem er dessen 15-jährige Stieftochter Therese unterrichtete. Er widmete ihr eine Sonate für Violine und Klavier, die er, wie die meisten seiner Mannheimer Werke, in der kleinen kalten Unterkunft zu Papier brachte.
Vater Leopold versuchte, aus Salzburg auf den Sohn einzuwirken. Er solle nach Paris gehen. Dort sei jetzt der Erfolg zu suchen. Zumal Kurfürst Carl Theodor nun nicht mehr in Mannheim residierte. Der hatte während des Silvester-Gottesdienstes in der Schlosskirche vom Tod seines Vetters Maximilian III. erfahren und sich, um dessen Erbe als Kurfürst von Bayern anzutreten, sofort auf den Weg nach München gemacht. Womit Mannheims goldene Zeit jäh am letzten Tag des Jahres 1777 beendet war.
Mit dem Rat des Vaters traf sich, dass Mozarts Freund und Helfer Wendling für den Februar eine Reise nach Paris geplant hatte. Er wollte dort gemeinsam mit einigen anderen Musikern der Mannheimer Hofkapelle sein Glück suchen. Mozart solle unbedingt mitkommen. Doch Mitte Februar reiste Wendling ohne ihn ab. Mozart plante, währenddessen gemeinsam mit Weber und zweien seiner Töchter eine Konzertreise durch Europa anzutreten. Ziel: Italien. Er sah die Webers mittlerweile als eine zweite Familie. Sie taten ihm gut, und er ihnen auch. Doch von seinen anderen Freunden zog er sich zurück, und er vernachlässigte Aufträge. Lieber arbeitete er mit der angebeteten Aloisia. Er komponierte Arien für sie.
Der Vater bestand aber weiter auf Paris. Er schickte erneut Geld. Diesmal opferte man die Ersparnisse von Schwester Nannerl. Derart bedrängt, wurde Sohn Wolfgang in seiner Verzweiflung krank und legte sich mit Grippe und Fieber ins Bett.
Kant wollte so gar nicht reisen – und von Königsberg wegziehen erst recht nicht. Am 28. Februar bot ihm Karl Abraham Freiherr von Zedlitz, seines Zeichens Minister für Kirchen- und Unterrichtsangelegenheiten des preußischen Königs Friedrich II., eine Professur in Halle zum nahezu Dreifachen seiner bisherigen Bezüge. Die viel größere Universität der Stadt an der Saale genoss ein weit besseres Renommee als die von Königsberg. Zudem lag Halle nicht derart fernab wie Kants am östlichsten Rand des Reiches gelegene Heimatstadt. Doch selbst als Zedlitz das Gehaltsangebot nachbesserte und Kant noch die Ernennung zum Hofrat in Aussicht stellte, winkte der ab. Er hatte schon mehrere Rufe abgelehnt. Als Begründung nannte er den nur »kleine(n) Anteil von Lebenskraft«, der ihm »zugemessen« sei.
Kants neue Phase in der Entwicklung und Darlegung seines Denkens machte sich auch längst in einem Wandel der Art seiner Vorlesungen bemerkbar. Der spät zum Professor Ernannte, der anfangs seine Vorlesungen lebendig und anschaulich gestaltet hatte – auch weil er von den Zahlungen der Zuhörer leben musste –, ließ seit Jahren seine Gedanken immer unverständlicher, verstiegener und dunkler ins Uferlose schweifen. Doch viele der Studenten und Gasthörer ahnten, dass es da etwas zu entdecken gab, vielleicht sogar etwas Großes. Was das war, wusste allerdings niemand zu benennen. Manche Studenten schlugen sich Nächte um die Ohren, um das Mitgeschriebene zu erfassen, anderen wiederum reichte es, sagen zu können, Vorlesungen des dunklen Kant zu besuchen.
In der Tat: Kant zu hören war Mode. Ihm selbst jedoch ging es nur um die Erkenntnis – und um sonst gar nichts. Als man ihn irgendwann in diesem Jahr bat, zur Erläuterung seiner Gedanken doch eine kleine schriftliche Zusammenfassung herauszugeben, lehnte er ab. Was in der Vorlesung vielleicht noch verständlich sei, meinte er, könne man in einer verkürzten Niederschrift nicht festhalten. Über manche Studenten beschwerte er sich. Sie notierten zu wenig, klagte er, und dann würden sie aus der Beschäftigung mit diesem Zuwenig heraus die eigentlichen Gedanken missverstehen.
