Читать книгу Die Kunst des Humors - Helge Schönhusen - Страница 8
Ist unser Humor noch zu retten?
ОглавлениеVor einiger Zeit tat ich es anderen Passanten gleich und flüchtete vor dem Regen in eine Weinhandlung. Der Verkäufer, von dem niemand wusste, ob er diesen Ansturm patschnasser Leute begrüßen sollte, blieb gelassen und gab sogar einen Gag zum Besten: „Wenn hier jemand seinen Wein auch trocken mag, ich habe Handtücher da!“
Nicht der Knaller, nicht ganz neu, deshalb kein Grund, dass sämtliche Leute im Laden, kaum zu glauben, schwiegen, keine Miene verzogen. Ich lachte – als einziger – und fühlte mich nicht wohl dabei.
Diese Leute sind sicher nett ansonsten, zuverlässig und fleißig vielleicht, ungewöhnlich klug, kultiviert und beruflich erfolgreich sogar. Aber menschlich haben sie sich in dem Moment eine Menge verschenkt, nicht reagiert, sich nicht amüsiert, weder etwas Lustiges entgegnet noch gelacht, gelächelt oder geschmunzelt. Schade, peinlich.
Wer nicht mehr lachen kann, wird immer komischer. Und wer komisch ist, muss noch lange nicht lustig sein, erst recht nicht humorvoll. Ein Teufelskreis mit Abwärtsspirale, wofür die heute wachsende Zahl von Menschen mit psychischen und psychosomatischen Leiden steht.
Ob trocken schmecken oder trockenreiben – eine humorvolle oder witzige Reaktion muss nicht anspruchsvoll, nicht der vermeintlichen Vernunft und strengen Logik folgen. Sie muss nur passen, irgendwie, ein bisschen originell sein. Und auch wenn sie einer flüchtigen Unterhaltung dient, so entspannt sie die Atmosphäre, überwindet Fremdheit mit einem guten Gefühl von Gleichheit und gemeinschaftlicher Geborgenheit.
Unser Humor macht uns umgänglicher. Wir haben es uns verdient, und wir haben es nötig.
Die Kunden der Weinhandlung hätten genau das gebraucht. Warum? Weil fast jeder in den meisten Lebenssituationen auf irgendeine Form menschlicher Nähe angewiesen ist, die zwar eine gewisse körperliche Distanz wahrt, dennoch für ein gutes Gefühl sorgt. Uns gegenseitig in den Armen liegen und tätscheln, lieben oder loben geht schließlich nicht ohne Weiteres. Blickkontakt, ein Lächeln, ein paar Worte helfen hingegen eine Menge – Humor und der gemeinsame Spaß darüber noch viel mehr. Sie sind ein einfaches und zugleich hochwirksames Instrument auch dort, wo Menschen, die sich nicht kennen, für kurze Zeit auf engem Raum zusammentreffen.
Man kennt diese Erscheinung von Wartezimmern, Warteschlangen, Fahrten in öffentlichen Verkehrsmitteln oder – immer wieder hübsch peinlich – von Aufzügen, in denen jeder halb verlegen nach unten, standhaft geradeaus oder nervös auf die Anzeige starrt und sich kaum zu atmen traut, um nur nicht den Blick anderer Menschen zu treffen, nicht womöglich noch gefällige, originelle Worte wechseln zu müssen. Was gehen mich die Leute an, die sollen mir nett gestohlen bleiben, solange ich sie nicht kenne, sympathisch und attraktiv finde. Ähnlich haben die Weinkunden, warum auch immer, auf jegliche menschliche Verbindung verzichtet, haben sich eingeigelt mit ihrer gedankenlosen Unaufmerksamkeit, lustlosen Hektik, steifen Bedeutsamkeit oder höheren Anspruchshaltung.
Niemand muss heutzutage gleich einen Witz erzählen. Der Witz ist halbtot, vor allem in der mündlichen Welt, mit Ausnahme allenfalls dieses konservierten Biotops stets knallgeselliger, einsam reisender männlicher Handelsvertreter an abendlichen Hotelbars. Ansonsten ist ein reines, zusammenhangsloses Witzeabspulen kaum gefragt, weder zu Hause noch im Job oder auf Partys. Leute, die es dennoch tun, nerven oft mehr als sie unterhalten, beweisen nicht gerade, witzig und humorvoll zu sein.
