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Weg mit den Fesseln!
ОглавлениеDer Neujahrstag fiel auf einen Sonntag. In der britischen Kolonie Virginia notierte der 42-jährige Großgrundbesitzer George Washington in seinem Tagebuch: »Den ganzen Tag zu Hause. Doktor Craik ging nach dem Frühstück.«
Einst hatte Washington einem Freund von seiner Hoffnung geschrieben, »in der Zurückgezogenheit mehr Glück zu finden, als ich jemals in der weiten und geschäftigen Welt erleben könnte«. Am grünen Ufer des Potomac verwaltete er Felder und Wälder seines weitläufigen Anwesens Mount Vernon, baute das Haupthaus aus und empfing tagein, tagaus großzügig Gäste. Fast auf den Tag war er nun seit 16 Jahren mit Martha verheiratet und gehörte dank der Ehe mit der reichen Witwe zu den wohlhabendsten Männern des Landes.
Doch über dem beschaulichen Leben lagen Schatten. Ein schon lange schwelender Konflikt drohte zu eskalieren. Seit dem vor zwölf Jahren beendeten Siebenjährigen Krieg, in dem Washington als Major der Miliz von Virginia an der Seite des britischen Mutterlands gegen Frankreich gekämpft hatte, forderten König und Parlament im fernen London stetig mehr Zölle und Abgaben von den Bürgern der Kolonien. Die aber wollten nur noch zahlen, wenn sie bei der Gestaltung ihres Gemeinwesens mitsprechen durften: »No taxation without representation!« (»Keine Besteuerung ohne Vertretung!«), riefen sie dem Mutterland entgegen. Die Spannungen wuchsen mittlerweile fast täglich.
Washington dachte schon lange darüber nach, was zu tun sei, wenn es zum bewaffneten Kampf gegen das britische Mutterland käme. Vor wenigen Wochen hatte er hundert Musketen bestellt, und mehrere Büchlein mit Dienstvorschriften. Den Rest des Neujahrstages verbrachte er damit, Verluste und Gewinne beim Kartenspiel des abgelaufenen Jahres auszurechnen.
In Versailles sah Marie Antoinette darüber hinweg, wie viel Geld sie beim Kartenspiel verlor. Es war viel. Andere hätten davon Schlösser kaufen können. Gatte König Louis XVI. beglich großzügig jede Schuld.
Als das 15. von 16 Kindern der österreichischen Kaiserin Maria Theresia war Maria Antonia Josepha Johanna, von allen nur Antoinette genannt, verhätschelt und umsorgt aufgewachsen. Als Kind gelang es ihr meist mit ihrem Charme, sich jeglicher Pflicht und auch dem Lernen zu entziehen. Die Mutter entdeckte an ihr liebenswerte Züge, aber auch Mängel in der Persönlichkeit. »Sie ist zu jung. Sie war nie fleißig, und sie wird es auch nie werden«, urteilte sie; was Maria Theresia aber nicht davon abhielt, ihre erst 14-jährige Tochter als Spielfigur ihrer Heiratsdiplomatie einzusetzen. Die Kaiserin wollte die jahrhundertealte Feindschaft Österreichs mit Frankreich beenden, und daher musste Marie Antoinette den französischen Thronfolger heiraten, um so das neue Bündnis mit Frankreich zu sichern. Das sollte vor allem Friedrich II. in Preußen Einhalt gebieten.
Mit einem »Seid gut zu den Franzosen, damit sie sagen, ich hätte ihnen einen Engel geschickt«, gab Maria Theresia ihr Kind in die Fremde und in die Hände eines Bräutigams, der ebenso unreif und unbedarft war. Louis, gerade erst 15 geworden, schüchtern, unsicher und in sich gekehrt, zitterte, als er Marie Antoinette bei der Hochzeit am 16. Mai 1770 in der Kapelle des Schlosses von Versailles den Ring auf den Finger streifte. Am Abend geleitete der Hofstaat das junge Paar in sein Schlafzimmer. Ein hoher Geistlicher segnete das Bett. Der König und die Höflinge zogen sich mit den besten Wünschen für die Nacht zurück. Die beiden lagen nebeneinander. Und nichts geschah.
Nun, am Neujahrstag 1775, standen Marie Antoinette und Louis erst seit wenigen Monaten als Königin und König an der Spitze von Frankreich. Sie war 19, er 20 Jahre alt. Marie Antoinette wollte etwas gegen die Last auf ihren Schultern tun. Das in strenge Regeln gefasste Leben am Hof, die Blicke auf jeden ihrer Schritte, die Urteile über jedes ihrer Worte raubten ihr die Luft. Aber eines nach dem anderen: Zunächst gelang es ihr, an diesem Neujahrstag, Louis zu überreden, dem Bruder ihrer Favoritin künftig eine großzügige Pension zu zahlen.
Fünf Jahre zuvor hatte Marie Antoinettes Aufsehen erregende Brautfahrt in Straßburg einen Höhepunkt gefunden, und der damals 20-jährige Student Johann Wolfgang Goethe hatte aus der Menge die blutjunge Prinzessin in einem gläsernen Wagen vorbeifahren sehen. Auf einer Rheininsel übergab man sie fernab vom einfachen Volk in einer seltsamen Zeremonie an den französischen Gesandten. In einem Zelt musste sie sich unter den Augen der Höflinge beider Länder völlig entkleiden und nackt alles aus ihrem bislang so behüteten Leben zurücklassen; selbst ihren Lieblingsring.
Das Zelt der Übergabe hatte Goethe vorab besichtigen können. Man hatte es mit Wandteppichen ausgekleidet, auf denen Motive der Hochzeit der blutig endenden Ehe von Jason und Medea zu sehen waren. Goethe sprach damals entsetzt von einem schlechten Omen.
Nun, in den Tagen kurz nach Neujahr, hatte sich der 25-jährige Goethe im winterlichen Frankfurt am Main von einem Freund spontan überreden lassen, eine Klaviersoiree zu besuchen. Er wusste, alle Augen würden auf ihm ruhen. Denn seit einigen Monaten war er berühmt.
Schon im letzten Frühjahr als Dramatiker mit seinem Schauspiel Götz von Berlichingen erstmals hervorgetreten, stieg seit Herbst sein Ruhm durch den Roman Die Leiden des jungen Werthers in fast unermessliche Höhen. Landauf, landab nahm Werthers tragische Geschichte Leser beiderlei Geschlechts gefangen. Man las still für sich oder in Gruppen, weinte allein oder gemeinsam um den unglücklich liebenden Protagonisten, der in Briefen von seinem Herzensleid erzählte und sich schließlich erschoss. Mancher tat es dem armen Werther nach, nicht nur in Deutschland. Rasch in alle erdenklichen Sprachen übersetzt, wurde das Werk zum ersten literarischen Bestseller in Europa, der aus Deutschland stammte.
