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Familie

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»Wenn man Menschen in Amerika oder Europa fragt, was ihnen im Leben am wichtigsten ist, nennen sie immer noch ihr Zuhause und die Familie an erster Stelle, nicht einmal Religion oder Gemeinschaft können da mithalten.«

John R. Gillis

Der erste offen homosexuelle Imam in Frankreich heißt Ludovic Mohamed Zahed. Er ist mit seinem Partner Khiam standesamtlich und religiös verheiratet und erklärt in einem Interview, dass er und sein Ehemann nach Südafrika auswandern wollen, um dort eine Familie zu gründen.81 In Südafrika, davon ist das Paar überzeugt, gibt es seit Jahren sichere und freundlichere Rahmenbedingungen, unter denen ihre zukünftigen Kinder aufwachsen werden können. Es sollen ein Mädchen und ein Junge sein. »Nein, lieber drei Kinder«, fügt Khiam hinzu, gezeugt von den beiden Männern und ausgetragen von Leihmüttern. So der gemeinsame Plan. Die beiden wünschen sich sehnlichst eine richtige Familie.

Dabei wissen wir doch längst: Es gibt sie nicht mehr, die richtige Familie, die klassische, allgemein verbindliche Form des Zusammenlebens zwischen Mann, Frau und Kindern. Überall ist Bewegung, Umbruch, Neuerung. Freilich hat es auch in der Vergangenheit nicht immer die eine richtige Form der Familie als einzig ideale Weise des Zusammenlebens gegeben. Wenn man die Geschichte der Familie neu schreiben würde, wären die Abweichungen von dem je herrschenden Familienideal sicher der spannendste Teil.

Heute leben wir wie selbstverständlich mit vielfältigen alten und neuen Familienformen: Kern- und Großfamilien, Alleinerziehende, Patchwork-, Homo- und Adoptivfamilien und dazu einige durch die moderne Reproduktionsmedizin ermöglichte neue Konstellationen, die manchmal so verwirrend-kompliziert sind, dass es für sie noch keine wirklichen Namen gibt.82 Viele dieser Familienformen wurden vor nur wenigen Jahrzehnten als befremdlich wahrgenommen. Schaut man heute in die Namenslisten einer Großstadt-Grundschulklasse, findet man gut ein Drittel der Kinder ohne Vater (seltener ohne Mutter), manchmal gibt es zwei Mütter oder zwei Väter. Fast die Hälfte der Eltern ist nicht verheiratet, und die verheirateten Paare werden von Jahr zu Jahr weniger. Hand in Hand mit dieser sozialen Realität wächst die Akzeptanz der neuen Familienformen, wobei allerdings die extremen regionalen und kulturellen Unterschiede ins Auge fallen. Es ist also kein Zufall, wenn der Imam das Land wechseln will, um seine Familie zu gründen.

Jeder nostalgische Rückblick auf ein Familienleben, das früher anscheinend tragfähig und intakt war, mit klarer Rollen- und Aufgabenverteilung der Geschlechter, mit väterlicher Autorität und mütterlicher Rundum-Fürsorge, ist heute müßig. Kaum jemand wird das Rad der Geschichte zurückdrehen und zu traditionellen Familienstrukturen zurückkehren können. Zu sehr hat sich, vor allem durch moderne Methoden der Geburtenkontrolle und die fortgeschrittene Berufstätigkeit der Frauen, das Verhältnis der Geschlechter zueinander verschoben – weg von wirtschaftlicher und moralischer Abhängigkeit der Frauen, hin zu mehr Egalität im sozialen Raum.

Aber dennoch: Junge Menschen – und nicht nur sie – heiraten immer wieder, zelebrieren ihre Hochzeit mit einer Innigkeit und Intensität, als gäbe es keine Scheidungsstatistiken. Andere ziehen ohne Eheschein zusammen und bauen ein Nest für sich und ihre Kinder. Homosexuelle Paare kämpfen leidenschaftlich nicht nur um ihre Anerkennung, sondern auch um juristische Absicherung und Gleichstellung.