Wenn aber gar niemand mehr, wie in der Weinhandlung geschehen, amüsant reagiert, lacht oder lächelt, fühlen sich am Ende alle unsicher, misstraut einer dem anderen, kann jeder weiterhin seine Hemmungen, Vorurteile und Ängste ausleben, seinen Ärger, seine Trägheit, Coolness oder Überspanntheit pflegen und damit unzufrieden bleiben.
Deutscher Humor ist, wenn man trotzdem nicht lacht. – Sigismund von Radecki
Stimmen denn die alten Vorurteile überhaupt, die andere Völker gegen uns Deutsche hegen? Zumindest im Alltag konnten wir Deutschen es schon immer gut ertragen, auf Lässigkeit, Genuss und Lebensfreude zu verzichten. Außerdem gibt es keine Dienstanweisung, humorvoll zu sein. Und wer mit unbegrenzter Geschwindigkeit über die Autobahnen seines Landes rast, kann schnell mal unter einem witzlosen Tunnelblick leiden, mehr Adrenalin und aggressives Verdrängungsgebaren als Humor für seine Mitmenschen übrig haben. Das zeigt sich bereits an den häufig verwendeten Floskeln wie „Das war nur ein Witz“ oder „Spaß muss sein.“ Ebenso an solchen zwar ironischen, deswegen aber längst nicht lustig gemeinten Sätzen wie: „Das kann ja heiter werden“, „Sehr witzig“, „Schon lange nicht mehr so gelacht“ oder „Witz komm raus, du bist umzingelt“.
Historisch gesehen ist der Deutsche, schaut man auf seine bestimmende kulturgeschichtliche Epoche, eher der romantische Künstler mit pathetischem Hang zur Natur. Ob das jedoch den modernen Durchschnittsdeutschen betrifft, ist die Frage. Von der Last einer historischen Humorschwäche in Literatur, bildender Kunst, Musik und Philosophie ist jedenfalls heute noch einiges zu spüren. Und seine Sehnsüchte hegt der Deutsche entweder im Stillen oder hängt sie an schnulzige Volksmusik- und Schlagerstars, während er den eigentlichen Humorauftrag an Comedians der elektronischen Medien oder an in Vorgärten platzierte Gipskitschgartenzwerge delegiert.
Achtung, Durchsage: Wer in Deutschland zur Arbeit geht, dem wird dringend empfohlen, um allseits Vertrauen zu schaffen, am Eingang sein griesgrämiges Gesicht aufzusetzen.
Den fehlenden Humor wiegt der Deutsche mit Tugenden wie Disziplin, Pünktlichkeit und Bratwurst auf. Bei den Deutschen muss immer alles solide und akkurat, wissenschaftlich begründet, mit Vorschriften geregelt, vollkaskoversichert, für den Export geeignet, mit teuren Medikamenten behandelbar und für US-amerikanische Geheimdienste gut ausspähbar sein. Der Deutsche hat im Grunde keine Zeit für Humor, da er sich andauernd Kochsendungen im Fernsehen anschaut, pausenlos mit Wassersparen und Mülltrennen beschäftigt ist und sich über angeblich faule Südländer und gefährliche Zuwanderer aufregen muss.
Abgesehen davon, dass der Deutsche ständig Probleme mit seinem geschichtlich geschädigten Nationalstolz hat und sich nicht besonders mag, ist er ein Beweis dafür, dass Humorlosigkeit nicht vor Bildungsschwäche schützt. Die Pisa-Studien sind bekannt und nicht gerade eine seiner besten Expertisen. Doch selbst bei der einfachsten Frage, ob Tomaten Gene haben, schnitten die Deutschen schlechter ab als der europäische Durchschnitt. Dabei sind es doppelt so viele Gene wie beim Menschen. Vielleicht lassen sich daher in naher Zukunft Tomaten züchten, die mehr Humor als viele Deutsche haben, was keine Hürde darstellen dürfte. Sprachlich immerhin sind wir Export-Experten noch begabter als Tomaten, wenn auch beim Englischen, laut Studien, nicht so bewandert wie die Polen, Ungarn, Slowenen oder Österreicher, wie die Skandinavier und Niederländer schon gar nicht.
