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Brot

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»Meine Kinder brauchen Brot.«

Pierre Bourdieu

Beginnen wir mit einer Kindheitserinnerung: »Der Kindergarten zum Beispiel. Ich habe mir sagen lassen, dass ich jahrelang in den Kindergarten gegangen bin. Aber ich kann mich nicht mehr daran erinnern. Das Einzige, woran ich mich erinnern kann, ist die Brottasche mit dem Mittagsbrot«54, schreibt der Schriftsteller Hans-Ulrich Treichel.

Kindheitserinnerungen sind eigenwillig. Sie folgen einer eigenen, uns häufig schwer erschließbaren Logik. Auf den ersten Blick ist nicht zu erklären, warum der erwachsene Mann gar nichts mehr vom Kindergarten erinnert: keine Spielkameraden, kein Spielzeug, keinen Raum und keine Kindergärtnerin – nicht einmal den Garten des Kindergartens. Auf den zweiten Blick aber erschließt sich die Logik dieser kindlichen Amnesie. Die Brottasche war das Bindeglied nach Hause, zur Mutter, die ihm Morgen für Morgen sein Butterbrot hineingesteckt hatte. So hatte das Kind selbst im (fernen) Kindergarten ein Stück Geschmack von zu Hause. Graubrot, Schwarzbrot, Schmelzkäse oder die Leberwurst – es kam von der Mutter. Ich sehe die Brottasche vor mir, braun, ledern, abgewetzt und mit kleinen Schnallen, innen ein wenig fettig vom ewigen Gebrauch. Damals benutzte man solche Brottaschen über Jahre, sie wurden von einem Geschwister zum anderen gereicht und erst weggeworfen, wenn sie auseinanderfielen.

Der Geschmack von Brot, den das Kind in den ersten Jahren erlebt, ist unauslöschlich. Egal, ob es sich um gutes Brot handelt oder um schlechtes, alles bleibt haften. Es ist unser Brot. Reisen Kinder in ein fremdes Land, so können sie sich mit den allermeisten, selbst den sonderbarsten Dingen arrangieren, aber das Brot kriegen sie oft nicht runter. Erwachsene Reisende haben Heimweh nicht nach ihren Nachbarn oder ihrem Hund, sondern nach ihrem Brot – die Deutschen nach ihrem dunklen, die Franzosen nach ihrem hellen. Dabei ist es mehr als nur Gewohnheit. Das tägliche Brot ist uns in Fleisch und Blut übergegangen – und manchen ist es sogar heilig. Brot ist die Quintessenz aller Nahrung. Wenn wir Hunger haben, rufen wir nicht nach Wurst, Käse oder Karotten, sondern nach Brot.

Wenn ich an Brot denke, steigen lebendige Bilder vor mir auf. Auf einem Foto des französischen Fotografen Henri Cartier-Bresson läuft ein Junge mit seinem langen Baguette im Arm nach Hause zum Mittagstisch. Er trägt es wie eine Trophäe, weiß er doch, dass die Mahlzeit zu Hause nicht ohne sein Brot beginnen kann. Vielleicht knabbert er unterwegs daran. Manche Kinder beherrschen diese Kunst, kleine Löcher in die Brote zu bohren und dabei unterirdische Gänge freizuschaufeln. Am schönsten ist der Duft des noch warmen Brotes. Ich weiß, wie ich als Kind die Nase in das Sonntagsweißbrot presste – dieser Duft von frischem Weißbrot ist für mich noch heute wie Parfum.

Doch es gibt auch die anderen Brot-Bilder, die der Entbehrung. Wenn Brot so zentral ist für unser Leben, dann ist es auch immer gleichzeitig bedroht – wie das Leben selbst. Eine Radierung von Käthe Kollwitz zeigt zwei kleine Mädchen, deren Arme sich um die Mutter schlingen und die nach Brot schreien. Viel zu viele Kinder in der Welt haben kein Brot. Sie erleben Hunger als täglichen Begleiter des Alltags. Der kurdische Schriftsteller Hiner Saleem schreibt dazu in seinen Lebenserinnerungen: »Es dauerte nicht lange, und wir hatten nur noch Brotfladen zu essen, die wir mit Tee herunterspülten, und auch das nur einmal am Tag. Wenn ein Krümel auf den Boden fiel, hob ich ihn aus Achtung vor dem Brot auf, küsste ihn und hielt ihn an meine Stirn, ehe ich ihn aß. Brot ist heilig.«55

Es ist schmerzlich zu erleben, wie die Kluft zwischen denen, die Brot haben und jenen, denen es daran mangelt, unentwegt größer wird. Hier dürfen wir nicht stumm bleiben. Wir sollten unsere Kinder von Anfang an nachhaltig lehren, dass es keineswegs selbstverständlich ist, sein Brot auf dem Teller oder in der Brottasche oder im Mund zu haben. »Unser täglich Brot gib uns heute.« Brot ist das Resultat eines langen und mühsamen Arbeitsprozesses vieler daran beteiligter Menschen und vor allem viel Segen von oben.

Das Alphabet der Kindheit

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