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Erstes Mal

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»Der erste Mensch durchläuft nochmals den ganzen Werdegang, um sein Geheimnis zu entdecken. Er ist nicht der erste Mensch. Jeder Mensch ist der Erste, keiner ist es. Deswegen fällt er seiner Mutter zu Füßen.«

Albert Camus

Der erste Atemzug

der erste Tag

das erste Mal in Papas Arm

das erste Lächeln

die ersten Schuhe

das erste Nein

das erste Mal Ich

das erste Mal enttäuscht werden

das erste Mal verlorengehen

das erste Vogelnest

der erste Buchstabe

das erste Mal Erde riechen

das erste Tier

und so weiter und so weiter

Später dann:

Der erste Kuss

die erste Zigarette

der erste Samenerguss

der erste Betrug

und so weiter und so weiter

Jedes erste Mal eine Station der Menschwerdung. Banal und zugleich atemberaubend. Jede Erfahrung des Kindes geschieht ein erstes Mal – das ist banal, weil sie jeder macht, atemberaubend deshalb, weil mit jedem Kind die Welt neu beginnt: die Welt des Atmens, des Trinkens, des Lächelns und des Sprechens. Jedes Kind ist für sich »der erste Mensch«74, wie Albert Camus es in seiner Autobiografie wunderbar schlicht ausdrückt. Vorher – das heißt vor meiner Geburt – war ein dunkles Nichts, ein Tohuwabohu wie am Anfang der Welt, und mit mir und mit meinen Augen, die das Licht empfangen, entstand das Licht. Was weiß denn das kleine Kind von all den anderen Menschen vor und neben ihm, die vor ihm den ersten Atemzug gemacht haben, die ersten Schritte und das erste Wort? Das erste Mal ist immer mein erstes Mal, als wenn es nie vorher von anderen durchlebt worden wäre.

Der französische Dichter Pierre Loti beschreibt in seinem Roman eines Kindes, wie er das erste Mal ein ureigenes, durch und durch körperliches Gefühl von Hüpfen, von Federn und Laufen entdeckte – wie einen explosiven Einbruch in seine damalige Art, sich zu bewegen: »Von diesem Augenblick an konnte ich hüpfen, konnte ich laufen! Ich bin überzeugt, dass es das erste Mal war, so deutlich ist mir meine überbordende Lust und meine verwunderte Freude noch gegenwärtig.«75 Diese Erinnerung hat sich dem Dichter nur deshalb so tief verankert, weil sie – wie es häufig geschieht – mit einem anderen ersten Mal verschmolzen war. Im selben Moment nämlich, in dem der Junge bewusst erstmals die Kraft und Beweglichkeit seiner Beine spürt, so glaubt er später rückblickend, sei ihm auch der Geist erwacht: »Aber während des Hüpfens dachte ich nach, und dies so intensiv, wie es gewiss sonst nicht meine Gewohnheit war. Zur gleichen Zeit, da meine Beinchen, mein Verstand erwacht waren, wurde es in meinem Kopf, wo die Gedanken erst ganz blass heraufdämmerten, ein wenig klarer.«76

Vielleicht ist es gerade die Verdoppelung, die das Ereignis so unauslöschlich als das erste Mal markiert. Sigmund Freud hat dieses Phänomen als Deckerinnerung bezeichnet, ein besonderer Kunstgriff der menschlichen Erinnerungskultur. Viele Momente des ersten Mals können wir später als Erwachsene nur schwer abrufen. Doch wenn wir Glück haben, schiebt sich jenes Doppelte darüber, das wir fast übergenau erinnern (eine Mütze, ein kratzender Strumpf oder ein Geruch), und dieses Doppelte überlagert oft das Ursprungsgeschehen, welches doch das eigentlich Bemerkenswerte und Erinnerungswürdige sein sollte.

– Ein Kind erinnert die erste Begegnung mit dem Tod. Später weiß es nichts vom Sterben der Großmutter, aber spürt noch genau den Geschmack des Mohnkuchens, den es bei ihrer Beerdigung zu essen gab.

– Ein Junge hat vergessen, wie er das erste Mal in einem Kaufhaus verlorenging. Sogar die Polizei musste auf der Suche nach ihm eingeschaltet werden. Er prägte sich von diesem Drama ausschließlich den grünen Kaugummi ein, den ihm einer der Polizisten zur Beschwichtigung seiner Angst zugesteckt hatte.

– Und ein anderes Kind erinnert sich an gar nichts vom ersten Schultag – außer an den Geruch des Schulranzens.

Wie wir an diesen Beispielen sehen, ist die Erinnerungskompetenz des Körpers anscheinend viel größer und ausgeprägter als das kognitive Gedächtnis. Auf jeden Fall verschieben sich auf diese mysteriöse und doch gleichzeitig logische Weise unsere Kindheitserinnerungen und vor allem verschiebt sich der Rückblick auf das erste Mal. Es gibt nichts Kostbareres für uns Erwachsene, jenen Angelpunkten unserer Menschwerdung nachzuspüren und bei Kindern, mit denen wir leben, jedes wahrnehmbare erste Mal mit staunender und respektvoller Gebärde zu begleiten.

Übrigens: Ein ähnlicher Zauber wie der des ersten Mals liegt auch im bewusst erlebten letzten Mal. Hier spüren wir Wandlung pur. Der letzte Schultag. Der letzte Arbeitstag. Die letzten Worte des Großvaters. Der Abschiedskuss. Hier schließt sich der Kreis – unwiderruflich, einmalig –, wie das erste Mal.

Das Alphabet der Kindheit

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