Wer im Job herzhaft lachen will, sollte zuvor eine Humorgewerkschaft gründen.
Nach wie vor gepflegt in diesen Landen werden die deutsche Gemütlichkeit und German Angst als eigene Institutionen, wozu anscheinend die Häufigkeit der Arztbesuche zählt: Hier liegt der Deutsche mit an der Weltspitze. Wobei in den Wartezimmern noch weniger gelacht wird als auf der Straße, also genauso viel wie in der Politik.
Aus der Kleinstaaterei resultierend ist der Deutsche Humor regional zersplittert und eigentümlich national geprägt, deshalb kennt und will die Welt wohl auch keine deutschen Komiker. Selbst die Deutschen halten ihre Komiker, Comedians und Kabarettisten nicht gerade hoch, so als müssten sie sich ihrer schämen, da sie nicht dem deutschen Musterbild des angepassten, pflichtgetreuen Bürgers entsprechen. Humoristen können nach deutschem Verständnis einfach keine wahren Künstler sein, allenfalls welche mit Political-Correctness-Handicap. Wenigen ist es daher gelungen, in einen Komiker-Ersatzolymp, dem sozusagen Paralymp aufzusteigen: Karl Valentin etwa oder Heinz Ehrhardt und Loriot, während sich an Harald Schmidt bereits die Geister scheiden. Ideal für den Deutschen wäre wahrscheinlich ein verbeamteter Humorist, der bestenfalls unfreiwillig komisch in Erscheinung tritt, was dann auch erklärte, weshalb der Schweizer Emil Steinberger in Deutschland so beliebt war.
Trotz freizeitlicher FKK-Nacktneigung an Stränden und in Saunen ist man im deutschen Dienstmodus offiziell zudem verklemmt und stets bemüht, politisch und ethisch korrekt zu bleiben, sobald es um sexuelle Themen und Randgruppen geht, ganz anders jedenfalls als die Franzosen bei dem einen und die Briten bei dem anderen Thema.
Für einige Völker und Psychiater scheinen die Deutschen mit ihrem Humor deshalb noch in der analen Phase festzustecken, pfui, aber kein Wunder: Wer derart starr, steif und unermüdlich sich abmüht, vor Chef und Staat kuscht, beharrlich verhalten nörgelt, fette Wurst, fetten Käse und gestaute Wut in sich hineinfrisst, Mengen an Milch, Bier und glibberigen Smoothies hinterherkippt, dem ist der Darm trotz deutschen Reinheitsgebots zwangsläufig verstimmt, der spricht und hört nichts gern im Ernst darüber, sodass sich Druck aufbaut, sich etwas staut, verkrampft, zusammenbraut – das muss dann der Humor ausbaden, nicht selten jauchig derb und pubertär geschmacklos.
Nichts wird dem deutschen Humoristen zum größeren Erlebnis als die Vorgänge der Verdauung. – Karl Kraus
Obwohl auch in Deutschland Witze über Minderheiten wie Migranten, Behinderte, Juden, Muslime, Islamisten, Transen, Schwule und Lesben kursieren, erklärt sich die ängstliche Zurückhaltung in der Öffentlichkeit vermutlich aus der speziellen Geschichte des Landes. In einer Art Humoruntergrund gibt es in Deutschland sehr wohl diverse Aktivisten. Doch sobald die versuchen, im Lichte des öffentlichen Alltags mit heiklen Themen witzig zu sein, kann es passieren, dass man sie schnell eines Besseren belehrt, ihre Scherze unerbittlich abprallen an der Mauer der typisch deutschen Ernsthaftigkeit und historischen Schuld.
Als die Dschungelqueen 2014 in einer Late-Night-Show über ihr Buch erzählte, dass sie es ursprünglich „Mein Kampf“ nennen wollte, beim Googeln aber gesehen habe, dass der Titel schon vergeben sei, brach in deutschen Nachrichtenmagazinen die Entrüstung los: Von Eklat und geschmacklosem Witz war da die Rede – das sagt doch etwas über unseren Humor.
