Читать книгу Das Alphabet der Kindheit - Helge-Ulrike Hyams - Страница 40

Farben

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»Farben sind Taten des Lichts. Taten und Leiden.«

Johann Wolfgang von Goethe

»Es war einmal eine kleine süße Dirne, die hatte jedermann lieb, der sie nur ansah, am allerliebsten aber ihre Großmutter, die wusste gar nicht, was sie alles dem Kinde geben sollte. Einmal schenkte sie ihm ein Käppchen von rotem Sammet, und weil ihm das so wohl stand, und es nichts anders mehr tragen wollte, hieß es nur das Rotkäppchen.«84 So beginnt das Märchen Rotkäppchen, mit dem zahlreiche Kinder groß werden. Für die meisten ist es das erste und vertrauteste Märchen überhaupt. Rotkäppchen steckt in uns allen.

Viele frühe Kindheitserinnerungen kreisen um Farben und auffallend häufig nur um eine einzige. Anders als Erwachsene, die ihre Lieblingsfarbe direkt benennen – »Ich liebe das Blau« –, verbinden Kinder ihre Lieblingsfarbe instinktiv und unauslöschbar mit einem Gegenstand: das rote Käppchen aus dem Märchen, der grüne Wackelpudding, der gelbe Teppich des Kinderzimmers. Der mit diesem Gegenstand verbundene Affekt verschmilzt mit der Farbe und überträgt sich auf sie. Mal erscheint sie in gutem oder gar strahlendem Licht (im Beispiel von Rotkäppchen wird das Rot mit weichem Samt und Liebe assoziiert), aber es kann ebenso gut in die andere Richtung gehen. Wenn ein Kleidungsstück das Kind kratzte oder beschämte, dann überträgt es diese Emotion ungebrochen auf dessen Farbe. »Ich hasse Lila«, sagt es dann später, weil Lila die Farbe der hässlichen Bluse war, die eine grässliche Tante ihm zu Weihnachten geschenkt hatte.

Kinder fühlen sich durch Farben, zu denen man sie zwingt, ähnlich verletzt wie durch Worte oder Gesten. Ein Mann erzählt, dass er seine ganze Kindheit hindurch »nur Braun« getragen habe, und das ganze braune Unbehagen steht in seinem Gesicht. Wenn Kinder wiederholt Kleidungsstücke anziehen müssen, die ihnen farblich zuwider sind, dann spüren sie dies als negative Schwingungen, ja als Kränkung vonseiten der Erwachsenen, die sich über ihre Wünsche hinwegsetzen. Und ich bin überzeugt, viele morgendliche Kämpfe von Müttern mit ihren Kindern um die Frage, was heute angezogen werden soll, drehen sich in Wirklichkeit um die Farben der Hosen, T-Shirts, Socken und Kleider – kurz: um die Farben und die damit verbundenen Gefühle der Kinder.

Kinder haben einen lebendigen Impuls, ihre ureigene Farbe, ihre Seelenfarbe zu entdecken und auszuleben, das heißt zu malen und in tausend Formen hervorzuzaubern oder eben am eigenen Leib als Kleider zur Schau zu tragen. Und dennoch wird dieser Impuls schon früh von kulturellen und der Mode unterworfenen Eingriffen der Erwachsenen gebremst und gelenkt. Es beginnt mit dem Rosa und Hellblau, mit dem das Neugeborene auf dieser Welt begrüßt wird. Eine große Anzahl von Eltern verfällt, darin kräftig unterstützt von Werbung und Verwandtschaft, in einen Rausch von Rosa oder Hellblau. Nicht nur Babykleidung, sondern schlichtweg alles, vom Löffel bis zum Bettzeug, von der Flasche bis zum Roller: alles in Rosa, alles in Hellblau. Vergessen sind die wissenschaftlichen Untersuchungen aus Jahrzehnten, die doch beweisen wollten, dass Mädchen zu Mädchen nicht geboren, sondern gemacht werden – unter anderem durch allzu viel Rosa.85

Aber das ist nur der Anfang: Unmerklich wächst das kleine Kind in das System der kulturellen Deutungsmuster hinein. Da gibt es schreiende und schrille Farben, bei denen die Erwachsenen das Gesicht verziehen. Da gibt es passende und unpassende und sogar schockierende Farben, und auch das schaut sich das Kind von seiner Umgebung ab. Sätze wie etwa »orange ist so kitschig« oder »rot so auffallend« verankern sich im kindlichen Bewusstsein wie Lehrsätze.

Wenn ich Kinder nach ihren Lieblingsfarben frage, dann stocken sie auffällig oft. Sie antworten zögerlich, und ich spüre, wie ihre spontanen Einfälle überlagert sind von den Sichtweisen der Erwachsenen. Oft haben sie Angst, sich wirklich zu ihrer Farbe zu bekennen, weil sie ahnen, damit anzuecken oder ausgelacht zu werden. Was könnte etwa passieren, wenn sie wirklich sagten: »Meine Lieblingsfarbe ist Gold«?

Aus meiner eigenen Kindheit erinnere ich mich sehr genau an eine seltsame Art von Transformation meiner Lieblingsfarbe. Von früh an liebte ich Rot. Bereits mit drei Jahren, kaum dass ich sprechen konnte, wünschte ich mir einen roten Rock. Nachdem ich aber über Jahre hinweg dieses Begehren bei meiner Mutter nicht befriedigen konnte, nachdem meine Rot-Sehnsucht immer wieder ins Leere lief, begrub ich sie einfach und verlagerte mich auf Hellblau. Noch heute spüre ich die Intensität dieses neuen Gefühls, ich verklärte das Hellblau zu meiner Himmelsfarbe. Meine Mutter, die mich von nun an mit blauen Anoraks versorgte, war anscheinend zufrieden. Aber ich weiß, die eigentliche, tief verborgene und nun verdrängte Sehnsucht galt stets dem Rot. Wie sagt Ingrid Riedel so schön in ihrem wunderbaren Buch Farben: »Rot ist zugleich die Lieblingsfarbe der Kinder.«86 Recht hat sie. Denn Rot ist die Farbe des Lebens. Und im Chinesischen sogar des Glücks.

Das Alphabet der Kindheit

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