Im Grunde hatte Kant sich innerlich davon verabschiedet, Lehrer zu sein. Er war nun reiner Denker auf der Suche nach dem System für die Vielfalt und Wucht seiner Überlegungen.
Am 6. März landete James Cook an der Küste des heutigen Oregon. Am Ende des Monats ging er im Westen von Vancouver Island in einem dreiarmigen Meeresfjord, dem heutigen Nootka Sound, vor Anker. Dort blieb er den nächsten Monat und ließ die beiden Schiffe überholen. Er nannte den Fjord »King George Sound«. Die Insel im Fjord, in der Cook den ersten Kontakt mit den Einheimischen aufnahm, benannte er nach William Bligh. Cook segelte die Küste entlang weiter Richtung Norden, durchfuhr die Inselkette der Aleuten und erreichte die Beringstraße.
Nach längerem Schriftwechsel und letztlich vergeblicher Auflehnung fügte sich Mozart dem Wunsch des Vaters. Am 14. März nahm er schweren Herzens Abschied von Aloisia und machte sich mit der Mutter auf den Weg nach Paris. Nach neun Tagen Reise trafen sie dort ein. Mozarts Hoffnung, von Marie Antoinette empfangen zu werden, erfüllte sich nicht. Enttäuscht glaubte er, sie habe ihn vergessen. Aber sie hatte andere Dinge im Kopf und im Herzen – unter dem Herzen. Sie erwartete ein Kind.
In Mozarts und Marie Antoinettes gemeinsamer Heimat Österreich erfuhr Maria Theresia einige Tage später von der Schwangerschaft ihrer Tochter. Noch wollte sie es nicht glauben. Am 5. Mai bestätigte es aber ihr Spion, der Graf von Mercy-Argenteau, und drei Monate später gab es der französische Hof der Welt bekannt. Die werdende Mutter hatte erste Bewegungen des Kindes gespürt.
Als Staatsdiener hatte Goethe seinen Herzog in politischer Mission zu begleiten. Daher ging es mit Carl August im Mai nach Preußen. Auf dem Prachtboulevard Unter den Linden waren sie am 17. des Monats zum Mittagstisch im Palais von Friedrichs Bruder Prinz Heinrich geladen. Der große König hielt sich gerade im Feldlager in Schlesien auf, für Goethe vermutlich eine glückliche Fügung, denn Friedrich hielt Goethes Götz von Berlichingen für »eine scheußliche Nachahmung der schlechten englischen Stücke«, zu denen er im Übrigen auch und gerade die von Shakespeare zählte.
Carl August wollte im Streit zwischen Preußen und Österreich um die bayrische Erbfolge, aus dem ein Krieg zu werden drohte, die Lage eruieren. Er neigte Preußen zu, seine Mutter Anna Amalia hingegen der österreichischen Seite.
Goethe fremdelte in dieser Umgebung. Graf Ernst Ahasverus Heinrich von Lehndorff, Goethes Nachbar bei Tisch, schilderte ihn später als hochmütig und kurz angebunden. Goethe hingegen berichtete entsetzt an Charlotte von Stein: »So viel kann ich sagen, je größer die Welt, desto garstiger wird die Farce, und ich schwöre, keine Zote und Eselei der Hanswurstiaden ist so ekelhaft als das Wesen der Großen, Mittleren und Kleinen durcheinander.«
Der Wendepunkt von Saratoga hatte Frankreich zunehmend offen an die Seite der USA treten lassen, was im Februar nicht nur zur französischen Anerkennung der USA als Staat führte, sondern in Paris zur Unterzeichnung eines Freundschafts- und Handelsvertrages und Militärbündnisses – ausgehandelt mit Benjamin Franklin als amerikanischem Vertreter, vorangetrieben vor allem von Louis’ Außenminister Charles Gravier, Graf von Vergennes, der die Briten hasste und Revanche für den verlorenen Siebenjährigen Krieg nehmen wollte und seinen zögerlichen König nach und nach überredete. Die Regierung in London erklärte daraufhin am 17. März Frankreich den Krieg.