An einem Abend der ersten Tage des Jahres trat dieser berühmte junge Goethe in feiner Garderobe vor die Tür: schlank, gutaussehend, mit braunen Augen und braunen Haaren – und von überschäumendem Temperament. In jedem Raum, den er betrat, sorgte er sofort für Furore. Vor allem Kinder und Frauen nahm er leicht für sich ein, Letztere sehr zum Verdruss anderer Männer.
Nur wenige hundert Meter musste er sich vom Haus der Eltern am Hirschgraben den Weg durch die kalten Gassen zum Kornmarkt leuchten. Dort trat er wieder in die Welt, aus der er gerade kam. Die Fassade des Hauses der Bankiersfamilie Schönemann mit den schützenden schmiedeeisernen Fensterkörben des Erdgeschosses ähnelte der des Domizils der Goethes. Die Treppe in der Eingangshalle zierte ein fast identisches Rokokogeländer. Die Wachstuchtapeten bei Schönemanns und bei Goethes stammten vom selben Maler.
Am Konzertflügel in der Mitte des Gesellschaftsraums bauschte die 16-jährige Tochter des Hauses ihren Rock und setzte sich. Elisabeth hieß sie. Sie nannte sich Liesel. Für Goethe würde sie bald Lili sein. Sie hatte den Werther gelesen. Sie wusste, wer der junge Mann war, der sich zu ihr an das Ende des Flügels stellte und sie fixierte. Leicht und sicher tanzten ihre Finger über die Tasten. Nach dem letzten Ton und anerkennendem Applaus sprach er sie an. Sie musterte ihn, schaute ihm direkt in die Augen, weder schüchtern noch verlegen. Sie hörte zu, antwortete unbefangen und stellte ihrerseits Fragen. Goethe erkannte eine Gleiche. Rasch wussten beide, sie wollten sich wiedersehen.
Auf einem Schiff im südlichen Atlantik notierte der 19-jährige Georg Forster in dem engen Verschlag, der ihm als Kajüte diente: »Das neue Jahr fing bei frischem Winde und kalter Luft, mit einem schönen heiteren Tage an.« Seit zweieinhalb Jahren fuhr er fern von Europa über unbekannte See und lernte fremde Küsten, Menschen und Natur kennen.
In nahezu letzter Minute war sein Vater Johann Reinhold Forster als leitender Wissenschaftler für die zweite Südseereise James Cooks eingesprungen. Denn die Forderungen von Joseph Banks, dem berühmten und exzentrischen leitenden Wissenschaftler von Cooks erster Reise, hatten die Admiralität dazu bewogen, auf dessen Dienste zu verzichten. Reinhold Forster, ebenfalls kein Mann vornehmer Zurückhaltung, gelang es, für seine Teilnahme die Begleitung durch seinen begabten Sohn Georg als wissenschaftlichen Beobachter und Zeichner durchzusetzen.
Cook wollte auf seiner Reise endlich den sagenumwobenen Kontinent »Terra Australis« finden, der schon lange in den Köpfen der Europäer spukte. Von England hatte er mit den Schiffen Resolution und Adventure das Kap der Guten Hoffnung gen Osten passiert und dann monatelang im südlichen Pazifik gesucht. Doch selbst weit hinter dem Polarkreis sichtete er kein Land, nur Eis. Es ging nach Australien, Neuseeland und Tahiti, bis Cook schließlich seine Suche aufgab und wieder Kap Hoorn ansteuerte. Dass er auf der Reise viele der letzten unbekannten Küsten des Globus für die Europäer entdeckt hatte, war ihm nur ein schwacher Trost.
Nun durchpflügten die Resolution und die Adventure den unruhigen Südatlantik. Nahe der Isla de los Estados machte Cook halt und ließ einige Männer auf einem Eiland anlanden. Sie jagten Seelöwen und kochten den Tran aus den erlegten Tieren heraus. Georg Forster stand noch unter dem Eindruck der Bewohner der kargen nassen Welt Feuerlands. Die hatten vor wenigen Tagen in groben Kanus die Schiffe begleitet, in der Kälte halbnackt, arm und dumpf erscheinend, und unablässig ein monotones »Pässeräh« gerufen. Verglichen mit den anmutigen, das Herz öffnenden Menschen, die er auf Tahiti kennengelernt hatte, schienen diese Menschen das Gegenteil. Doch genau dies, dass ihn eine fremde Kultur mal begeisterte, mal abstieß, beschäftigte Georg Forster auf dieser Reise schon seit langem. Er fragte sich zunehmend, was der Mensch sei, was ihn ausmache. Ob alle Menschen im Grunde gleich waren und nur die Lebensumstände und die Gegebenheiten der Natur sie trennten?
Schon über das ganze letzte Jahr hatte der mittlerweile 69-Jährige, beiderseits des Atlantiks berühmte Universalgelehrte Benjamin Franklin in London den Hochmut und die Ignoranz der Verantwortlichen erdulden müssen. Dort kämpfte er auch jetzt als Vertreter der amerikanischen Kolonien unermüdlich darum, den zunehmenden Zwist mit dem britischen Mutterland doch noch zu schlichten.
Als zu Beginn des Vorjahrs in England die Meldungen eingetroffen waren, Bürger in Boston hätten Teeladungen britischer Schiffe ins Hafenbecken geworfen, schien eine Einigung in weite Ferne zu rücken. Zudem schritt der Ablösungsprozess voran. Am 1. September dann war in Franklins Heimat Philadelphia der Erste Kontinentalkongress mit Vertretern aller Einzelkolonien zusammengetreten, während sich die Menschen überall im Land in Stadt- und Kreisversammlungen organisierten; sie bildeten Milizen. Britische Staatlichkeit begann zu schwinden, und die Amerikaner waren zunehmend bereit, die geforderte Freiheit auch durch den Einsatz von Gewalt zu sichern.
In London wuchs – angesichts der Korruption in der britischen Regierung – Franklins Überzeugung, dass ein weiterer Verbleib seiner Heimat im britischen Empire »mehr Schaden als Nutzen« bringe, wie er am 25. Februar einem Delegierten Pennsylvanias aus London mitteilte.
An diesem selben 25. Februar verstarb in Birmingham der Gelehrte William Small. Benjamin Franklin hatte ihm vor Jahren mit einem Empfehlungsschreiben den Zugang zu einem illustren Kreis eröffnet. In und um Birmingham tauschten sich nämlich seit längerem einige Männer über Fortschritte in Wissenschaft, Technik und Gesellschaft aus. Franklin war zweimal Gast der Gruppe gewesen und hatte dabei von den Kräften der Elektrizität erzählt.
