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Freunde

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»Ich kann die Freunde meiner Kindheit nicht zählen, doch viele Gesichter blicken mich noch an. Ich weiß nicht mehr richtig, wer sie sind, doch sie haben ihre tiefen Spuren in mir hinterlassen, sie in mir und ich in ihnen. Wen werde ich wiedererkennen in diesem Spiegelbild?«

Jacques Lusseyran

Jean-Jacques Sempé, der immer leicht melancholische, großartige französische Cartoonist – in Deutschland vor allem durch seinen kleinen, stets von einer Freundesbande umzingelten Nick bekannt –, bekennt in einem Gespräch, dass er als Kind nie wirklich Freunde gehabt habe. Aber er war schon damals nicht auf den Kopf gefallen und äußerst kreativ: »Wir wohnten nicht sehr weit vom Stadtpark, in Bordeaux hieß er Jardin public. Mein Bruder und ich gingen sehr häufig dorthin. Und es durfte niemand wissen, dass ich keine Freunde hatte, das war bei mir so eine fixe Idee. Die Frauen, die dort mit ihrem Strickzeug saßen und auf ihren Nachwuchs aufpassten und mich vorüberrennen sahen, durften bloß nicht denken, ich sei ganz allein mit meinem Halbbruder da. Im Gegenteil, sie sollten glauben, wir hätten eine ganze Horde von Freunden, und so habe ich, sobald ein paar Erwachsene in der Nähe waren – mein Halbbruder muss mich für verrückt gehalten haben –, plötzlich ›Sie kommen, sie kommen!‹ geschrien und bin losgerannt und hab meinen Halbbruder hinter mir hergezogen. ›Sie kommen!‹, das sollte signalisieren, dass andere Kinder uns verfolgten, obgleich wir ganz allein waren. Mir hat das sehr gefallen, weil ich dachte: Jetzt glauben all diese Erwachsenen, dass ich ganz viele Freunde habe.«103 Diese Geschichte ist nicht nur witzig, sondern sie zeigt auch, wie trügerisch unsere Wahrnehmung von dem ist, was wir gemeinhin Freunde nennen – dies gilt anscheinend für Kinder ebenso wie für Erwachsene. Und diese Geschichte erzählt auch viel über den Menschen Jean-Jacques Sempé.

Anfänglich sind es zumeist eher Zufälle, welche Jungen und Mädchen zusammenbringen: die Nachbarschaft, der gemeinsame Schulweg, der Pausenhof. Man kann einander gut leiden und schon tituliert man den anderen als Freund oder Freundin. Und ebenso leicht und schnell wie diese Freundschaften geschlossen werden, werden sie auch, zumindest verbal, wieder aufgekündigt. So durchzieht etwa der Satz: »Du bist meine Freundin gewesen« die allermeisten Kleinmädchengespräche als latente Drohung, und von einem Moment auf den anderen wendet er sich in sein Gegenteil: »Du bist meine allerliebste Freundin!« Dauerhafte freundschaftliche Bindungen, die auf Sympathie, auf gleicher Interessenlage und Schwingung beruhen, gehen Kinder in der Regel erst im Pubertätsalter ein, wenn sie frei wählen und ihre Bindungswünsche auch real umsetzen können.

Im Kindesalter ist die Definition dessen, was beziehungsweise wer ein Freund ist, noch eher fluid. Interessanterweise entdeckt man manchmal erst als Erwachsener, wer von all den vielen Spielgefährten und Wegbegleitern der Kinderjahre ein wirklicher Freund, eine wirkliche Freundin gewesen ist – und dies meist mit der verklärenden Wehmut der Erinnerung.

Widerspruch: Natürlich gibt es auch Menschen, die sich schon vom Grundschul- und manchmal sogar Kindergartenalter an lebenslang die Freundschaft hielten. Und natürlich gibt es die wunderbaren Geschichten, wo sich bereits Zwölfjährige auf dem Schulweg heimlich die ewige Freundschaft versprachen und später einander heirateten. Aber das ist schon wieder ein anderes Kapitel, nämlich Liebe.

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