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Eifersucht

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»Da rief sie einen Jäger und sprach: ›Bring das Kind hinaus in den Wald, ich will’s nicht mehr vor meinen Augen sehen. Du sollst es töten und mir Lunge und Leber zum Wahrzeichen mitbringen.‹«

Brüder Grimm

Die vierjährige Charlotte ist das bisher einzige Kind eines Lehrerehepaars. Aufgeregt und aufgeklärt erzählt sie in ihrer Kindergartengruppe, dass sie bald ein Brüderchen haben werde. Sie freut sich über die vielen Nachfragen der anderen Kinder (»Wann kommt er denn? Dauert es noch lange?«) und antwortet eloquent und auffallend präzise: »Nur noch vierzehn Tage, nur noch neun Tage.« Sie zählt die Tage.

Endlich ist er geboren, der Bruder Anton-Felix, ein kräftiges Baby mit lautem Organ. Die Fragen der Kinder setzen sich fort, aber Charlotte überhört sie, lenkt ab, redet über anderes, schweigt. Nachmittags zu Hause wendet sie sich ab und spielt ihre alten Spiele, so als wäre nichts geschehen, außer – dies fällt den Eltern auf – dass sie viel schweigsamer ist als vorher, vor der Geburt von Anton-Felix.

Seltsam an dieser Geschichte ist nicht das auffallende Verhalten des Mädchens, viel seltsamer ist die Tatsache, dass die Eltern, als sie davon erzählen, keinerlei Erklärung für diese Wandlung haben. Sie sind völlig blind dafür, dass sich Charlotte in Eifersucht verfangen hat. Ihre eigene Blindheit korrespondiert mit der psychologischen Blindheit ihres Kindes, das seinen neugeborenen Bruder nicht sehen und damit nicht wahrhaben will.

Dabei ist Eifersucht in uns allen. Mehr oder weniger, je nach Temperament und Leidenschaft. Und wer glaubt, er sei frei von ihr, meint dies vielleicht aus Mangel an Gelegenheit oder er kennt ihre Zeichen nicht. Es muss ja nicht die tödliche Eifersucht der Königin im Märchen Schneewittchen sein. Eifersucht verkleidet sich in so viele und bisweilen bizarre Gewänder, dass wir sie manchmal tatsächlich nicht leicht als solche erkennen.

Warum eigentlich ist Eifersucht so omnipräsent? Warum macht sie immer wieder Menschen und selbst schon Kinder krank? Wir müssen zurückgehen an die Anfänge des Lebens selbst. Das Kind ist geboren und ihm gehört das Kostbarste der Mutter: ihr Körper, ihre Milch und ihre uneingeschränkte Zuwendung und Liebe. Über Monate und Jahre hinweg darf es auf dem Mutterschoß thronen, und nicht einmal der Vater ist ihm wirklich Konkurrenz.

Welches Kind versuchte nicht, diesen paradiesischen Zustand so lange wie möglich zu erhalten? Kein Kind will freiwillig teilen, mit niemandem. Wenn die Mutter erneut schwanger ist, erfühlen Kleinkinder oftmals schon in einem sehr frühen Stadium den veränderten Zustand der Mutter und reagieren heftig mit Klammern und Klagen. Mütter können sich dieses Verhalten selten erklären, gehen sie doch davon aus, das Kind könne nichts wissen. Und wie der kleine Körper mit seinen empfindsamen Antennen wissen kann! Nur wir wissen nicht, dass er weiß. Seine Eifersuchtsantennen stehen bereits auf Alarm. Auch Charlottes aufgeregtes Reden über den Bruder, den sie bald bekommen würde, war ein Zeichen für diese Alarmbereitschaft.

Wenn dann das Geschwisterkind auf die Welt kommt, ist dies für das kleine Kind traumatisch. Immer ist seine Position erschüttert und immer reagiert es eifersüchtig. Die Eifersucht kann die unterschiedlichsten Formen annehmen. Eher selten erscheint sie in reiner Form als krasse Ablehnung und klarer Wunsch nach dem Verschwinden des neuen Babys. Das wäre zu einfach. Das eifersüchtige Kleinkind hat ein empathisches Sensorium dafür, was seine Mutter mag und nicht mag. Häufig versteckt es deshalb seine Eifersucht in übertriebener Zuwendung zum Neugeborenen und droht es in überschäumender Zärtlichkeit zu erdrücken. Andere Kinder gebärden sich wie Charlotte völlig gleichgültig, so als habe die Geburt gar nicht stattgefunden, als könne man sie kraft eigenen Willens ungeschehen machen. Und wieder andere flüchten in die verschiedensten Formen von Regression, sie fangen an zu lallen wie ein Baby oder machen wieder in die Windeln.

So schmerzhaft diese frühen Formen kindlicher Eifersucht sind, so sind sie doch nicht wirklich vermeidbar. Die Kinderanalytikerin Anna Freud hat kindliche Traumata und deren oft weitreichende Folgen im Erwachsenenalter gründlich beschrieben.62 Natürlich sind Eltern darauf bedacht, ihren Kindern diese zu ersparen. Die Geburt eines Geschwisterchens und die damit verbundene frühe Eifersucht hat aber eine andere Qualität. Sie ist, mit den Worten Anna Freuds, ein »unvermeidbares Trauma«, etwas, das zur Biografie des Kindes notwendig gehört und deshalb nicht mit Tricks oder therapeutischen Strategien umgangen werden sollte. Es gehört zur Menschwerdung des Kindes, dass es lernt, mit diesem Schmerz umzugehen. Verzichten und Teilen, vor allem der Liebe, fällt uns nicht von selbst zu. Es muss errungen werden und kostet seinen Preis. Aber die frühe Kindheit, das Austragen dieser Konflikte mit den Geschwistern, ist ein gutes Übungsfeld und ein guter Zeitpunkt dafür. Wenn nicht jetzt, wenn nicht mit Brüderchen und Schwesterchen, wann dann?

Das Alphabet der Kindheit

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