Begonnen hatte es fast zwei Jahrzehnte zuvor mit der Freundschaft zwischen dem jungen Unternehmer Matthew Boulton und dem Landarzt Erasmus Darwin, dem späteren Großvater Charles Darwins. Die beiden wollten die Welt verbessern. Darwin, dessen Körperfülle ihm nichts an Impulsivität und Tatkraft nahm, kämpfte sich in schlecht gefederten Kutschen unablässig auf den holprigen Wegen Englands von Patient zu Patient. In manchem Jahr legte er über 10 000 Kilometer zurück, was für die damalige Zeit atemberaubend war. Auf seinen Fahrten sann er über bessere Federungen, Wege, Wasserkanäle und Kutschlenkungen nach. Letztlich interessierte Darwin nahezu alles; auch die Kraft der von Benjamin Franklin in alle Köpfe gebrachten Elektrizität. Sein Freund, der leutselige Menschenfänger Matthew Boulton, suchte als Unternehmer rasch die Umsetzung und den Gewinn, dies aber – anders als die meisten seiner Zunft – immer mit dem Ziel, die Gesellschaft zu verbessern und soziale Missstände zu beseitigen.
Zu Darwins und Boultons Experimentier- und Gesprächsrunden stießen bald andere, auch besagter William Small, ein Professor für Naturwissenschaften. Der gebürtige Schotte war zum Professor in Williamsburg in Virginia ernannt worden und hatte dort einen seiner Schüler, den Sohn eines reichen Tabakpflanzers, so tief beeindruckt, dass sie Freundschaft schlossen und sich Smalls Einfluss auf diesen Schüler bald in dessen Taten niederschlagen sollte. Der Name des Schülers, von dem noch die Rede sein wird: Thomas Jefferson.
Nachdem Small in Großbritannien von Franklin eingeführt worden war, entwickelte er sich rasch zum Ruhepol und Mittler der Gruppe in Birmingham, die noch weitere außergewöhnliche Persönlichkeiten anzog. So den Chemiker und Philosophen Joseph Priestley und den Ingenieur James Watt. Auch Joseph Banks, der Vorgänger Reinhold Forsters als wissenschaftlicher Leiter James Cooks, war der Gruppe freundschaftlich verbunden.
Auch jenseits des Atlantiks half Benjamin Franklin mit einem Empfehlungsschreiben. Einen »genialen, achtbaren jungen Mann« pries er an. Sein Name: Thomas Paine. Bereits Ende 30, also nicht mehr ganz so jung und vielfach gescheitert, wollte er nun in Amerika sein Glück suchen. Von hochgewachsener Gestalt, trug er seine dunklen, von ersten grauen Strähnen durchsetzten Haare im Nacken zum Zopf gebunden. Seine außergewöhnlich große Nase vermittelte den Eindruck, sie diene als Kimme für seinen eindringlich forschenden Blick.
Paine stammte aus bescheidenen Verhältnissen und hatte wie sein Vater als Korsett- und Seilmacher gearbeitet, bis er von zu Hause weglief, als Matrose auf Kaperschiffen diente, um danach als Beamter beim Zoll herausgeworfen zu werden. Sein Umgang mit Schmugglern soll allzu nachsichtig gewesen sein.
Nachdem seine erste Frau im Kindbett verstorben war und er das Tabakgeschäft seiner zweiten Frau ruiniert hatte, stand Paine vor dem Nichts. Vor seinen Gläubigern nach London geflohen, verschaffte ihm ein Freund den Kontakt zu Benjamin Franklin. Mit dessen Empfehlungsschreiben im Gepäck nach Amerika aufgebrochen, hätte Paine die Reise fast nicht überlebt, da auf dem Auswandererschiff Typhus ausbrach. Viele an Bord starben. Bei der Ankunft in Philadelphia musste man ihn auf einer Trage an Land bringen. Glücklicherweise eilte ihm der Arzt Franklins zu Hilfe.
Jetzt, Anfang des Jahres, ein wenig erholt, streifte Paine durch die Straßen, bewunderte die dreistöckigen Häuser aus rotem Backstein mit ihren weiß gerahmten Giebeln und Fenstern und besuchte die von Franklin gegründete Bibliothek. Thomas Aitken, Inhaber des Buchladens, neben dem er wohnte, machte Paine das Angebot, an der neuen Zeitschrift The Pennsylvania Magazine mitzuarbeiten, die er gerade gründete und die aus der Perspektive von Amerikanern für Amerikaner über Politik, Gesellschaft, Wissenschaft und Philosophie berichten sollte. Paine stimmte zu und stürzte sich in die Arbeit.
Goethe tat Mitte Februar etwas Seltsames. In einem Brief vertraute er seine Gefühle einer Verehrerin an, deren Identität er bislang nicht kannte. Die Adressatin war die junge Auguste Gräfin zu Stolberg. Sie hatte ihm nach der Lektüre des Werther im Überschwang geschrieben. Nun, kurz nach seiner Begegnung mit Lili, antwortete Goethe ihr zum ersten Mal und berichtete der Unbekannten von der Wucht seiner Gefühle für die junge Frau. In den nächsten sieben Jahren sollten er und Auguste sich viele Briefe schicken, begegnen aber sollten sie sich nie.
Bei den Schönemanns ging Goethe mittlerweile ein und aus. Der alleinige Grund war Lili. Sie beruhigte ihn, sie wühlte ihn auf. Unablässig las er in ihren Blicken und Gesten Einverständnis. Er, der sich selbst Bär und Hurone nannte, bemühte sich, von den Schönemanns akzeptiert und gemocht zu werden, schmeichelte und scherzte. Doch wie nur wenige andere vermochte Goethe, sich von außen zu betrachten. Seiner Brieffreundin Auguste berichtete er von »einem Goethe« »im galonierten Rock«, »in leidlich konsistenter Galanterie«, »umleuchtet vom unbedeutenden Prachtglanz der Wandleuchter und Kronleuchter« und »von ein paar schönen Augen am Spieltische gehalten«. Alles nur, weil er »einer niedlichen Blondine den Hof macht«. Da habe sie den »gegenwärtigen Fastnachts Goethe, der Ihnen neulich einige dumpfe tiefe Gefühle verstolperte«.
Fasziniert und etwas misstrauisch beobachteten die Goethes und Schönemanns das Treiben ihrer beiden Kinder. Goethes Vater, ein promovierter Jurist, der dank des väterlichen Erbes das Leben eines Privatiers führte und sich vor allem der Erziehung und Ausbildung seines Sohnes und seiner Tochter widmete, konnte sich für die Familie Schönemann nicht erwärmen. Er sah in ihnen Emporkömmlinge. Die Familie verdankte ihr Vermögen den Bankiersgeschäften des verstorbenen Vaters Schönemann im Siebenjährigen Krieg. Und dann war da noch die Religion: Die Goethes waren Lutheraner, die Schönemanns Reformierte. Doch am schlimmsten: Die beiden Mütter mochten einander nicht. Goethes Mutter liebte die Kunst und bevorzugte den Umgang mit Künstlern, Mutter Schönemann hingegen hielt eifrig nach gesellschaftlicher Verbesserung für ihre vier Söhne und ihre Tochter Ausschau; der junge Goethe genügte trotz seiner wohlhabenden Familie ihren Ansprüchen nicht.
