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Clique

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»Was die Anziehung einer Bande ausmacht? Sich in ihr aufzulösen mit dem Gefühl, die eigene Person zu befestigen. Die wunderbare Illusion einer Identität.«

Daniel Pennac

Irgendwann in der Mitte der Kindheit, zwischen dem neunten und zwölften Lebensjahr, lockern Kinder die Bindungen zu ihren Eltern. Sie hinterfragen deren Aussagen (»Seid ihr wirklich meine richtigen Eltern?«), sie bezweifeln ihre Wahrhaftigkeit (»Vorgestern hast du etwas ganz anderes gesagt.«) und die Verbindlichkeit ihrer Weisungen (»Warum muss ich etwas tun, was die anderen nicht müssen?«). Sie entdecken Widersprüche zwischen Worten und Handlungen der Erwachsenen. Sie reiben sich an den Erklärungen der Eltern über Gott und die Welt und erahnen deren Grenzen – und womöglich damit auch ihre eigenen.

Mitunter kann der Schrecken darüber groß sein und die Kinder in Resignation stürzen. Welches Glück aber, wenn sie in dieser Situation ihresgleichen entdecken, Jungen und Mädchen, möglichst gleichen Alters und gleichen Geschlechts (wobei beides nicht zwingend sein muss), auf jeden Fall Kinder, die sich in ähnliche Widersprüche verwickelt fühlen und ebenfalls Halt in einer Gruppe suchen.

Das nämlich ist genau der Sinn der Clique: das Kind aufzufangen in dieser Phase der Verunsicherung und des Übergangs. Bevor es seine ganz eigene, persönliche Identität gefestigt hat und bevor es seinen eigenen Lebensweg (meist gekoppelt an die Berufswahl) einschlägt, darf das Kind beziehungsweise nunmehr der Jugendliche eine Zeitlang in dieser »wunderbaren Illusion einer Identität«56 in der Clique schwimmen.

Und die meisten tun dies auch. Sie schaffen sich einen Raum, in dem die Vorgaben von Familie und Schule nicht gelten, nach eigenen Vorstellungen, mit eigenen Gesetzen, manchmal einer eigenen Sprache (Geheimsprache), mit Ritualen, die nur sie kennen – und schließlich einer eigenen Moral. Eine Moral, die mitunter eigenwillig, auch hart sein kann, beispielsweise wenn es darum geht, unerwünschte Mitglieder aus der Clique auszuschließen oder andere, die dazugehören wollen, gar nicht erst zuzulassen. Außenstehende bekommen dieses »Du gehörst nicht dazu!« gnadenlos zu spüren. Wir sollten diese Art der Gruppenbildung als sinnvolles, vielleicht sogar notwendiges Durchgangsstadium zur Reifung, auch der Initiation, begreifen.57 In der Clique wagt man sich gemeinsam vor. Falls etwas schiefgeht, springt die Gruppe ein. Sie definiert, wie weit man gehen darf. Und manche gehen dabei bis hin zur Selbstgefährdung oder gar Selbstdestruktion. Aber auch dies – und gerade dies – gehört zur Pubertät, und wer allein nicht die nötige Kraft hat, seine Grenzen auszuloten, der holt sie sich bei den Altersgenossen.

Genau wie der Beginn der Cliquenbildung in der Mitte der Kindheit einer Notwendigkeit entspringt, so fügt sich auch ihr Ende meist biografisch logisch ein. Irgendwann wird sie überflüssig. Am ehesten erledigt sie sich, wenn sich Jungen und Mädchen verlieben. Da ändert sich plötzlich alles. Alle Wahrnehmung der Welt und seiner selbst. Jetzt geht es nicht mehr darum, in einer Gruppe unterzutauchen, jetzt ist genau das Gegenteil gefordert: sich persönlich einbringen, sich ganz zu erkennen geben, eine individuelle Sprache finden, die auf das Du gerichtet ist. Kein Verstecken mehr hinter der Gruppe. Das ist Wachstum. Das ist Reifung.58 Und die Clique war – rückblickend – ein wunderbares, nicht zu missendes Zwischenspiel.

Das Alphabet der Kindheit

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