Viele Leute tragen in Deutschland offenbar nur deswegen eine Krawatte, damit sie sich vom Humor ihrer Mitmenschen auf den Schlips getreten fühlen.
Deutschland ist eine durchökonomisierte Nation, lässt seinen Humor lieber von bekannten Comedians und Kabarettisten erledigen. Die machen das professionell, zuweilen mithilfe hoch produktiver Gagschreiber. Der Deutsche ist nun mal Perfektionist und will nichts riskieren, nichts dem Zufall überlassen. Die Berufskomiker kriegen gutes Geld dafür und dürfen sich im Interesse sanft kontrollierter Vielfalt inzwischen einiges trauen, mehr Tabus kalkuliert über den Haufen rennen, als deren Publikum es offiziell jemals könnte: über Krieg, Nazis und Hitler etwa oder religiösen Fanatismus, Terror, Selbstmordanschläge, Korruption, Steuerhinterziehung, Geldwäsche, Migration, Kopftücher, Behinderung, Demenz und Depression. Da denkt doch der Durchschnittshumorverbraucher, das sei von staatlicher Ethikstelle abgesegnet und meckert deshalb nicht, lacht aber auch nicht.
In Deutschland ist Humor leider nie ein Qualitätskriterium für Intelligenz, Weisheit, Talent, Leistung, Literatur, Kunst oder Kulturerbe gewesen. Wenn etwas richtig lustig gelungen ist, schweigt das Feuilleton entweder oder tauchen irgendwelche Restposten an Kritikerköpfen nur deswegen mal auf, um Anstoß zu nehmen an dem verkrampft bemühten, konstruierten Witz, welcher in der ohnehin niveaulosen Gemengelage nicht sinnvoll verortet werden kann. Wobei unter Sinn und Niveau in Deutschland vorrangig düstere Themen wie Tod, Verbrechen, Gewalt, Rache, Sterben, Religion, Krieg, Drittes Reich, Vertreibung, historische Schuld und Wiedergutmachung verstanden werden – aber auch Anspielungen auf und Versatzstücke aus klassischen Werken und echter Kunst, die ihrerseits wiederum mit Tod, Verbrechen, Gewalt und Rache und Krieg und so weiter zu tun haben.
Falls Humor trotzdem sein muss, bitte streng nach DIN-Norm: Gewünscht sind weder billige Kalauer noch schlichte Witze noch allzu vernichtender Spott gegen konkrete Personen der medialen Öffentlichkeit. Mit Ausnahme freilich dieser offiziellen Zielscheiben einschlägiger Satire- und Kabarettformate sowie jener armen Seelen, die sich bereits selbst demontiert und zum vorverurteilten Opfer durchweg aller Medienschelte gemacht haben. Absolut vogelfrei, so scheint es, sind diese Übeltäter dann, dürfen ungehemmt von allen Seiten gewatscht und getreten werden, von eigens dazu einberufenen Fernseh-Talkshows, von Staatsanwälten in der Öffentlichkeit oder altgedienten, gut steuersparenden Frauenrechtlerinnen in der markig bebilderten Tagespresse.
Auch ist die Comedy in diesem Land nie ganz angekommen, da sie, ursprünglich als nicht kompatibel zur deutschen Bildungsbürgermentalität, wohl noch als britisch-amerikanische Unterminierung unserer einstigen Dichter- und Denkerkultur, als prollig-pubertäre Ausgeburt des privaten Flach-, Hohl- und Schmuddel-TV verstanden wird nach dem Motto: Keiner hat’s nie gesehen, aber jeder kennt es. Gleichwohl sind in Deutschland einige erfrischend witzige Formate zu finden wie „Klimbim“, „Ein Herz und eine Seele“, „Sketchup“, „Kir Royal“ oder „Berlin, Berlin“, die nur leider mittlerweile als ziemlich angestaubt gelten müssen. Ähnlich verhält es sich mit den Comedy-Kult-Klassikern „RTL Samstag Nacht“, „RTL Freitag Nacht News“, „Die Wochenshow“ und „7 Tage, 7 Köpfe“.
