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Ekel

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»Es war einmal ein steinalter Mann, dem waren die Augen trüb geworden, die Ohren taub, und die Knie zitterten ihm. Wenn er nun bei Tische saß und den Löffel kaum halten konnte, schüttete er Suppe auf das Tischtuch, und es floss ihm auch etwas wieder aus dem Mund. Sein Sohn und dessen Frau ekelten sich davor, und deswegen musste sich der alte Großvater endlich hinter den Ofen in die Ecke setzen, und sie gaben ihm sein Essen in ein irdenes Schüsselchen und noch dazu nicht einmal satt; da sah er betrübt nach dem Tisch, und die Augen wurden ihm nass.«

Brüder Grimm

Nie werde ich vergessen, wie Heino Matzner Regenwürmer aß. Damals war ich sieben und überzeugt, dass Heino der einzige Junge auf der Welt sei, der Würmer verschlang, so aufregend und geheimnisvoll und durch und durch eklig waren diese morgendlichen Szenen auf dem Schulweg. Inzwischen weiß ich, dass viele Kinder Würmer und dergleichen verspeisen. Entweder um auszuprobieren, wo die Grenzen des wortwörtlich guten Geschmacks liegen, oder um sich im Umgang mit Ekel zu erproben: »Keiner liebt mich. Jeder hasst mich. Ich gehe in den Garten und esse Würmer«, sangen kanadische Schulkinder in den Schulpausen65 – wer weiß, vielleicht singen sie es heute noch.

Die Unterscheidung, was gut und was schlecht, was hygienisch und was gefährlich ist, lernt das Kind schon sehr früh. Ganz besonders natürlich in der frühen Sauberkeitserziehung, wenn es daran gewöhnt wird, das Töpfchen zu benutzen. Die Exkremente müssen den richtigen Weg gehen, also schleunigst nach Erscheinen weggespült werden, was das Kind anfangs nur schwer begreift. Die Exkremente, die den falschen Weg gehen (in die Hose, auf den Teppich, auf das Sofa oder das Bettlaken), sind eklig, werden wie Feinde verfolgt. Das Kind wird ihretwegen bestraft, wenn nicht mit Worten, so doch mit verärgerten Blicken. Ekel hat ein unverwechselbar typisches Gesicht – das lernen die Kinder bereits sehr früh. Und sehr bald ahmen sie die Erwachsenen nach: Sie verzerren die Züge. Sie ekeln sich über sich selbst, an sich selbst, und bald darauf kommt auch die große Schwester des Ekels hinzu, die Scham.

Eigentlich müsste der Vorgang des Sauberwerdens, und damit des Umgangs mit Ekel, doch einfach sein. Aber wir alle kennen, häufig sogar aus der eigenen Kindheitsgeschichte, dramatische Szenen, die beweisen, dass es eben gar nicht so einfach ist. So leicht nämlich, wie es die Mütter und Väter wünschen, lassen sich ihre Kinder nicht in ihre Vorstellungen von Sauberkeit und Ordnung einpassen. Viele lassen sich einfach nur Zeit. Manche revoltieren aktiv und benutzen die eigenen Exkremente als Waffe gegen ihre Erzieher oder gegen das System der Sauberkeitserziehung an sich. Man könnte meinen, sie kennen keinen Ekel.

Am Ende müssen alle Kinder, ob sie wollen oder nicht, in die für ihre Kultur geltenden Normen eingewiesen werden. In früheren Gesellschaften, als Nahrungsmittel noch nicht vorbereitet oder gar mit Verfallsdatum versehen waren, waren die Menschen in hohem Maße abhängig von der eigenen Körper- und damit auch Ekelreaktion. Sie mussten eine gute Nase dafür haben, welche Speisen für sie essbar und welche ungenießbar und deshalb bedrohlich waren. Das Gefühl von Ekel war in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit eine überaus gesunde und notwendige Reaktion.

Und auch heute ist es eine gesunde Reaktion, wenn das Kind sich davor ekelt, mit seinen Sandalen in einen Hundehaufen zu treten. Aber das ist nur die eine Seite des Ekels. Die andere, weniger gesunde Seite ist die, dass Ekel überaus generalisierbar und manipulierbar ist und deshalb für die verschiedensten Zwecke missbraucht werden kann. Stellt man etwa kleine Tiere wie Würmer, Frösche und Mäuse unter das Verdikt des Ekels, leitet sich daraus meist das Recht ab, diese kleinen Tiere zu töten. Und was für kleine Tiere gilt, lässt sich leicht auf große Tiere übertragen und – wie wir in der Vergangenheit nur allzu oft erlebt haben – sogar auf Menschen. Der Hass gegen einzelne Menschen ebenso wie der kollektiv empfundene Rassenhass ist immer auch gespeist aus körperlichen Ekelgefühlen. Im Grimmschen Märchen vom Großvater und seinem Enkel wird der Ekel vor dem sabbernden Großvater dem Kind von den eigenen Eltern regelrecht vorgelebt.

Wenn Ekel sich einmal eingenistet hat in der menschlichen Seele, dann sitzt er in der Regel tief. Das erfahren wir immer wieder bei Menschen mit den unterschiedlichsten, bis hin zu krankhaften Phobien reichenden Ekelreaktionen. Tief in ihren Fantasien gefangen, sind sie meist gar nicht erreichbar für rationale Argumente, dass beispielsweise kleine Nager und Kriechtiere eher harmlos sind und ihnen gar nicht ans Leben wollen.

Dennoch gibt es auch Heilung von der Ekelkrankheit.66 Das Märchen vom Froschkönig ist ein eindrucksvolles Zeugnis hierfür. Anfangs ist die junge Königstochter so sehr in ihrer Wut gegen den Frosch verstrickt, dass sie sich nicht allein daraus befreien kann. Man glaubt, dass sie lieber sterben möchte, als ihren Ekel loszulassen. Hier ist der oder die andere gefordert: Vater, Mutter, die Großmutter oder ein Freund müssen eingreifen. Manche Reifungsschritte kann das Kind offensichtlich nicht allein machen. Und ließe man es allein, es würde womöglich zugrunde gehen.

Das Alphabet der Kindheit

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