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Garten

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»Der große Garten bildete ein doch sehr fremdes Gebiet. Man hätte meinen können, dass er hauptsächlich dazu diente, die kleinen Katzen einzugraben, die in Überzahl geworfen wurden. Weit hinten ein dunklerer Gang und zwei hohle Buchskugeln: dort fanden einige Episoden aus der Kindersexualität statt.«

Roland Barthes

Hätte ich wie im Märchen Wünsche frei, so wünschte ich jedem Kind auf Erden einen Garten – seinen Garten. Ich wünschte ihm den Garten ganz real als ein Stückchen umrandete Erde. Nicht Abriegelung, wohl aber Schutz und Hülle. Und ich wünschte ihm diesen Garten auch gleichzeitig symbolisch, als inneres Bild eines Ortes, an dem das Kind ganz bei sich ist und es Urerfahrungen machen kann: Erde anfassen – riechen – sich besudeln – Löcher graben – sich verstecken – sich unsichtbar machen.106

Was die Fibel für das Erlernen der Schrift, das ist der Garten als Initiation in die Natur. Der Garten birgt en miniature alles, was die Natur im Großen und in unendlichen Variationen bereitstellt: Nirgendwo sonst kann das Kind über eine relative Dauer hinweg mit Tieren in Kontakt sein. Es kann Igel beobachten, Schnecken sammeln, Vögel ihre Nester bauen und Ameisen ihre Bahnen ziehen sehen. Nirgendwo sonst durchlebt es die Jahreszeiten derart hautnah und intensiv wie im Garten. Es wartet auf die ersten Schneeglöckchen, auf die Stachelbeeren im Sommer und die Birnen im Herbst. Im winterlichen Garten bekommt es eine erste Ahnung von dem Geschehen auch unter der Erde, dass nämlich Wachsen (pflanzliches ebenso wie menschliches) durchaus nicht immer für die Augen sichtbar ist. Zudem lernt es nebenbei, dass die Realität des Supermarktes, in dem man das ganze Jahr über jederzeit nach Orangen und Trauben greifen kann, eine trügerische ist. Alles Wachsen und Reifen hat seine Zeit. Ein schwerer, mitunter verwirrender Lernprozess zumal für Großstadtkinder.

Apropos Großstadt: Eine der erfreulichsten Innovationen der vergangenen Jahre sind sicher die kollektiven und interkulturellen Gärten, wie man sie derzeit in vielen Städten entdecken kann. Ausgehend von der Idee der New Yorker Community-Gardens107 teilen sich hier Familien, zumeist mit ihren Kindern, Gartenflächen zum gemeinsamen Pflanzen und Experimentieren, zum Ernten und Miteinander-Teilen. Ja, vielleicht wäre dies überhaupt die eigentlich wünschenswerte Form zukünftiger Gärten – grenzenlos geteilte Gartenarbeit und Gartenlust für alle und jedermann.

Übrigens war es der Pädagoge Friedrich Fröbel, der dieses gemeinschaftsstiftende Moment der Gärten schon deutlich erkannt und benannt hat.108 Von ihm stammt der Begriff des Kindergartens. Diese Wortschöpfung ist so einzigartig, dass sie in zahlreiche fremde Sprachen übernommen wurde und man heute auch in Australien, Japan und anderswo vom Kindergarten spricht. Fröbel hat die menschenbildenden und heilsamen Kräfte des Gartens auf seine Weise verstanden: Das Kind braucht den Garten für seine Individualisierung und gleichzeitig für sein Sozialwerden. Immer wieder vergleicht er – ähnlich wie Jean-Jacques Rousseau – das Kind mit einer Pflanze, das achtsam umhegt, geschützt und bewässert werden, aber stets nach eigenem Gesetz wachsen muss, in welches der Erzieher (der Kindergärtner) niemals willkürlich eingreifen darf.

Schade, dass sich moderne Erzieherinnen so vehement gegen die traditionelle Bezeichnung Kindergärtnerin wehren. Ist sie zu poetisch? Zu abgehoben? Warum wollen sie lieber die Kinder erziehen, anstatt sie in ihrem Garten zu begleiten? Seien wir doch ruhig ein bisschen altmodisch und behalten – auch wenn die wirklichen Gärten der Kinder im Verschwinden begriffen sind – das Wort Kindergarten bei. Es ist einfach nur schön und verheißungsvoll, weil es dem Wachsen der Kinder (und der Pflanzen) so viel Raum und so viele Möglichkeiten gibt.

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