In die Jahre langsam kommt auch „Stromberg“, eines der seltenen wirklichen Highlights intelligenter Fernseh-Humorkunst, wenngleich es sich um die Adaption einer britischen Serie handelt. Demgegenüber sind die meisten neueren Comedy-Formate noch immer auf eine eher junge Zielgruppe zugeschnitten, zumindest auf das, was Medienmacher sich anbiedernd dafür halten. Eine köstliche Ausnahme bildet etwa die Street-Comedy-Serie „Oldass Bastards“, in der ein kleiner Trupp durchschnittlicher Senioren mit versteckter Kamera ahnungslose, meist deutlich jüngere Fußgänger durch schräge Aktionen verunsichert, verblüfft, verklapst und parodiert.
Wer keinen Spaß versteht, sollte wenigstens diesen in Humor verwandeln.
Ansonsten aber leugnet der Durchschnittsdeutsche standhaft die eigene Humorlosigkeit, ist empört, sobald man ihn daraufhin anspricht. Wahrscheinlich hat er dabei diese ewig ironischen Hipster oder jene jungen Leute vor Augen, die am Wochenende mit der Bierflasche in der Hand fröhlich durch die Straßen ziehen, in Parks lustig kiffen oder schick kichernd ihre Cocktails in besandeten Strandbars entlang großstädtischer Flüsse schlürfen.
Währenddessen lassen zahlreiche andere, hochkorrekte Bürger Humor zur doppelten Tabuzone verkommen: Einmal in Gestalt der Humorlosigkeit selbst und einmal dadurch, dass man bei dem Thema keinen Spaß versteht – Humorlosigkeit in Sachen Humorlosigkeit, schlimmer geht’s immer. Und so trifft man als krönende Dreifachmisere sogar auf Landsleute, die nicht nur keinen Humor ihr Eigen nennen und das nicht zugeben, sondern ihre Mitmenschen für deren Humor belehren und beschimpfen müssen. Über dieses Thema reiße man keine Witze, über jene Leute dürfe man sich nicht lustig machen, dieses Problem habe man am eigenen Leib zu spüren bekommen und so weiter und so tragisch und so blöd.
Als anständiger Deutscher genügt es nicht, keinen Humor zu haben: Man muss auch anderen den Spaß verderben.
Wer das nicht kennt, sollte mal satirische Sprüche oder zynisch-witzige Kommentare veröffentlichen und wird früher oder später mit verständnislosen, gar feindseligen bis beleidigenden Reaktionen darauf bedacht. Ausdruck dessen sind zum Beispiel jene Direktnachrichten, die bisweilen auf meinem Twitter-Account eingehen, sowie die tägliche Statistik mit Zahlen zu neuen Followern und „Entfolgungen“: Solange ich keine neuen Satire-Tweets poste, folgen mir kontinuierlich diverse neue Leute pro Tag, während ein zu vernachlässigender Bruchteil dessen mir die Gefolgschaft kündigt. Schreibe ich hingegen meine üblichen schrägen bis satirisch-bösen Kommentare zu brandaktuellen Themen und Pressemeldungen, hagelt es „Entfolgungen“, liegt deren Zahl zwischen 50 und über 100 Prozent der jeweils neuen Follower.
Die dafür genauen Ursachen sind nicht eindeutig zu klären: Ob hier mehr die generelle Humorlosigkeit, eine Abneigung gegen zynischen, schwarzen und satirischen Humor oder eine Überempfindlichkeit gegenüber bestimmten Themen und Personen, die den Leuten besonders am Herzen liegen, dahinterstecken. Wobei Letzteres zwar überwiegen, jedoch nicht weniger bedenkenswert sein dürfte: Wer mir folgt, hat immerhin ein Interesse an Humor, Witz und Satire. Nur fällt auf, dass die Zahl der „Entfolgungen“ regelmäßig dann nach oben schnellt, wenn sich meine Tweets gegen gewisse Politiker, Parteien, Promis und Fußballvereine richten. Der Zusammenhang ist bestechend: Ein Witzchen darüber, wo die vielen Piraten geblieben sind, ob nach Somalia zurück und deren Wähler mit – bums, auf einen Schlag 40 Follower weniger. Eine behutsame Satire über Veganer, Frauenquote und Jungfeministinnen – peng, gleich 50 Mal „entfolgt“.