Goethe tanzte, gab sich galant, aber blieb unberechenbar. Mitten im Satz konnte er eine Idee haben, davongehen und nicht wieder erscheinen. Doch meist gelang es Lili, ihn einzuhegen. Sie sagte ihm, wie sehr sie Männern gefalle; es sei ihr ein Leichtes, von ihnen zu bekommen, was sie wolle. Streitigkeiten machte sie ein Ende, indem sie langsam mit der Hand über den Tisch strich, bis etwas zu Boden stürzte. Eines Tages, im April unter dem Frühlingshimmel, drängte eine energische Freundin die beiden Liebenden, sich doch endlich die Hände zu reichen. Mit einem Male war Goethe verlobt. Er kaufte zwei kleine Herzen aus Gold. Die konnte man an Bändern um den Hals tragen.
Kaum zur Königin ernannt, hatte sich Marie Antoinette von Louis ein kleines Schloss als Rückzugsort erbeten, das Petit Trianon. Und Louis schenkte es ihr. Das war im Vorjahr.
Das Petit Trianon lag abseits im weit auslaufenden Parkgelände des Schlosses von Versailles, verborgen hinter Hecken und Wald, Welten entfernt von der Ehrfurcht befehlenden langgestreckten Fassade des Hauptschlosses. Der Bau glich einer hübschen quadratischen Schachtel. Seine Räume mit ihren großen Fenstern strahlten großzügig und heiter.
Sofort hatte Marie Antoinette den Abriss des streng geometrisch gefassten Barockparks angeordnet. Sie wollte eine englische Parklandschaft. Das war Mode und folgte den neuen Blickwinkeln auf die Natur, auch ausgelöst durch den einflussreichsten lebenden Philosophen dieser Tage: Jean-Jacques Rousseau. In seinen Schriften las alle Welt den Aufruf »Zurück zur Natur«, obwohl er dort nicht stand. Aus den Gedanken des Philosophen jedoch konnte man kaum anderes schließen: In den Ursprüngen war alles gut, sagte er. Auch die Menschen seien es gewesen. Sie hätten sich nur falsch entwickelt und müssten daher die Fesseln der Gesellschaft abwerfen.
Marie Antoinette hatte Rousseau nicht gelesen, vermutlich überhaupt nie ein ganzes Buch. Sie griff für ihren Park aber dieses »je ne sais quoi« auf, das in der Luft lag. Eine von Menschenhand geformte Natur sollte nun also entstehen und so wirken, als wäre sie ohne Zwang völlig aus sich selbst heraus gewachsen, dies aber mit geschwungenen Wegen entlang der Windungen kleiner Bachläufe und weiten Rasenflächen, gesäumt von bedacht gesetzten Wäldchen. Es wurde Frühling. Im Frühling kann man nur ahnen, welche Töne das Grün im Jahreslauf annehmen wird – und welche Bögen es am Rand der Wege des Lebens schlägt.
Europa lag offen wie ein weiter bunter Platz, auf dem man sich gegenseitig besuchte und Ideen anderer aufgriff. Die Landschaftsgärten Englands entstanden auch in Deutschland, Österreich, Polen und Russland. In der Mode gewann das Praktische an Zustimmung, die Liebe des Rokoko zum Zierrat verlor an Boden, wobei sich die Kleidung der Frauen und Männer vor allem in Hinsicht auf das Praktische gegenseitig beeinflusste. An den Adelshöfen jedoch blieb die Mode zunächst extravaganter und gleichzeitig reglementierter als die im gehobenen Bürgertum. Viele Söhne und Töchter der besseren bürgerlichen Kreise in Europa und in Amerika hörten auf, Perücken zu tragen. Eine Perücke? Eine Kopfbedeckung? Rousseau hielt das für Blödsinn. Man trug das Haar zum Zopf gebunden. Wie Paine, wie der junge Goethe. Rousseau selbst musste sich jedoch von allen abheben. Er setzte sich eine armenische Mütze auf.
Noch aber hatten die Perückenmacher genug Kundschaft. In London wurde dem Perückenmacher William Turner und seiner Frau Mary am 23. April in der Maiden Lane in Covent Garden ein Junge geboren. Sie nannten ihn Joseph Mallord William. Die ersten halbbewussten Eindrücke des Lebens sollte er in diesem Viertel gewinnen. Hier betrieb sein Vater mit Erfolg ein exquisites Geschäft und ein großzügiges Studio für die Perückenherstellung.
In Covent Garden lebten die Söhne und Töchter des Adels. Die von ihrer Bildungsreise durch Europa Zurückgekehrten nannte man – da es sie nahezu immer nach Italien zog – abfällig »Macaronis«. Eine Karikatur verspottete Joseph Banks als »Botanic Macaroni«.
Vor allem Rom galt noch immer oder auch wieder als die Stadt aller Städte. Die Söhne des Adels reisten auf ihren Kavalierstouren dorthin und ließen sich zunehmend auch von der Erinnerung an die antike Stadt verzaubern. Der politische Machtwille der damaligen selbstbewussten republikanischen Bürger und deren Klarheit in Denken und Stil verhießen einen Gegenentwurf zu dem weltabgewandt leichtfertigen Leben an den absolutistischen Höfen dieser Tage.
Um Covent Garden herum wurde gerade der dreistimmige Gesang des Glee populär, und es sollte nicht mehr lang dauern, bis die ersten Dandys durch die Straßen stolzierten. Der kleine Joseph William Mallord Turner machte schon bald, kaum dass er gehen konnte, auf sich aufmerksam. Er zeigte ein außergewöhnliches Talent für das Zeichnen und Malen.
In Massachusetts waren am 19. April – vier Tage vor dem ersten Schrei des jungen Turner – Schüsse gefallen. Britische Soldaten wollten ein Vorratsdepot der Kolonisten ausheben. Die aber stellten sich ihnen mit Musketen entgegen. Am Ende lagen 73 Briten und 50 Kolonisten tot am Rande der Straße von Concord nach Lexington. Die Briten zogen sich nach Boston zurück, Milizen rückten nach und begannen die Stadt zu belagern. Boten ritten hinaus ins Land und verbreiteten die Nachrichten. Krieg mit England! In New York flohen die Menschen aufs Land.
In Thomas Paines neuer Heimat Philadelphia trat am 10. Mai der Zweite Kontinentalkongress zusammen und erfüllte fortan die Aufgabe einer Quasi-Regierung der Kolonisten. Die Delegierten waren Kaufleute, Anwälte, Ärzte, Fabrikanten, Handwerker, Plantagenbetreiber. Mit dabei: Benjamin Franklin, der in England Ende März ein Schiff bestiegen hatte und am 5. Mai wieder in Philadelphia eingetroffen war.