Washington verließ erst im Mai mit seinen Männern das Winterquartier von Valley Forge. Trotz aller Schwierigkeiten, dem Hunger, den vielen durch Krankheiten zu beklagenden Toten, standen ihm nun dank vieler Neuverpflichtungen 12 000 Mann zur Verfügung, ausgebildet von Steuben.
Der Oberbefehlshaber der Briten in Amerika General Howe übergab ebenfalls im Mai sein Kommando an Sir Henry Clinton. Der erwartete französische Truppen zur Unterstützung seines Gegners und zog sich im gleichen Monat aus Philadelphia zurück, um seine Kräfte in New York zu konzentrieren. Ein verheerender Fehler. Denn diejenigen Bewohner der Kolonien, die dort bislang noch loyal zur Krone gestanden hatten, fühlten sich verraten. Washington wollte nun gegen die abrückenden Briten gemäß seiner alten Taktik nicht den großen Kampf wagen, sondern nadelstichartig deren Nachhut attackieren. So kam es ungewollt zur Schlacht von Monmouth.
Das Thermometer zeigte am 28. Juni, einem der heißesten Tage dieses Jahres, etwa 35 Grad. Den Angriff der Amerikaner bei Monmouth führte Washington-Kritiker General Charles Lee: zögerlich, lustlos. Die Briten reagierten mit einer Gegenattacke auf seine Flanke. Lee befahl den Rückzug, der in eine kopflose Flucht überging. Nun griff Washington ein. Laut fluchend enthob er Lee noch auf dem Schlachtfeld des Kommandos, sammelte mit Steuben die Truppen neu und ging zum Gegenangriff über. In der drückenden Hitze ließen die Kampfhandlungen bald nach. Am Abend zogen sich beide Seiten zurück. Der Tag hatte keinen Sieger.
Kurz nacheinander starben Voltaire und Rousseau.
Voltaire tat am 30. Mai in Paris in einem abgedunkelten Zimmer des Stadthauses Hôtel de Villette seinen letzten Atemzug. Erst im Februar hatte er noch, 83 Jahre alt und geschwächt nach fast drei Jahrzehnten des Exils in seine Heimat zurückgekehrt, mit letzter Kraft und diebischer Freude die späten Huldigungen seiner Landsleute entgegengenommen. Der herbeigerufene Priester wollte ihm ein Bekenntnis zu Gott abringen. Voltaire soll ihm zugezischt haben: »Lassen Sie mich doch in Frieden sterben!«
Vor diesem dreisten Versuch eines Seelenfangs im Angesicht des Todes hatte schon ein anderer Priester den sterbenden Philosophen besucht. Dies allerdings zu Voltaires Vergnügen, da dieser Priester kam, um dem berühmten Kirchenkritiker zu huldigen.
Der gerade ordinierte 24-jährige Charles-Maurice Talleyrand hatte als Zweitgeborener des Grafen Talleyrand-Périgord, wie viele junge Zweitgeborene seines Standes, die Priesterlaufbahn einschlagen müssen. Talleyrand litt von früher Kindheit unter einem verkrüppelten Fuß, der ihn schwer hinken ließ. Vermutlich war es Kinderlähmung. Da er aber die Wahrheit gern zu seinen Gunsten bog, behauptete er, eine Amme habe ihn als Kleinkind vom Tisch fallen lassen und der entstandene Bruch sei schlecht verheilt. Als sein ältester Bruder starb, erfuhr Talleyrand die Demütigung, als Zweitgeborener bei der Vererbung der Adelsrechte übergangen zu werden. Man billigte sie seinem jüngeren Bruder zu.
So hatte Charles-Maurice Talleyrand bei der kirchlichen Laufbahn bleiben müssen, die er aus tiefstem Herzen verabscheute. Er litt unter der Zucht im Collège, doch er begann sich im Innern zu befreien. Er las Rousseau und Voltaire und legte eine pornografische Sammlung an. Schwerpunkt: Ausschweifungen von Priestern und Nonnen. Dann, zum Entsetzen vieler Zeugen, bot er eines Tages einer Schauspielerin, wegen ihrer jüdischen Herkunft zusätzlich verachtet, im strömenden Regen an, sie mit seinem Schirm zu begleiten.