Nicht ganz so schlimm, aber ähnlich geht es zu bei Scherzen etwa über die Themen Facebook, Computerspiele, Kult-Smartphones, bestimmte Automarken und Motorräder, über beliebte Casting-Formate, mächtig angesagte Rapper, Super-, Model-, Pop- und Schlagerstars, weniger beliebte Religionen, einen vorbestraften Fußballfunktionär, ein geteiltes Europa oder die Zankäpfel Euro, Schulden, Regierung, Linke, USA, Putin, Papst, Job, Chef, Streiks, Cannabis oder Trash-TV.
Die Deutschen sind zwar immer weniger religiös im traditionellen Sinne, aber ihre heiligen Kühe haben sie. Während Toleranz und Leidensfähigkeit bei ihnen ansonsten mittelmäßig bis höher ausgeprägt sein mögen – in puncto Humor stoßen sie bei vielen auf ihre Grenzen; da wird schnell die Kampfzone ausgeweitet, ein Blitzkrieg angezettelt.
Gerade in sozialen Netzwerken lassen sich Leidenschaften und Eitelkeiten, Aversionen und Affekte spielend einfach praktizieren: Hier kann jeder mitreden, förmlich mitschreien, aufschreien, gern anonym, kann Halbwissen und wirre Gedanken verbreiten, ungehemmt seinen Fankult und Fanatismus, seine Voreingenommenheit, Gläubigkeit und Parteilichkeit ausleben, andere bekehren, belehren, beschimpfen, bedrohen oder heillos verherrlichen.
Nirgendwo sonst lässt sich so schnell ein Geltungsgefühl vortäuschen wie in der digitalen Welt, die uns auf den Klick gehorcht. Und selbst der Humor, eine der beliebtesten menschlichen Äußerungsformen, ein universelles Gemeinschaftsgefühl, eine leuchtend-höhere Kunst, die alles nur halbernst meint, nur spielen, entspannen, am Ende versöhnen will, muss dieser dumpfen Kleinkariertheit seine Opfer darbringen.
Humor geht in Deutschland ab wie eine Rakete: Je mehr witzige Schubkraft, desto heftiger der Rückstoß des Entsetzens.
Vom unterdrückten Verhältnis vieler Deutscher zu ihrem Humor zeugen ferner auch Leserzuschriften an Zeitungen, Zeitschriften und Online-Magazine. Schließlich habe man ernsthafte Grundsätze, höhere Werte und aufrichtige Absichten. Dazu eines der wohl besten Lehrstücke in Sachen Humor-Demenz vieler Deutscher waren die Kommentare von Spiegel-Online-Lesern auf den Artikel über einen angeblichen geheimen Zusatzvertrag zur Großen Koalition im Jahr 2013: In sieben Paragraphen hat der dortige Autor eine brillante Satire geboten, die einem als solche bereits beim Lesen des ersten Paragraphen überdeutlich ins Auge springen musste. In diesem ersten Abschnitt geht es etwa um die Besetzung der Ministerien über ein Punktesystem zunächst nach Geschlechterparität, Dauer der Parteizugehörigkeit oder Anzahl der Talkshow-Auftritte. Bei Punktgleichheit entscheide das Los, und erst bei Losgleichheit entscheide die Kompetenz der Ministerkandidaten – fast wie im richtigen Leben, aber nur fast, und genau da liegt der Humor.
Der Artikel erschien frühmorgens, bis zum Mittag des folgenden Tages sind dazu 176 Kommentare eingegangen. Unter den anfänglichen 50 Kommentaren, die sich auf die ersten zweieinhalb Stunden verteilen, befinden sich sage und schreibe 16 Wortmeldungen, die einen solchen Spaß grundsätzlich ablehnen oder stattdessen anmahnen, das Thema Große Koalition ernster zu nehmen. Satte 32 Prozent sind das. Sechs weitere Kommentare meinten, es könne sich dabei nicht um Satire handeln, da es nicht lustig, sondern traurige Wahrheit oder kompletter Blödsinn sei. Den Vogel abgeschossen haben jedoch 15 weitere Kommentatoren, die den Artikel erst gar nicht als Satire erkannt haben oder wenigstens hofften, das Ganze sei ein schlechter Witz oder verfrühter April-Scherz.