Für Virginia nahm George Washington teil. In selbst entworfener Uniform war er unter den aufmunternden Klängen einer Kapelle in die Stadt eingezogen – und nun der einzige Delegierte, der eine Uniform trug. Bei den Debatten schwieg er meist. Vielleicht, weil er klug war, vielleicht, weil er sich für seine schlechten Zähne schämte. Aufgrund seiner Körpergröße von fast 1,90 Meter überragte er fast alle. Als man ihn im Juni zum Befehlshaber der aufzubauenden Armee wählte, gab er zu Protokoll: »Ich fühle mich dem Kommando, mit welchem ich beehrt werde, nicht gewachsen« – und nahm die Wahl an. Im Siebenjährigen Krieg hatte er kleine Truppenteile in Scharmützel in Wald und Busch befehligt, große Armeen und große Schlachten jedoch nie geführt. Das stand ihm erst bevor.
Auch in Frankreich rumorte es im Frühling. Die Ernte des letzten Jahres war schlecht gewesen. Das Mehl wurde knapp, die Preise stiegen. Unter den Bürgern wuchs der Argwohn. In Paris und Umgebung stürmte das Volk Märkte, Mühlen und Bäckereien, denn man glaubte, Händler, Adel und auch der König wollten aus dem Mangel Profit schlagen. Der König sandte 25 000 Soldaten. Die beendeten den sogenannten Mehlkrieg umgehend.
Kurz nach der Niederschlagung der Aufstände beeindruckte Marie Antoinette am 11. Juni bei der Krönung ihres Gatten in der Kathedrale von Reims mit einer besonders waghalsigen Perücke. Damen des Adels versuchten, das »le pouf« genannte turmartige Haargebilde sofort nachzuahmen und sich an verrückten Kreationen zu übertreffen. An Material wurde nicht gespart. Besonders nicht am Puder, mit dem die Perücken geweißt wurden. Und der Puder bestand vor allem aus Mehl.
Am Krönungstag in Reims glaubten viele an einen Aufbruch. Das junge Königspaar weckte Hoffnungen auf eine neue Zeit. Man sprach von Louis als »Le Désiré« (»Der Erwünschte«). Begeisterung schlugen König und Königin entgegen. Die Sonne schien und ließ die Kirchenfenster leuchten.
Zwei später wichtige Köpfe der Revolution soll es an diesem Tag auch zu den Feierlichkeiten gezogen haben. Der noch nicht 16-jährige Georges Danton wanderte auf eigene Faust nach Reims, um dem Ereignis beizuwohnen. Der 17-jährige Maximilien de Robespierre soll von seiner Schule ausgewählt worden sein, dem König und der Königin ein Gedicht vorzutragen, jedoch von ihnen kaum Beachtung erfahren haben. Eine nicht belegte Begebenheit.
Vielleicht kannte Marie Antoinette an dem Tag in Reims schon den Brief, den ihre Mutter Maria Theresia am 2. Juni an sie abgefasst hatte. Darin lobte die österreichische Kaiserin ihren Schwiegersohn für den Umgang mit dem Mehlkrieg und argwöhnte: »Im Allgemeinen beginnt dieser Geist des Aufruhrs überall einzudringen, das ist die Folge unseres aufgeklärten Jahrhunderts. Ich stöhne oft darüber, aber die Sittenverderbnis, diese Gleichgültigkeit gegen alles, was mit unserer heiligen Religion zusammenhängt, diese fortgesetzte Abbröckelung sind die Ursachen aller dieser Übel.« Dann, im selben Brief, redete sie der Tochter ins Gewissen. Marie Antoinettes höchste Pflicht sei es, einen Thronfolger zu gebären. Doch die Ehe war noch immer nicht vollzogen. Hofschranzen tuschelten, und Gerüchte drangen aus Versailles ins Land: Die Königin sei lieblos, vernachlässige den König, meide das gemeinsame Bett, habe Liebhaber. Maria Theresia warnte: »Eine Fürstin muss in ihren geringsten Handlungen achtungswert sein und nicht eine flotte Dame in ihrem Anzuge und in ihren Vergnügungen werden. Man zaust uns zu sehr, als dass wir nicht immer auf unserer Hut sein müssten.«
Als Georg Forster am 30. Juli in Plymouth mit wankendem Seemannsgang von Bord der Resolution ging, galt es für ihn und seinen Vater, das gewonnene Wissen und die Erlebnisse möglichst schnell zu Geld zu machen. Aufträge oder gar Ämter waren zu ergattern. Auch die sechs heranwachsenden Kinder, die in London unter der Obhut der Mutter drei Jahre lang gewartet hatten, galt es zu ernähren.
Nun aber packten sie erstmal aus: Waffen der neuseeländischen Maori, Gerätschaften aus Neukaledonien, Masken der Tahitianer, Pflanzen und stapelweise Zeichnungen und Notizen. Sie erfuhren von den Schüssen von Massachusetts. Georg war entsetzt, dass der Landgraf von Hessen-Kassel Söhne seines Landes als Soldaten an die Briten verkaufte. Begierig, alles nachzuholen, was er in den letzten drei Jahren versäumt hatte, ließ Georg sich die neuesten populären Werke aus Deutschland schicken, darunter Götz von Berlichingen und Werther. Den Werther las er dreimal hintereinander. Danach weinte er stundenlang.
Auch Goethe kämpfte in diesen Tagen immer wieder mit den Tränen. Er steckte in einer Zwickmühle. Er liebte Lili, doch das Korsett der Verlobung wurde ihm zu eng. Am 10. Mai, dem gleichen Tag, an dem in Philadelphia die Delegierten darüber zu beraten begannen, wie sie sich vom Joch der Briten befreien konnten, war er zu einer Reise in die Schweiz aufgebrochen. Er wollte über seine eigene Freiheit nachdenken, über die Pflichten und Enge der Ehe, einer Familie, eines Hausstands.
Er reiste mit einem der Brüder seiner Brieffreundin Auguste von Stolberg und dachte immerzu an Lili. Er besuchte seine Schwester Cornelia in Emmendingen unweit von Freiburg im Breisgau. Die empfahl die Auflösung der Verbindung. Geschwisterliche Eifersucht? In Zürich dann vertraute er sich seinem Freund Johann Caspar Lavater an. Der riet ihm, er solle sofort zu Lili reisen. Doch am 22. Juli, zurück in Frankfurt am Main, wollte Goethe die Verlobung lösen. Da trug ihm ein Bekannter zu, Lili habe gesagt, sie würde mit Goethe sogar nach Amerika gehen.
Nach Amerika! Wo die Freiheit aufbrach. Goethe schwankte.
Jeden Tag konnte Thomas Paine aus seinem Quartier an der Market Street sehen, wie mitten in Philadelphia Sklaven verkauft und dabei auf abscheuliche Art behandelt wurden. Am 8. März erschien im Pennsylvania Magazine anonym sein Artikel »African Slavery in America« und sorgte für Furore. Paine prangerte das Leid der Sklaven an und stellte ihr Recht auf persönliche Freiheit heraus. Menschen seien keine Waren, sondern frei geboren. Einige Wochen später wurde die erste Gesellschaft gegen Sklaverei in Amerika ins Leben gerufen. Paine gehörte zu den Gründungsmitgliedern.
In London bekamen die Forsters Probleme mit einem Sandwich. Genauer gesagt mit John Montagu, dem 4. Earl of Sandwich, einem eifrigen Förderer James Cooks, was der ihm damit gedankt hatte, auf seiner Reise ein paar ungemütliche Felsen im polaren Atlantik nach diesem zu benennen, die Südlichen Sandwichinseln. Vielleicht aber dachte Cook schon darüber nach, noch einem hübscheren Ort den Namen des Earls zu geben.
John Montagu, Earl of Sandwich amtierte als Erster Lord der Admiralität. Obwohl ein vielbeschäftigter Mann, frönte er ausgedehnt dem Kartenspiel. Hätte er Marie Antoinette besucht, sie hätten sich nicht gelangweilt. Da der Earl ungern das Spiel unterbrach, ließ er sich am Kartentisch zwei Weißbrotscheiben mit Rindfleisch reichen, was bald in tausenden Varianten seinen Siegeszug als allseits bekanntes Sandwich antreten sollte.
Trotz seiner geographischen und kulinarischen Spuren in anekdotischen Randnotizen von Geschichtsbüchern fallen die Zeugnisse für Sandwich in seiner Funktion als Erster Lord der Admiralität ungünstig aus. Während seiner Amtszeit grassierte die Korruption, die Marine verkam. Derlei kümmerte die Forsters jedoch kaum. Sie wollten ein paar Brosamen abkriegen, vielleicht ein Amt oder eine Geldzuwendung. Sie brauchten derlei mehr als je zuvor, denn Einbrecher hatten vor kurzem einen Teil ihres Hausrats in der Percy Street gestohlen.
Am 16. August geleitete der Earl die beiden Forsters zu König George III. Drei Tage später folgte ein Empfang bei der Königin. Die Forsters brachten Geschenke mit: exotische Tiere, darunter zwei Adler, einige bunte Vögel und eine Schleichkatze. Doch weiterhin ließ der erhoffte königliche Auftrag an Reinhold Forster, exklusiv ein Buch über die Reise zu verfassen, den der Earl vermitteln sollte, beunruhigend lange auf sich warten. Zweifellos mochten sich Georg Forsters Vater und der Earl nicht besonders. Das musste nicht an dem Earl liegen, denn Reinhold Forster stieß mit seiner schroffen Art unablässig andere vor den Kopf.
Die Wochen gingen ins Land. Die Forsters warteten, und Besucher gaben sich in der Percy Street Nr. 16 die Klinke in die Hand. Unter ihnen Fürst Franz von Anhalt-Dessau und seine Gemahlin Louise. Fürst Franz hatte schon zahlreiche Studienreisen in Europa unternommen und bereits auf seiner ersten Reise England und seine Landschaftsparks ins Herz geschlossen. In der Heimat verwandelte er gerade Teile seines kleinen Fürstentums in eine weite Parklandschaft. Franz und Louise beeindruckten die Forsters durch ihre Begeisterung für die Mitbringsel von der Weltreise, und weil es hilfreich sein kann, Fürsten eine Freude zu machen, schenkten sie ihnen zahlreiche wertvolle Stücke. Mit Kunst aus Tonga und Tahiti trat das Fürstenpaar die Heimreise an, machte einen Zwischenstopp bei Rousseau in Frankreich und gewährte ihm dabei vielleicht einen Blick auf die von den Forsters überlassenen Werke der »Naturvölker«.
Am 1. Mai bedankte sich Georg Christoph Lichtenberg per Brief aus England bei seinem Freund, dem Verleger Johann Christian Dieterich, für die Zusendung der »Leiden und Freuden und Tollheiten des jungen Werther«. Doch über den Inhalt schüttelte er den Kopf. Sich erschießen? »Ich glaube«, so Lichtenberg, »der Geruch eines Pfannkuchens ist stärkerer Beweggrund, in der Welt zu bleiben, als alle die mächtigen gemeinten Schlüsse des jungen Werther sind, aus derselben zu gehen.«
Der hochintelligente und belesene Wissenschaftler Lichtenberg war das 17. Kind eines pietistischen Pfarrers, das man nach der Geburt, in der Furcht, es werde nur kurz leben, eilig getauft hatte. Von permanent schwacher Gesundheit trotzte der bucklige und nicht einmal 1,50 Meter kleine Mann schon 35 Jahre den Widrigkeiten seines Lebens, dies vielleicht auch, weil er die Welt voller Gier in sich aufsog. Seit einigen Monaten weilte er abermals in England und genoss besonders London, das für ihn die Hauptstadt der Welt war. Lebendig beschrieb er die Stadt in seinen Briefen nach Hause, berichtete vom Verkehr, »von Chaise hinter Chaise, Wagen hinter Wagen und Karrn hinter Karrn« und vom »Getöse […] Sumsen und Geräusch von tausenden von Zungen und Füßen«, wohindurch »das Geläute von Kirchtürmen, die Glocken der Postbedienten, die Orgeln, Geigen, Leiern und Tambourinen« zu hören seien.
Lichtenberg wohnte schon das ganze Jahr über in einem Eckzimmer im Stadtteil Kew mit Blick auf die wechselnden Gezeiten der Themse und die prächtigen königlichen Gärten, schlief in »königlichen Betttüchern« und aß »mindestens zweimal die Woche« ein »königliches Roastbeef«. Apropos königlich: Zu König George III. – nicht nur Monarch von England, sondern auch Kurfürst von Hannover, wozu die Universitätsstadt Göttingen gehörte, in der Lichtenberg lehrte – pflegte er gute Verbindungen. Immer wieder besuchte er das Königspaar zum Plausch.
Der Worte waren genug gewechselt. Am 9. September lösten Goethe und Lili ihre Verlobung. Danach liefen sie sich weiter über den Weg, etwa im Theater, und wechselten stumme Blicke. Er litt und arbeitete an Faust. Und an dem Trauerspiel Egmont.
Faust beschäftigte ihn schon seit über drei Jahren. Er hatte den Prozess und wohl auch die Hinrichtung der Frankfurter Magd und Kindsmörderin Susanna Margaretha Brandt verfolgt. Deren Schicksal und die Sage um den Alchimisten Johann Heinrich Faust, der im frühen 16. Jahrhundert einen Pakt mit dem Teufel geschlossen und beim Versuch, Gold zu machen, sein Leben verloren haben soll, bildeten Ausgangspunkt und Rahmen des Werkes. Nun floss noch Goethes Liebeskummer mit hinein. Während er den Werther einst in nur vier Wochen geschrieben hatte, sollte er an Faust in den nächsten fünf Jahrzehnten seines Lebens arbeiten und darin auch die Veränderungen der Welt spiegeln – die Veränderungen aus dem Geist der Menschen, die ihr Leben besser machen und ihre Grenzen erweitern wollen.