Aus dem Besuch bei dem in den Tod gleitenden Voltaire schöpfte Talleyrand nun womöglich Mut für ein Leben, das noch viele verschlungene Wege und zu brechende Tabus für ihn bereithielt. Ergriffen soll er am Bett des alten Philosophen gesessen haben, gleich einem Betenden.
Rousseau starb nur einen Monat nach Voltaire am 2. Juli in Ermenonville, nordöstlich von Paris. Er war gerade 66 Jahre alt geworden. Auch er hatte in seinen letzten Tagen noch einen jungen Verehrer empfangen, den 20-jährigen Jurastudenten Maximilien de Robespierre. Als Schüler durch einen Bischof mit einem Stipendium gefördert, hatte er einige Preise gewonnen, so etwa in Rhetorik.
Seine letzte Zuflucht Ermenonville verdankte Rousseau der Einladung seines Bewunderers, des Marquis René de Girardin. Der wollte dem Philosophen und seiner jahrelangen und in jenen Tagen kranken Gefährtin Thérèse Levasseur auf seinem Besitz einen Platz zur Erholung bieten. Das Paar nahm Quartier in einem Häuschen des Landschaftsparks, den Girardin um sein Schloss hatte anlegen lassen, einer der ersten Landschaftsparks auf dem europäischen Festland nach englischem Vorbild. Die Anregungen hatte Girardin in Rousseaus Briefroman Julie ou La nouvelle Héloïse gefunden. Doch wie jeder Garten war auch Girardins Garten, obwohl er der Idee sich selbst überlassener Natur entsprang, Menschenwerk. Die Gestaltung entsprang nur einem anderen neuen Geist als die barocken Gärten und Parks, die das Natürliche in Zirkel und Geometrie zwangen.
Girardin ließ Rousseau im Park auf einer mit Pappeln bepflanzten Teichinsel begraben. Den neuen Wallfahrtsort besuchten in den nächsten Jahren Benjamin Franklin, Thomas Jefferson, Danton, Robespierre und auch Napoleon Bonaparte. Und aus Versailles, vielleicht direkt aus ihrem eigenen »Zurück zur Natur«-Park des Petit Trianon, kam auch Marie Antoinette.
Am 3. Juli, einen Tag nach Rousseau, starb Mozarts Mutter Anna Maria vermutlich an Typhus in Paris. Nur ein Freund begleitete den erschütterten Sohn bei der Bestattung. Mozart gab die alte Bleibe auf und fand Unterkunft bei seinem alten Förderer Friedrich Melchior Grimm. Der aber unterließ es nicht, Mozart zu mehr Disziplin und mehr Bemühen um Aufträge zu mahnen, worauf der klagte, Grimm sei in der Lage »Kindern zu helfen, aber nicht erwachsenen Leuten«.
Mozart reiste wieder nach Mannheim. Er schwärmte vom Orchester mit seiner erweiterten Besetzung, die sich in jenen Tagen durchsetzte, und den neuen Instrumentierungsmöglichkeiten, etwa bei den Bläsern. Mannheim stand bei den musikalischen Neuerungen des Orchesters an vorderster Front. Der Vater wollte nun den Sohn wieder in Salzburg sehen. Der aber fand immerzu Gründe, dem nicht nachzugeben. Denn da war auch noch – und vor allem – Aloisia! Er hatte ihr aus Paris unablässig sehnsüchtige Briefe geschrieben, insbesondere nach dem Tod der Mutter. Als Sängerin lief es für Aloisia derweil hervorragend. In München hatte sie mittlerweile eine Anstellung mit einem dreifach höheren Gehalt als dem von Vater Mozart in Salzburg. Wolfgang Amadé wollte nach München.
Von April bis Juli fuhr James Cook die amerikanische Nordwestküste hinauf und suchte nach möglichen Einfahrten zur Nordwestpassage. Am 18. August stieß er im Norden an die sommerliche Eisgrenze. Zehn Tage lang segelte er mit seinen beiden Schiffen daran entlang, trat in Kontakt mit einigen der dort lebenden Volksgruppen und kartierte mit der Hilfe Blighs die Küstenlinien. Danach nahm er Kurs gen Westen, fuhr die Nordküste Sibiriens entlang und dann südöstlich in die Beringstraße zurück, die er im frühen September wieder erreichte. Cook wollte wieder in die Wärme Hawaiis. Er war krank. Der Magen schmerzte fürchterlich.
Lichtenberg schrieb am 27. August an seinen Freund Schernhagen: »Gestern war ich mit dem Drachen auf der Masch; der Wind war heftig und der Drachen über 1000, wo nicht 1100 Fuß hoch; er schien sich in den Wolken zu verlieren. Der Wind feucht und daher die Elektrizität schwach.« Der Drache stürzte ab, und ganz Göttingen sprach wieder über die Tollheiten des »lüttjen Professors«.
Seit dem Vorjahr widmete sich Lichtenberg der Elektrizität, jenem Gebiet, auf dem Benjamin Franklin in den letzten Jahrzehnten so viel Aufsehen erregt hatte. Am 5. Februar hatte er Schernhagen berichtet, er habe »mit einem einzigen Schlag eine Menge konzentrischer Zirkel hervorgebracht«. Beim Abschleifen der Harzplatte seines Elektrophors, eines einfachen frühen Gerätes zur Erzeugung elektrischer Spannung, waren Lichtenberg im Staub verästelte Muster aufgefallen, die den Namen Lichtenberg-Figuren erhalten sollten. Aus weiterem Experimentieren und Nachdenken folgerte er, dass Elektrizität, wie von Franklin bereits vermutet, eine einheitliche Kraft darstellte. Die Lichtenberg-Figuren ermöglichten es, positive und negative Elektrizität zu zeigen; und Lichtenberg selbst war es, der für elektrische Pole und Ladungen die Zeichen »plus +« und »minus -« vergab.
Am Nachmittag des 23. Oktober machte sich Georg Forster erneut von England aus auf den Weg zum Festland. Er bestieg ein Schiff in Harwich und überquerte den Ärmelkanal. Sein Ziel war Deutschland. Dort kannte man ihn längst über wissenschaftliche Kreise hinaus. Christoph Martin Wieland – Übersetzer, Dichter, Herausgeber und in Weimar Erzieher der Söhne von Herzogin Anna Amalia – hatte im ersten Quartal in seiner einflussreichen Zeitschrift Der Teutsche Merkur Auszüge aus Forsters Reisebeschreibung gedruckt und gleich eine überschwängliche Rezension beigefügt. Mittlerweile befand sich Forster im Gespräch mit Joseph Banks über die Übersetzungsrechte für den Bericht von Cooks dritter großer Reise, und in Berlin wollte er mit seinem Verleger Johann Karl Philipp Spener künftige Projekte erörtern. Zudem hoffte er, in Deutschland für seinen Vater eine Stelle zu finden.
Auf dem Festland angekommen, reiste Forster in einem Treidelboot nach Delft, von dort weiter nach Rotterdam, schwer atmend im Qualm der Pfeifen von vierzig Holländern, die mit ihm in der Kabine saßen. Anschließend verbrachte er einige Tage in Den Haag, wo er sich mit mehreren Gelehrten traf. Am 21. November erreichte er Düsseldorf, die erste deutsche Stadt, die er seit 13 Jahren sah. Erleichtert teilte er Spener per Brief mit, er fühle sich wie ein neuer Mensch.
In Düsseldorf sprach sich Forsters Ankunft schnell herum, und schon bald traf eine Einladung des Dichters und Philosophen Friedrich Jacobi in seiner Unterkunft ein. Jacobi kannte die Geistesgrößen seiner Zeit und war ein enger Freund Goethes. Bei einer Abendgesellschaft las Jacobi nun unveröffentlichte Gedichte Goethes vor, darunter Prometheus. Forster war tief beeindruckt.
Am 1. Dezember, eine halbe Woche nachdem er 24 Jahre alt geworden war, traf Georg Forster in Kassel ein, wo ihm Landgraf Friedrich II. eine Audienz gewährte. Forster musste nun gute Miene vor dem Mann machen, den er wegen dessen Soldatenhandels verachtete. Sein Versuch, dem Vater eine Professorenstelle in Kassel zu verschaffen, scheiterte. Der Landgraf wollte stattdessen den Sohn und bot ihm für einen Lehrstuhl ein weit besseres Gehalt als üblich. Georg Forster war hin- und hergerissen. Sollte er als Sohn annehmen, was der Vater so dringend brauchte? Noch einmal brachte er den Vater ins Spiel. Doch der Landgraf wollte ihn partout nicht. So nahm Georg also selbst die Stelle. Er ahnte die Reaktion des Vaters, der das als Demütigung auffassen musste.