Macht summa summarum 78 Prozent an kommentierenden Lesern, die mit dem Humor nichts anfangen konnten, obwohl nach gängigem Verständnis einer der sieben fiktiven Paragraphen für jeden offenkundig satirischer als der andere zu lesen war.
Nachdem Stunden vergangen waren und etliche Leser darauf hingewiesen hatten, dass es sich hier um einen Ulk handle, der in der zweiten Überschriftenzeile von Beginn an ausdrücklich als Satire gekennzeichnet, obendrein in der Rubrik Kultur und nicht Politik erschienen war, gab es dennoch diverse weitere unglaubliche Wortmeldungen der genannten drei Kategorien: Von Kommentar 51 bis 176 haben immerhin elf Leser, darunter einige der letzten sogar, die Satire weiterhin nicht oder nicht eindeutig erkannt, zehn Leser dem Artikel den Humor gänzlich abgesprochen und vier sich wild schimpfend verbeten, über ein solch ernstes Thema überhaupt seine Späße zu machen.
Was sagt uns das? Zeigt es den Zustand des deutschen Humors, oder bestätigt es die Ergebnisse der Pisa-Studie aus Oktober desselben Jahres, wonach deutsche Erwachsene im internationalen Vergleich nur mittelmäßig lesen und Texte verstehen? Vermutlich beides. Wobei man davon ausgehen sollte, dass der durchschnittliche Spiegel-Online-Leser, der überdies selbst Kommentare schreibt, mit seiner Bildung schon etwas über dem Bevölkerungsdurchschnitt liegen sollte. Die Defizite also doch mehr beim Humor?
Nicht ganz: Immerhin wird eine Spielart des Humors in deutschen Landen noch alljährlich verrichtet, wenn auch zwanghaft und von Randgruppen: der Karneval. Leider gehen viele der oft köstlichen Politsatiren mancher Büttenreden spurlos unter in dem Gedröhn, Kitsch und Pomp, den Trachten und Dialekten, der ewig gestrigen Marschmusik und den billig-schlüpfrigen Schlagern zum gestiefelten Winke-Ballett der militäruniformierten Tanzgarden.
Für wesentlich mehr Humor sei kaum Platz in der engen Lücke zwischen all den Gartenzwergen und stocksteifen Beamtentypen – dieses Bild zumindest haben Nichtdeutsche mit flüchtigem Blick oder tendenziösen, pseudojournalistischen Absichten. Im Ernstfall kann der Deutsche nämlich auch anders, sogar außerhalb der närrischen Zeit: Dazu braucht die gepeinigte Germanen-Seele lediglich eine gesellige Runde, ein solides Gute-Laune-Level sowie einen zünftigen, immer wiederkehrenden Anlass, auf den er sich sorgfältig vorbereiten kann, wie etwa auf das Münchner Oktoberfest oder örtliche Schützenfest. Auch die allsommerlichen Grillabende auf der Terrasse des Reihenendhauses bieten hierfür die passende Kulisse. Rasch einige Gläschen genehmigt, manchmal ganze Maßkrüge, und in Stimmung gebracht, kann der Deutsche genauso kalauern und blödeln, kann lustig, zotig und politisch unkorrekt sein wie all diejenigen, die ihn gern als Humormuffel hinstellen.
Und welches Jux-Potenzial in diesem Volke noch so schlummert, zeigt die eben erst im Zusammenhang mit Humorlosigkeit erwähnte Online-Welt – stehenbleiben darf das so nicht, da es wohl eine Minderheit betrifft, wenn auch eine beachtliche und bemerkenswert aktive. Als Hort und Quelle des Humors kann das Internet nicht genug gewürdigt werden, soweit man bedenkt, was sich hier tut und wie viele Menschen es erreicht: