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Gang

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»Gehen – atmen – welches Glück.«

Peter Handke

In den Waldorfschulen wird der Schulbeginn eines Kindes mit einer besonderen Feier zelebriert. Die Schulgemeinde versammelt sich in der festlich geschmückten Aula. Auf der Bühne steht der Klassenlehrer der ersten Klasse und ruft jeden kleinen Schulanfänger einzeln bei seinem Namen auf. Bis zu diesem aufregenden Moment sitzt das Kind zwischen seinen stolzen Eltern, Großeltern und Paten. Wenn es nun aufgerufen wird, ergreift es seinen viel zu großen, funkelnagelneuen Ranzen und klettert die Stufen zur Bühne empor. Klettert? Nein, ich bräuchte dreißig verschiedene Worte, um die dreißig unterschiedlichen Gangarten der Kinder in diesem Moment einzufangen: stürmen, stolpern, sich überschlagen, hetzen, hüpfen, schreiten, schlurfen, kriechen, zögern, bocken, stehen bleiben, umkehren, in die falsche Richtung gehen, hinfallen, wippen – alles gibt es, nur keine Gleichförmigkeit.

In diesen wenigen Minuten kann man so gut wie alles über das Kind erfahren: beispielsweise ob es ein Draufgänger ist (es überspringt eine Stufe), ob es eitel ist (es schwenkt beim Gehen den Ranzen hoch in die Luft), ob es ängstlich ist (es bleibt unten stehen und muss ein zweites Mal gerufen werden) oder ob es noch nicht wirklich schulreif ist (es bleibt sitzen und weint). Auch – und vor allem – die Schritte selbst, die Art, wie federnd, wie hart oder weich das Kind seine Füße setzt, verraten manches über sein Wesen: Einige Kinder fliegen förmlich in die Arme des Lehrers, so als hätten sie bereits seit Ewigkeiten auf diesen Moment gewartet.

Auffallend selten ist der kindliche Gang Thema pädagogischer Überlegungen. Die Wissenschaft hat sich immer mehr für den Kopf als für die Füße des Kindes interessiert. Umso eindrucksvoller sind die Wahrnehmungen der Dichter: »Ich werde den Klang deines Schrittes kennen, der sich von allen anderen unterscheidet«, heißt es etwa bei Antoine Saint-Exupéry.104

Dabei offenbart doch der Gang tatsächlich, wie wir in der Welt stehen, zu unseren Mitmenschen und sogar zu uns selbst. Ebenso wie die Sprache unterscheidet er uns von den Tieren, und es wundert nicht, dass die sogenannten wilden Kinder, die ganz unter Tieren aufwachsen, aus eigenem Antrieb nicht die menschliche Gangart annehmen. Gehenlernen braucht wie das Erlernen von Sprache das menschliche Vorbild. Gehenlernen ist deshalb ein Zeichen der Menschwerdung, und ähnlich wie das erste vom Kind gesprochene Wort heilig ist, empfinden viele Eltern die ersten Schritte als etwas ganz Besonderes in der Entwicklung ihres Kindes, das sich nun vom liegend-kriechenden zum aufrechten Wesen verwandelt. Es dauert noch eine Weile, bis das Kind seinen ganz persönlichen Gang entwickelt, und es ist gut, ihm hierbei viel Zeit und Freiheit zu gewähren. Wir sollten einzig dafür Sorge tragen, dass es ein aufrechter werde.105

Das Alphabet der Kindheit

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