Bis zum endgültigen Antritt der Professur gewährte der Landgraf großzügigen Urlaub, und so reiste Forster weiter. Ziel: das nahe Göttingen.
In der Nacht zum 19. Dezember begannen bei Marie Antoinette die Wehen. Man rief allen laut Protokoll befugten und verpflichteten Adel herbei, denn die Geburt eines Kindes der Königin musste am Hof vor den Augen eines ausgewählten Kreises stattfinden. Man stellte Reihen von Stühlen und Sesseln um das Bett, tuschelnd und Fächer wedelnd wurden die Qualen der Gebärenden verfolgt. Nach sieben Stunden brachte sie am 19. Dezember nach 11 Uhr das Kind zur Welt. Man klatschte. Als man der jungen Mutter sagte, es sei ein Mädchen, brach sie in Tränen aus. Danach fiel sie in Ohnmacht. Die Tochter erhielt den Namen Marie-Thérèse Charlotte, man nannte sie Madame Royale. Wie üblich gab man sie in die Hände einer Erzieherin. Für Madame Royale hatte man Marie Louise de la Tour d’Auvergne, Prinzessin von Guémené, vorgesehen.
Das ganze Land atmete auf, feierte Feste und brannte Feuerwerke ab. Das Königspaar gewährte Begnadigungen und verteilte großzügige Geschenke. Auch an das Volk.
Mozart traf zu Weihnachten in München ein. Er nahm Quartier bei den Webers. Die hatten in ihrem Antwortbrief auf seine Nachricht vom Tod der Mutter vor allem über ihre eigene angeblich schlechte Lage geklagt. Ob er nicht Geld senden könne. Daraufhin wandte Mozart sich an den Vater in Salzburg und gab vor, Auftraggeber hätten nicht gezahlt.
Wolfgang Amadé wollte nun um Aloisias Hand anhalten, die erfolgreich als Sängerin an der kurfürstlichen Oper auftrat. Sie wies den Antrag des unansehnlichen Gescheiterten kalt und herablassend ab. Mozart war erschüttert. Aus Salzburg rief weiterhin der Vater.
Kurz vor Weihnachten empfing Lichtenberg in Göttingen seinen Gast Georg Forster. Er hatte darauf bestanden, ihn zu beherbergen. Es gab viel zu erzählen, und Forster blieb 14 Tage. Lichtenberg liebte Forsters Bericht von der Reise mit Cook, und er selbst gab seinem breit interessierten Gast womöglich Auskunft über seine in jenen Tagen begonnenen Vorlesungen zur Experimentalphysik, mit denen er in ganz Europa berühmt werden und die er bis an sein Lebensende halten sollte.
Am 30. Dezember verlieh die Universität Georg Forster den Magistertitel. Er lernte zahlreiche Göttinger Gelehrte kennen, wie den Anthropologen Johann Friedrich Blumenbach, den Orientalisten Johann David Michaelis und den Altphilologen Christian Gottlob Heyne. Mit ihnen allen sollte Forster noch auf die eine oder andere Weise zu tun bekommen, mal wissenschaftlich, mal sehr persönlich.
Zunächst trat vor allem Heyne in sein Leben. In Die Leiden des jungen Werthers hatte Goethe Werther berichten lassen, er besitze ein Manuskript Heynes über das Studium der Antike. Heyne hatte Forster im November des Vorjahres zum korrespondierenden Mitglied der Göttinger Akademie gemacht, und Therese, eine seiner Töchter, sollte eine bedeutende Rolle in Georg Forsters Leben spielen. Die 14-jährige Therese Heyne zählte man wie ihre Freundin Caroline Michaelis zu den Göttinger Professorentöchtern in heiratsfähigem Alter. Man sprach von ihnen als den Universitätsmamsellen. Georg Forster begegnete Therese vermutlich kurz nach Silvester zum ersten Mal. Doch wir greifen vor.