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Disziplin

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»Halt dich gerade!«

Film Club der toten Dichter

Disziplin ist ein heißes Thema. Nicht nur in unserem Lande, überall in der Welt. Als vor einigen Jahren ein verbissenes Plädoyer für eine Art Disziplindiktatur zum amerikanischen Bestseller avancierte, spaltete dies nicht nur die amerikanische Nation, sondern erregte auch die deutschen Gemüter.60 Brauchen wir nicht doch ein bisschen mehr – oder sogar gewaltig mehr – Disziplin in unseren Kitas und Schulen, damit unsere Kinder ihren Weg ins Leben besser schaffen? Und als Hintergedanken: damit den Eltern und Lehrern das Leben etwas leichter gemacht wird?

Vorweg: Dass wir ein Mindestmaß an Disziplin benötigen, um in sozialen Gruppen zu leben und selbst sozial sein zu können, versteht sich. Wir müssen regelmäßig die Mülleimer rausstellen, wir müssen Formulare ausfüllen, morgens aufstehen und zur Arbeit gehen – all das ordnet und strukturiert unsere Gemeinschaft. Was aber die Kinder anbelangt und die frühen Erziehungsprozeduren, sie zu disziplinieren, so sollten wir doch achtsam sein. Was auf den ersten Blick als Wohltat für das Kind erscheint (»Es ist doch zu deinem Besten!«), kann sich unter der Hand leicht in das Gegenteil wenden, dem Kind schaden. Betrachten wir folgende drei Kinderszenen:

Szene 1 – ein Film:

»Halt dich gerade!« Mit diesen Worten beginnt der amerikanische Kultfilm Club der toten Dichter. Es sind dies die Worte der Mutter, die ihren Sohn Todd in einem Internat abliefert, das schon Todds älterer Bruder erfolgreich absolviert hatte. »Halt dich gerade!« Zunächst gehorcht Todd. Aber irgendwann später nimmt er sich das Leben, zerbrochen an der Strenge der Schule, zerbrochen an zu viel Geradesein.

Szene 2 – ein Buch:

In seinem Buch Zu gut erzogen schreibt der bekannte französische Schriftsteller Jean-Denis Bredin: »Ich lernte, dass jede spontane Bewegung suspekt war, dass jeder Schrei blamabel war, dass nichts, was spontan aus mir selbst kam, gut war. Ich wurde deshalb zum eigenen Wächter über mich, über meine Tage und über meine Nächte. Ich trieb mich an, ordentlich zu essen, schön zu arbeiten und brav zu schlafen. Ich entschuldigte mich für alles, und vor allem dafür, zu existieren. Alle wollten mir weismachen, dass leben darin besteht, das wirkliche Leben zu besiegen.«61 Bredin, 1929 in Paris geboren, hat eine damals für seine Generation übliche bürgerliche Erziehung durchlebt und überlebt. Welche Klagen! Alle Lebendigkeit, jeder Hauch von Eigenwillen, Lachen, Tränen, Faulenzen wurden ihm ausgetrieben – stattdessen wurde er zu seinem eigenen Aufpasser.

Szene 3 – ein Foto:

Das Foto meines Mannes als Vierjähriger im Park von Bethnal Green im Ostende Londons. Der kleine Junge in strammer Haltung, beide Arme auf dem Rücken. Die eine Hand greift die andere mit dem klammernden Griff einer Gouvernante. Hier braucht es gar nicht den Erwachsenen. Der Junge hält sich selbst fest. Die eine Hand passt auf die andere auf. Vielleicht, um nicht um sich zu schlagen oder den Fotografen ins Gesicht zu kratzen. Ein diszipliniertes Kind.

Drei Szenen, drei verschiedene Orte, verschiedene Zeiten. Aber sie haben eines gemeinsam. Jedes Mal geht es um Disziplin. Alle drei Kinder stehen unter dem Diktat äußerer Disziplin. Allen dreien ist gemeinsam, dass sie ihr eigenes persönliches Wesen unter dem Drill von Disziplin verstecken oder sogar ersticken – im Fall des Schülers Todd sogar mit tödlichem Ausgang.

Was man gemeinhin gute Erziehung nennt, ist oft das Ergebnis langer systematischer Disziplinierung. Das mag ein großes Wort sein, heute nimmt es niemand mehr so gern in den Mund. Doch die ungezählten täglichen Kommandos (»Halt dich gerade!«; »Rede nicht so laut!«; »Hüpf nicht dauernd rum!«) – all diese Sätze in regelmäßiger Wiederholung, kriechen in die Kinder hinein und werden ihnen zur zweiten Natur. Am Ende halten sich die Kinder gerade, sie lachen und reden nicht mehr so laut und hüpfen auch nicht mehr so viel herum. Das hat seinen Preis. Viele Kinder verbiegt es.

Nicht immer ist es so krass wie bei Nora, einem Mädchen aus meiner Nachbarschaft, das ich seit Langem bei ihren Spielen beobachte. Vor ein paar Jahren, im Kindergartenalter, war sie hoch lebendig, impulsiv, vergnügt und überaus kontaktfreudig – ihre Schreie, ebenso ihr Lachen schallten manchmal in mein Haus hinein. Und dann – irgendwann im Alter von sechs oder sieben – brach etwas ein, was alles veränderte. Das Mädchen zog sich in sich zurück, wurde still, scheu und ruhig in ihren Bewegungen – der Kleinmädchenglanz war wie weggeblasen.

Meist vollzieht sich der Prozess der Disziplinierung langsam, kaum sichtbar, aber manchmal, wie in diesem Fall, geschieht er gleichsam über Nacht. Und es passierte eindeutig im ersten Schuljahr. Es musste also die Schule sein, die das laute, vergnügte und eigenwillige Verhalten des Mädchens im wahrsten Sinne des Wortes gebrochen hatte.

Man erkennt die disziplinierten Kinder leicht. Sie sind brav und gefällig. Sie stören nicht. Sie machen freiwillig ihre Schularbeiten und achten von selbst auf ihre Kleidung und Gesundheit. Sie schauen zur rechten Zeit auf die Uhr und lachen nie an der falschen Stelle. Kurz: Sie haben die Regeln, die man ihnen beibrachte, verinnerlicht – all das ist ihnen zur zweiten Natur geworden.

Aber darunter, unter dieser Fassade, lebt die erste Natur weiter. Sie ist zum Glück stark und lässt sich nicht völlig stilllegen. Die erste Natur des Kindes, sein Eigenwille, seine Bewegungslust, sein Körper und das kindliche Verlangen nach einer eigenen Stimme suchen sich gegenüber allen noch so gut gemeinten Disziplinierungsmaßnahmen immer wieder ihren Weg. Und das ist der Grund, weshalb Disziplinprobleme niemals aufhören.

Das Alphabet der Kindheit

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