Was treibt diese Paare in die Bindung? Was treibt sie in die Familie?

Was auf den ersten Blick widersinnig erscheint, ist es bei näherem Hinblicken keineswegs. Der tiefe Wunsch nach Bindung in der Familie, der Wunsch nach Kindern, auch und gerade bei homosexuellen Paaren, ist gar nicht irrational. Die Seele, sagt der Philosoph Theodor W. Adorno, ist stets konservativer als der Verstand. Und sie hat gute, überzeugende Gründe hierfür. In den tieferen Schichten des Menschen verborgen liegt eine sprachlich und gedanklich kaum fassbare Sehnsucht nach Dauer, nach Ausschließlichkeit und umfassender Annahme der eigenen Person. All dies erhoffen sich Menschen, Männer und Frauen gleichermaßen, wenn sie eine Familie gründen.

Die Sehnsucht nach Dauer entspringt dem frühkindlichen Wunsch, nie von der Mutter, der Quelle von Nahrung, Wohlbehagen und Glück, getrennt zu sein. Die Bindung an den Partner oder die Partnerin soll genau wie die frühe Bindung zur Mutter niemals bedroht sein durch plötzlichen Abbruch. Nicht umsonst lautet die Formel der religiösen Eheschließung »bis dass der Tod euch scheidet«.

Die Sehnsucht nach Ausschließlichkeit, auch sie ist ein früh angelegtes Begehren in uns allen. Wir wollen für den anderen wichtig sein, am liebsten unersetzlich. Wo, wenn nicht in der Liebe, möchten wir nicht austauschbar sein, und zwar ewig. Auch hier setzen sich lebensgeschichtlich sehr frühe Impulse durch: Die Sehnsucht nach Ausschließlichkeit geht mit dem ursprünglich narzisstischen Wunsch des kleinen Kindes einher, einzig auf dem Schoß der Mutter zu thronen, einzig an der Brust zu saugen, mit niemandem teilen zu müssen, Mittelpunkt ihrer Welt zu sein!

Und schließlich entspringt auch die Sehnsucht nach umfassender Annahme der eigenen Person einem frühkindlichen Impuls. Wir konnten nur wachsen und gedeihen, wenn die eigene Mutter uns so annahm, wie wir waren, lockig oder kahlköpfig, dick, mager oder schielend. Wenn man sich die Mütter in den Entbindungsstationen oder später auf den Spielplätzen anschaut, entdeckt man, dass jede ihr eigenes Baby und Krabbelkind als das süßeste von allen empfindet. Und wenn es nicht so ist, wenn die Mutter mit anderen Babys liebäugelt und mit ihrem eigenen Kind unzufrieden ist, wenn sie kritisch an ihm herumnörgelt, ist dies keine gute Basis für das Gedeihen des Kindes. Das Grundgefühl, rundum in seiner Person angenommen zu sein, auch wenn man sich krank und elend fühlt, gibt das Rückgrat im Leben, den inneren Halt. Und dieses im Partner oder in der Partnerin wiederzuerlangen, dem gilt alle spätere, zumeist verborgene Sehnsucht.

Wer eine Familie gründet, möchte in seiner Gesamtheit, mit seinen Sonnen-, aber auch seinen Schattenseiten anerkannt werden, mit seinen Träumen, Erinnerungen, seinen Traurigkeiten und seinem Ärger, ganz so, wie die meisten Menschen sich in früher Kindheit von ihrer Mutter angenommen fühlten.83 Im Akt der Familiengründung ist all dies verheißen. Für die Erwachsenen und ebenso für die zukünftigen Kinder. Wie immer die Familie zusammengesetzt sein mag, gibt es für uns Gründe genug, ihr mit Achtung zu begegnen.

Das Alphabet der Kindheit

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