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Ende der Kindheit

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»Als ich aufwuchs und mit zehn Jahren allein U-Bahn fahren konnte – da nahte das Ende eines wirklichen goldenen Zeitalters.«

Woody Allen

Juristisch und rein zeitlich ist das Ende der Kindheit in unserer Kultur klar bestimmt.72 Aber wir ahnen sogleich, dass das Juristische nur die eine Seite der Geschichte ist. Die andere, viel spannendere, vieldeutige und oft konfliktbeladene Seite offenbart sich im subjektiven Bereich. Sich als Kind fühlen, beziehungsweise sich nicht mehr als solches zu empfinden, lässt sich nicht an äußere Termine knüpfen, da ist stattdessen viel Biografisch-Schicksalhaftes am Werk.

Früher, und in manchen Gesellschaften auch heute noch, wurde und wird der Übergang vom Kindsein zum sozial und religiös verantwortlichen Adoleszenten und Fast-Erwachsenen in feierlichen Zeremonien kollektiv begangen. Damit wurden äußerlich sichtbare Zeichen gesetzt, die von allen verstanden und akzeptiert wurden. Wo diese nun fehlen, wo das Ende der Kindheit nur ein abstrakter juristisch gesetzter Zeitpunkt ist, sind die Heranwachsenden weitgehend ihren inneren Wahrnehmungen ausgeliefert. Sie selbst definieren, wann und wie sich der Übergang vollzieht. Spricht man mit jungen Menschen, die diese Phase gerade hinter sich haben, dann fallen die individuell höchst unterschiedlichen Empfindungen über das Ende der Kindheit auf. Manche haben im Zorn persönlich bedeutsame Dinge verbrannt und kamen damit erstaunlich nahe an das rituelle Spielzeugverbrennen mancher Pubertätsriten. Andere verweigerten das Essen, unbewusst auch wohl das Weiterwachsen; auch dies erinnert an das erzwungene Fasten der Riten. Manche waren von Stolz erfüllt und taten alles, um die Jüngeren hinter sich zu lassen. Und nicht wenige verfielen in eine tiefe, ihnen selbst unerklärliche Traurigkeit.

Ich weiß bis heute glasklar Zeit und Ort. Es war Anfang November 1956, auf einem Bahnsteig in Northeim, wo ich auf den Zug wartete, der mich zur Beerdigung meiner Großmutter führte (die übrige Familie war schon vorausgefahren). Beim Warten auf den verspäteten Zug in der trüben Dunkelheit des frühen Abends sprachen Menschen plötzlich aufgeregt vom Einmarsch der Sowjetarmee in Ungarn. Ich hörte Worte wie Invasion und Revolution und verstand sie nicht: in meinen Ohren klang es wie Krieg. Mutters Mama war tot – und es war Krieg – diese unheilvolle Vermengung machte mir klar: die Welt hat ihre Unschuld verloren. Meine Kindheit war zu Ende.

Jedes Kind hat seine Zeit und seinen Ort vom Ende der Kindheit, und es lohnt sich, diesem bewusst nachzuspüren.

Das Alphabet der Kindheit

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