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Geburt

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»Natur und Mensch.

Mutter und Kind.

Zwischen ihnen das große Rätsel.

Das Mysterium des Lebens.«

Frédérick Leboyer

Gerade in dem Moment, da Sie diese Zeilen lesen, wird ein Kind geboren. Vielleicht in einem Zimmer ein paar Straßen entfernt, vielleicht in dem Kreißsaal eines naheliegenden Krankenhauses, ganz sicher aber an unzähligen Orten überall in der Welt: in Zelten von Flüchtlingslagern, auf dem Erdboden, in Wäldern, auf Bergen. Überall wiederholt sich das Mysterium des Lebens, wie es der französische Frauenarzt und Philosoph Frédérick Leboyer bezeichnet.

Wie sich diesem Mysterium nähern? Vonseiten der Mutter, die gebiert und deshalb von ihrer Geburt spricht (»meine Geburten«)? Oder aus der Perspektive des Kindes, das zur Welt kommt (des Kindes »in seiner Geburt«)?109 Die sprachliche Zweideutigkeit verweist auf das eine symbiotische Geschehen, das zugleich ein doppeltes ist, in dem jeder, nämlich Mutter und Kind, gleichermaßen seinen Part spielen muss.

Und in welchen Kategorien nähert man sich? In Begriffen wie Glück? Die Natur kennt nicht Begriffe wie Glück und Unglück, sie kennt nur Notwendigkeit. Erst die Gebärende selbst definiert, ob die Geburt für sie Glück ist. Und dieses Glück stellt sich auch selten während der Geburt ein, sondern erst danach, wenn die Mutter ihr Kind auf dem Bauch liegen hat, wenn sie sieht, dass ihm nichts fehlt110, wenn sie seine Stimme hört und seinen Geruch wahrnimmt.

Und das Kind: Weiß es um sein Glück, geboren zu sein? Wenn es in der Lage wäre, seine ersten Empfindungen mitzuteilen, klagte es womöglich eher über sein Unglück, über den Verlust von Wärme und Getragensein und über Abgeschnittensein von den mütterlichen Rhythmen. Von Wehen bedrängt und gepresst, erlebt es den Durchgang durch den Geburtskanal als erste dramatische Bedrohung und Beengung.111 Der Psychoanalytiker Otto Rank spricht in diesem Zusammenhang vom Trauma der Geburt, das alle Neugeborenen körperlich durchleben und das im späteren Leben des Menschen seine seelischen Spuren hinterlässt.112 Nicht zufällig kreisen viele Träume von Kindern und Erwachsenen und ebenso viele Märchen und Mythen um die Sehnsucht des Menschen, die Geburt rückgängig zu machen, hin zu jenem zeitlosen paradiesischen Zustand im mütterlichen Leib, wo Milch und Honig fließen.113

Faszinierend ist, wie unterschiedlich Frauen die Geburt ihrer Kinder erleben. Falls sie nicht durch Ganz- oder Teilnarkose betäubt und damit erlebnismäßig weitgehend abgeschnitten sind, bewältigt jede Frau die Geburt auf individuelle Weise. Das reicht von einer ungeduldig aggressiv-fordernden Haltung bis hin zum passiv Geschehenlassen. Schon die Entscheidung über den Ort der Geburt (Klinik oder zu Hause) sowie deren möglichen Ablauf (künstliche Einleitung der Wehen zu einem fixierten Zeitpunkt, Wahl einer bestimmten Anästhesie) sagt viel über die Frau und über die bevorstehende Geburt aus. Aber noch so viel Planung verhindert bisweilen nicht, dass die Geburt am Ende ganz anders verläuft, so, als setze sich das Neugeborene mit seinem Eigenwillen hier bereits durch. Tatsächlich berichtet eine große Anzahl von Müttern, dass ihre Kinder schon im Moment der Geburt durch die Art, wie sie ins Leben gekommen sind, ihr Wesen radikal offenbaren.

Von daher ist es für die Gebärende ein Glück, wenn sie die Chance hat, die Geburt ihres Kindes möglichst wach zu durchleben. Natürlich gibt es Fälle von Komplikationen, die etwa einen Kaiserschnitt notwendig machen, um das Leben des Ungeborenen und der Mutter zu schützen. Doch nicht wenige Frauen entscheiden sich auch ohne zwingende medizinische Indikation zur Narkose und/oder zum Kaiserschnitt, gleichsam als Vorbeugung oder weil man ihnen dazu geraten hat. Sie versuchen damit unbewusst, der Anstrengung der Geburt und der Konfrontation mit den Schmerzen auszuweichen. Dabei liegt gerade im Geburtsschmerz eine tief prägende Erfahrung, die Mutter und Kind verbindet. Der geteilte Schmerz – hier die Mutter, die presst, dort das Kind, das gepresst wird – und die gemeinsame Erlösung hernach ist für viele Frauen eine schwer in Sprache zu fassende Grenzerfahrung.114

Aber sie wollen darüber sprechen. Mütter haben meist ein intensives Bedürfnis, detailliert über die Geburten der eigenen Kinder zu erzählen. Vielleicht um sich und ihrer Umgebung stets neu zu vergewissern, wie sie und ihr Kind Todesnähe erlebt und überwunden haben.115 Ganz ähnlich wie manche Männer ausschweifend und mit viel Pathos lebensbedrohliche Kriegssituationen schildern, aus denen sie jedoch lebend entkamen.116 Wie oft hat mir meine Mutter berichtet, dass sie in der Nacht meiner Geburt nicht klar wusste, ob sie durch die Sirenen des Fliegeralarms oder durch ihre Wehen aufgeweckt worden war. Wie oft hat sie noch Jahrzehnte danach über ihre Einsamkeit bei meiner Geburt gesprochen. Und ich stehe meiner Mutter in nichts nach, wenn ich immer wieder die Bilder meiner Geburten nachzeichne. Das Reden über Geburt hat eine heilsame, erlösende Funktion. Es hilft zwar nicht vollkommen, das Mysterium der Geburt zu verstehen, aber das Geschehen durch Worte magisch zu beleben tut der Seele gut. Kinder lieben die Geschichten ihrer eigenen Geburt mehr als alle anderen, weil sie eine unersättliche Neugier nach ihrem Geburts-Tag haben, dem Tag, an dem wirklich alles für sie begann.

Das Alphabet der Kindheit

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