Am 22. September reiste der 18-jährige Herzog Carl August von Sachsen-Weimar durch Frankfurt am Main und lud Goethe ein, nach Weimar zu kommen. Er regierte seit diesem Monat sein kleines Herzogtum, was zuvor stellvertretend seine Mutter Anna Amalia für ihn getan hatte. Goethe und Carl August kannten sich schon seit Ende des Vorjahres. Jetzt befand sich der junge Herzog auf dem Weg nach Karlsruhe, wo er mit Prinzessin Luise von Hessen-Darmstadt eine Ehe dumpfen Graus eingehen sollte. Drei Kinder sollten sie gemeinsam bekommen. Und Carl August von anderen Frauen noch weitere 38, Schätzungen zufolge.
Im Oktober legte das Herzogspaar auf der Fahrt von seiner Hochzeit nach Weimar erneut einen Stopp in Frankfurt am Main ein. Carl August bekräftigte seine Einladung und versprach Goethe, einen Landauer zu schicken. Dann reiste er ab. Die Kutsche ließ auf sich warten. Goethes Vater spottete, sein Sohn habe den leeren Versprechungen hoher Herrschaften geglaubt, dabei sei er doch sonst nicht auf den Kopf gefallen. Der Sohn arbeitete weiter an Egmont und fand die Verse »Himmelhoch jauchzend / Zum Tode betrübt, / Glücklich allein / Ist die Seele die liebt«. Er schaute aus dem Fenster und verließ tagsüber nicht mehr das Haus. Nachts schlich er sich dann in einen Mantel gehüllt zum Kornmarkt und beobachtete Lili hinter den Fenstern. Er hörte sie ein Lied singen, das er über ihre Liebe gedichtet hatte: »Warum ziehst du mich unwiderstehlich!«
Vater Goethe wollte seinen Sohn nicht mehr leiden sehen, gab ihm Geld und Kredit, damit er auf Reisen gehe. Man dachte an Italien. Vater Goethe war einst selbst dorthin gereist, schwärmte vor seinen beiden Kindern davon, hatte ihnen sogar Italienisch-Unterricht angedeihen lassen.
Während Goethe an eine Reise in den warmen Süden dachte, arbeitete Georg Forster im kalten herbstlichen London wie besessen. Er ordnete seine zahlreichen Pflanzenzeichnungen für ein gemeinsam mit seinem Vater geschriebenes lateinisches Fachbuch über die neu entdeckten Pflanzenarten der Südsee: Characteres generum plantarum. Es erschien im November.
Für Vater Reinhold, der sich weiterhin erfolglos nach Einnahmequellen umtat, winkte am Abend des 13. Oktober eine kleine Ablenkung. Gemeinsam mit dem befreundeten Georg Christoph Lichtenberg besuchte er das Theater in der Drury Lane, in dem David Garrick auftrat. Garrick, wohl berühmtester Schauspieler der Zeit, trug zu der seinerzeit wachsenden Popularität Shakespeares bei, der schon anderthalb Jahrhunderte zuvor drastisch und poetisch das ewige Zehren, Leiden und Streben im Menschen gezeichnet hatte. Auch Deutschland umarmte zunehmend den Dramatiker, von Goethe vier Jahre zuvor bei einer Rede in seinem Elternhaus mit dem Ausruf bedacht: »Natur! Natur! Nichts so Natur als Shakespeares Menschen!«
Bei dem Theaterabend versprach sich der alte Forster zweifellos auch einiges von den Gesprächen mit Lichtenberg. Der konnte ihm womöglich durch seine Verbindungen helfen. Immerhin war der am nächsten Tag mit George III. in den königlichen botanischen Gärten in Kew verabredet und konnte vielleicht ein gutes Wort für ihn einlegen.
Vermutlich tat Lichtenberg dies dann auch. Am 20. Oktober, eine Woche später, entschied die Admiralität, zwei Bücher über die Südseereise veröffentlichen zu lassen. Eines sollte Cook über die seemännischen Erfahrungen verfassen, das andere Reinhold Forster über die naturwissenschaftlichen und anthropologischen Erkenntnisse. Bald aber bemängelte Sandwich Forsters Stil und dessen Weigerung, seine Texte zu ändern.
Lichtenberg war kurz vor dem Abend mit Reinhold Forster von einer Reise nach Stratford-upon-Avon, Birmingham und Bath zurückgekehrt. In Birmingham hatte er die Bekanntschaft Matthew Boultons gemacht. Der organisierte als einer von dutzenden Knopfherstellern am Ort seine Produktion auf völlig neue Weise. Statt wie bisher die Knöpfe nach jedem Arbeitsschritt von einem Handwerker zum nächsten weiterzugegeben, versammelte er alle am Arbeitsprozess Beteiligten in einem großen, eigens errichteten Gebäude in Soho, einem Nachbarort, und ließ sie unter einem Dach arbeiten. Dort fertigten nun laut Lichtenberg »täglich 700 Menschen Knöpfe, Uhrketten, Stahlschnallen, Degengefäße, Etuis, aller Arten von Silberarbeiten, Uhren, alle nur ersinnlichen Zieraten«. Boulton musste die Arbeitsschritte weniger abstimmen und hatte zudem weit geringere Kosten. Was erkläre, so Lichtenberg an seinen Freund Johann Andreas Schernhagen, »warum man die sogenannten Birminghamer Waren in Berlin und Straßburg wohlfeiler kauft«. Auch eine »Feuer- oder Dampfmaschine von einer neuen Konstruktion« durfte Lichtenberg in Boultons Manufaktur in Augenschein nehmen: »Herr Boulton macht noch ein Geheimnis daraus.« Aber er ahnte: »Da die Kraft, die eingeschlossene Dämpfe ausüben, fast gar keine bekannte Grenzen hat, so kann er so viel Wasser auf einen Zug heben, als die Festigkeit der Maschine zulässt.«
In diesem Jahr hatte Boulton in der Hoffnung, die Maschine vielfältig einsetzen und verkaufen zu können, mit deren Konstrukteur James Watt, einem der Männer der Tüftlergruppe um ihn und Darwin, die Firma Boulton & Watt gegründet. Während Watt beständig von der Angst am Scheitern heimgesucht wurde, rief der stets optimistische Boulton seinem Besucher James Boswell in diesem Herbst die berühmt gewordenen Worte zu: »Ich verkaufe hier, was alle Welt sich wünscht: Power!« Power im doppelten Wortsinn: Macht und Kraft.
Am 30. Oktober, einem Montag, verließ Goethe um 6 Uhr in der Frühe Frankfurt am Main. Die Eltern schliefen noch. Der Vater, um das Wesen des Sohnes wissend, hatte diesen noch gebeten, nicht ohne Abschied bei Nacht und Nebel zu verschwinden. Aber genau so geschah es. Die Eltern fanden nur eine Notiz. Der Sohn saß bereits in einer Kutsche mit Ziel Italien. In dem für die Reise begonnenen Tagebuch notierte er: »Lili, adieu Lili, zum zweitenmal!« Es war ein Abschied für immer: »Es hat sich entschieden – wir müssen einzeln unsere Rollen ausspielen.«
In Heidelberg erreichte ihn ein nachgesandtes Dokument des Weimarer Kammerherrn von Kalb, das alle Verzögerungen erklärte. Goethe änderte sein Reiseziel und wandte sich nach Weimar. Am 7. November traf er dort ein. Er trug Kniehosen aus gelbem Leder, Stulpenstiefel, gelbe Weste und einen blauen Frack mit goldenen Knöpfen: die überall zur Mode gewordene Werthertracht.
Sklaven zu besitzen war für George Washington, für seine Familie, seine Freunde und Nachbarn seit Generationen selbstverständlich. Mit elf Jahren hatte er bereits zehn Sklaven von seinem Vater geerbt. Mit 150 Sklaven bewirtschaftete er Mount Vernon. Darüber, ob Sklaven, die nach wie vor gewaltsam unter grausamsten Bedingungen aus Afrika nach Amerika geholt wurden, Menschenrechte besaßen, machte man sich in Washingtons Welt kaum Gedanken. Nur einige Querdenker der Kolonien im Norden, oft religiöse Sektierer oder Freigeister, dachten anders. Aber man lieh ihnen kein Ohr.
Bei den Gefechten von Concord und Lexington war auch Prince Easterbrook verwundet worden. Die Nachwelt weiß nicht viel über ihn. Er gehörte den sogenannten Minutemen an, Siedlermilizen, deren Mitglieder binnen einer Minute einsatzfähig sein mussten. Prince Easterbrook hatte eine schwarze Hautfarbe. Und er war ein Sklave, denn in der Armee der Kolonisten kämpften auch Sklaven und freie Schwarze.
Viele Weiße, insbesondere aus dem Süden, wollten Schwarze nicht bewaffnet sehen. Daher erließ George Washington im November ein Dekret, dass freien Schwarzen den Dienst in der Armee der Kolonien verbot. Derweil sah Washington das Absurde der Sklaverei in seinem Alltag. Jeden Tag. Er erkannte es nur nicht; etwa wenn William Lee in jede Schlacht an seiner Seite ritt: von schwarzer Hautfarbe und sein Sklave.
Im Dezember erhielt in Stuttgart der alternde Soldat Johann Caspar Schiller eine neue überraschende Aufgabe. Einst Feldscher, also Wundarzt beim Militär, später auch Barbier, war er im Siebenjährigen Krieg in der Schlacht von Leuthen knapp mit dem Leben davongekommen. Zuletzt Major, bedeutete es für ihn mit fast 52 Jahren viel, »gnädigst angestellt« zu werden. Er übernahm die Leitung über die Hofgärten von Carl Eugen, dem Herzog von Württemberg. Mit Zögern hatte Schiller seinen hochbegabten Sohn Friedrich in die »Militärpflanzschule« des Herzogs gegeben. Der litt seit zwei Jahren als Eleve Nr. 447 fern der Familie im Schloss Solitude hoch über Stuttgart und musste, wie alle, Berichte über seine Mitschüler verfassen und streng über sich selbst Rechenschaft ablegen. Er tat es mit der Sorgfalt eines verängstigten Kindes.
Am kalten 18. November war die Schule als Herzogliche Militärakademie nach Stuttgart umgezogen. Aus der Carlsschule wurde die Höhere Carlsschule. Die Schüler mussten in langer Reihe vom Höhenrücken der Solitude in die Stadt hinabgehen mit dem Herzog an ihrer Spitze. Die Menschen standen Defilee in den Straßen. Friedrich Schiller, nun 16 Jahre alt, hatte Anfang November das ungeliebte Studium der Rechtswissenschaften aufgegeben und mit dem neu angebotenen Studium der Medizin begonnen. Ihn interessierte weniger die Medizin selbst, sondern die Menschenkunde. Er arbeitete an ersten Gedichten.
Am 5. Dezember begann Vater Schiller seine Arbeit in den Pflanzgärten der Solitude. Birnen- und Apfelbäume zu Tausenden würde er keimen und wachsen lassen und über Württemberg verteilen. Sein Sohn sollte sich später am Geruch faulender Äpfel nicht sattriechen können. Der süßliche Duft beflügelte seine Gedanken. Warum, darüber wird gerätselt.
An Weihnachten ritt Goethe zum Forsthaus des Dorfes Waldeck bei Bürgel. Er trat eine kleine Reise an, um seine neue Heimat kennenzulernen und »einfache Menschen« aufzusuchen, wie er notierte. In einem Brief an Carl August erzählte er, dass ihn auf seinem Ritt durch die Nacht mit einem Male die Vergangenheit eingeholt habe. Schließlich habe er zu singen begonnen: »Holde Lili warst so lang / All meine Lust und all mein Sang / Bist ach nun all mein Schmerz und doch / All mein Sang bist du noch.«
Nach dem Tod Smalls veränderte die forschende Birminghamer Freundesgruppe um Boulton und Erasmus Darwin die Art ihrer Zusammenkünfte. Ab Sonntag, dem 31. Dezember wollten sie sich an jenem Sonntag im Monat treffen, der dem Vollmond am nächsten war. Die Nacht wäre am ehesten hell und der Heimweg komfortabler und sicherer. Womöglich nannten sie sich schon jetzt Lunar Society, obwohl der Name erstmals in Dokumenten des nachfolgenden Jahres auftauchen sollte. Sich selbst nannten sie »Lunatics«, Verrückte.
Nach langer Reise war mittlerweile ein Brief von Smalls ehemaligem Schüler Thomas Jefferson in England eingetroffen. In Unkenntnis von Smalls Tod berichtete er von den Kämpfen zwischen britischen und amerikanischen Truppen und sandte die besten Wünsche verbunden mit der Hoffnung, dass die politischen Entwicklungen ihre Freundschaft nicht trüben würden. In der Lunar Society aber führte die Entwicklung in Amerika zu starken Belastungen, denn die Sympathien für Briten und Amerikaner waren geteilt.
An diesem Silvestertag, während die Lunar Society tafelte und mit gemischten Gefühlen, doch auch voller Neugier ins neue Jahr blickte, erlitten die Kolonisten in der Schlacht von Quebec schwere Verluste und eine bittere Niederlage. Einen Tag zuvor hatte George Washington eine neue Order unterzeichnet. Sie erlaubte es freien Schwarzen, in der Armee der Kolonisten zu dienen.