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Fliegen

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»Der Wind hat Spiele, das Kind seine Ziele, es wittert das Fliegen.«

Theodor Däubler

Die neunjährige Josephine erzählt von ihrem wiederkehrenden Traum: »Wirklich, ich konnte fliegen. Und ich konnte die Menschen verzaubern, dass sie auch fliegen konnten. Ich habe sie mit meinem Finger berührt, und schon flogen sie los.« In einem Traum wie diesem geht es ganz sicher nicht um Flugzeuge und Flugmaschinen. Es geht um das elementare Gefühl, aus eigener Kraft abheben zu können – wie ein Vogel, wie ein Schmetterling oder irgendein Zauberwesen. Und fast ebenso faszinierend ist es für das Kind, von Großen an Armen und Beinen kreisend durch die Luft gewirbelt oder geschleudert zu werden. Die Erfahrung, abzuheben und sicher wieder aufgefangen zu werden, ist überaus wichtig, und das Kind muss sie unzählige Male wiederholen, damit sie wirklich unauslöschlich im Körperinnern verankert ist.

Der Traum, fliegen zu können, ist vielleicht so alt wie die Menschheit selbst. Die Sage von Ikarus ist nur ein, allerdings besonders faszinierendes, Dokument dieser Sehnsucht.94 Der Mythos zeigt, dass der Wunsch zu fliegen viel mehr als nur ein normales Begehren unter anderen ist. Er kann übermächtig sein und sogar zur Sucht werden: Immer höher, weiter, schneller soll es gehen: »Mehr, mehr!«, ruft der kleine Häwelmann in der gleichnamigen Kindergeschichte von Theodor Storm.95 Er kann nicht genug bekommen von der Himmelsreise in seinem Kinderbettchen.

Warum diese Sehnsucht nach Fliegen? Warum dieser Ruf nach mehr? Und warum dieser Thrill? Der Traum vom Fliegen rührt womöglich an einen tief existenziellen Widerspruch, dem Antagonismus von Schwere und Schwerelosigkeit, dem wir als Menschen ausgesetzt sind. Vorgeburtlich lebten wir als schwimmendfliegende Wesen außerhalb der Schwerkraft. Unser Sensorium war reines Körperempfinden oder, wie René Spitz es formuliert, coenästhetische Wahrnehmung.96 Nicht mittels Sprache und Zeichen fühlten wir damals, sondern mittels einer bis in die Zellen gehenden und alle Sinne umfassenden Tiefensensibilität.

Nach einer Phase von nur wenigen Wochen und Monaten – und für die meisten Eltern viel zu schnell – beginnt das Sich-Aufrichten des Säuglings, der Kampf gegen die Schwerkraft. Zuerst ist es der Kopf, der sich erhebt, dann der Oberkörper; das Kind lernt sitzen, und irgendwann nach dem ersten Lebensjahr beginnt der aufrechte Gang. Das viele Fallen beim Laufenlernen weist das Kleinkind ein in die Regeln der Schwerkraft. Es gibt kein Zurück.

Außer beim Fliegen! Ähnlich wie beim Schwimmen im Wasser werden die Gesetze der Schwerkraft auf den Kopf gestellt. Plötzlich ist alles leicht, man hebt ab, die Luft, die Wolken, der Wind oder die Gänse tragen. Und sie tragen sicher – jedenfalls in den (meisten) Kinderträumen.97

Sobald das Kind dagegen in die Erziehungsinstitutionen eintritt, ist für solche Kinderträume nicht mehr viel Platz. Die individuellen Vibrationen der Kinder stören den Ablauf in Kita und Schule, wo es um Arrangements in der Gruppe geht, um Gleichklang, Ordnung und Disziplin. Hier soll das Kind Realität und deren Spielregeln lernen: »Auf der Erde steh ich gern«, singen die Kinder gemeinsam vor dem Unterricht. Es würde die Schulordnung verwirren und ad absurdum führen, sängen die Kinder stattdessen: »I believe I can fly.«

Irgendwann lassen die meisten Kinder ihre Fliege-Fantasien hinter sich. Sie vergessen oder verdrängen sie. Aber das Verdrängte lässt sich doch nie vollends verschütten oder gar abtöten. So ist es kein Wunder, wenn später im Erwachsenenalter in Phasen besonderer seelischer Empfindsamkeit, bei Trauer oder in Hochstimmung, unter Drogen oder natürlich in Träumen die Sehnsucht nach dem vorgeburtlichen Schwebezustand immer wieder durchbricht.

Manche Erwachsene sind sich ihrer Sehnsucht nach Fliegen bewusst und werden ganz real Pilot oder Flugbegleiter. Andere wiederum brauchen gar nicht die Realität eines fliegenden Berufs. Als Musiker, Dichter, Maler oder Tänzer dürfen auch sie schweben, allerdings im übertragenen Sinne. Und zum Glück gibt es die Schriftsteller, die den Kinderträumen und -sehnsüchten sehr nahe sind: Astrid Lindgren (mit Hans vom Dach und Mio, mein Mio), Selma Lagerlöf (mit Nils Holgerssons wundersamer Reise), Joanne K. Rowling (mit Harry Potter), Gerdt von Bassewitz (mit Peterchens Mondfahrt) und Michael Ende (mit seiner Unendlichen Geschichte). Sie alle haben ein tiefes Wissen, dass »die Kunst des Fliegens real und jederzeit für jeden erlernbar ist, dem der Sinn danach steht«.98

Das Alphabet der Kindheit

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